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EU-Parlament ist "noch am kritischsten mit diesen Regimes umgegangen"

Martin Schulz (SPD) verwahrt sich gegen den Vorwurf, das EU-Parlament sei zu lax mit den Despoten in Ägypten und Tunesien umgegangen. Man habe die Unterdrückung der Meinungsfreiheit und die Folter stets kritisiert.

Martin Schulz im Gespräch mit Christoph Heinemann | 02.02.2011
    Christoph Heinemann: Zur Lage in Ägypten äußerte sich am Morgen Bundesaußenminister Guido Westerwelle.

    O-Ton Guido Westerwelle: Es ist gut, dass Präsident Mubarak den Weg freimachen will für einen politischen Neuanfang. Wir werden jetzt sehen müssen, welche Rolle er selbst dabei spielen wird und spielen kann. Entscheidend ist auch, dass den Ankündigungen für einen wirklichen Dialog jetzt auch ganz konkrete Taten folgen und das Gespräch mit allen politischen Kräften auch tatsächlich stattfindet.

    Heinemann: Guido Westerwelle, der Bundesaußenminister. – Auf der Tagesordnung des Europäischen Parlaments steht heute unter anderem eine Erklärung der Außenbeauftragten Ashton zur Lage in Tunesien und zum Referendum in Süd-Sudan. Voraussichtlich sagt sie dann auch noch was zu Ägypten. Böse Zungen behaupten, Erklärungen dieser Art gehörten in jede Hausapotheke für Fälle hartnäckiger Schlafstörungen. Bei langfristiger Anwendung sind sie aber nicht ganz ohne Risiken und Nebenwirkungen. Europäer und überhaupt die globalen Wessis müssen sich vorhalten lassen, mit zweierlei Maß zu messen: Kritik und Sanktionen gegen das Regime Lukaschenko in Weißrussland, Finanzhilfe für das Regime Mubarak in Ägypten. So geht das seit Jahren. – Am Telefon ist jetzt Martin Schulz, der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament. Guten Morgen!

    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Schulz, ich bitte Sie, den folgenden Satz zu vervollständigen. Der ägyptische Präsident Hosni Mubarak ist ein lupenreiner ...

    Schulz: ... Autokrat, der sicher möglichst schnell die Konsequenz daraus ziehen sollte, dass er von seinem Volk nicht nur nicht mehr gewollt, sondern aus dem Amt gejagt werden soll, und deshalb sollte er zurücktreten.

    Heinemann: Das Wort "lupenrein" ist ja politisch besetzt. Der letzte SPD-Kanzler Gerhard Schröder beschrieb den Russen Wladimir Putin einmal als lupenreinen Demokraten. Wie erklären Sie sich solche Fehlurteile?

    Schulz: Ich glaube, um das zunächst mal klarzustellen, dass der Satz von Gerhard Schröder über Putin aus dem Zusammenhang gerissen worden ist. Aber Putin ist sicher kein lupenreiner Demokrat. Es ist ganz sicher auch nicht Hosni Mubarak. Und ich finde, in Ihrer Anmoderation haben Sie auch recht, also ich glaube, dass der Westen nicht sehr schlüssig gehandelt hat, oder Westen heißt, in dem Fall die Europäische Union, vielleicht auch die Vereinigten Staaten von Amerika, doch mit unterschiedlichem Maß misst, und wir sollten die Konsequenz aus diesem, wie ich glaube, nicht richtigen Verhalten in der Vergangenheit ziehen und jetzt doch mal eine Volksbewegung, wie sie im nördlichen Afrika gerade dabei ist, die Freiheit zu erkämpfen, positiv begleiten und positiv unterstützen. Es wäre vielleicht auch für uns eine Chance, einen neuen Anfang, auch einen neuen Dialog übrigens mit Befreiungsbewegungen in einer bestimmten wichtigen Partnerregion für Europa konstruktiv zu unterstützen.

    Heinemann: Gibt es zu viele nützliche Despoten?

    Schulz: Ich glaube, dass diese Formulierung es genau trifft - nützliche Despoten ist ein bisschen nach dem Motto, er ist ein Schweinehund, aber es ist unser Schweinehund; das war eine Äußerung, die an Zynismus kaum zu überbieten war, von Rumsfeld, Sie erinnern sich -, auf Leute zu setzen, die ihr Volk unterdrücken, aber insgesamt nicht so schlimm sind wie andere, die noch schlimmer sind, also zum Beispiel Muslimbrüder. Diese Philosophie hat ja doch die Außenpolitik vieler Staaten, der Vereinigten Staaten, auch der Europäischen Union, über lange Zeit beherrscht. Ich glaube, das ist falsch und man muss den Mut haben zu sagen, die Menschen, die sich jetzt da von einer Diktatur befreien – auch das ist eine Kritik an uns Sozialdemokraten; wir haben auch mit Mubarak zusammengearbeitet -, die Menschen, die sich da jetzt von dem befreien wollen, zum Beispiel Leute wie El Baradei, die brauchen unsere Unterstützung, die brauchen vor allen Dingen auch ein positives Signal, dass sie als Demokraten und nicht als Risiko betrachtet werden.

    Heinemann: Herr Schulz, die französische Regierung hat dem tunesischen Machthaber Ben Ali Einsatzkräfte und Ausrüstung bis zuletzt angeboten, um die Freiheitsbewegung niederzuknüppeln. Silvio Berlusconi liebäugelt mit Gaddafi, Schröder-Putin hatten wir schon, also lauter Versager. Ist Europa außenpolitisch überhaupt ernst zu nehmen?

    Schulz: Ich glaube, man kann auch nicht alles in Bausch und Bogen verdammen, was bis dato gemacht worden ist. Seien wir mal realistisch. Im Maghreb, im nördlichen Afrika, im Nahen Osten sind wir sicher auch konfrontiert mit radikalen integristischen Bewegungen, die auch gewaltbereit sind. Ich glaube, die Hisbollah und die Hamas oder die Muslimbrüder, das sind ja keine Friedensorganisationen, sondern schon antiwestliche, auch religiös, teilweise fundamentalistisch gewaltbereite Organisationen. Die haben über eine lange Zeit auch das Bild der Gegnerschaft zu den dortigen, zugegebenermaßen diktatorischen, aber doch säkular orientierten Regierungen geprägt. Und ich glaube, aus dieser Angst heraus und sicher immer auch mit dem Hintergrund des El-Kaida-Netzwerks hat man die Außenpolitik so orientiert, wie Sie sie beschrieben haben. Dass das jetzt in eine falsche Richtung geführt hat und dass die Befreiungsbewegungen zum Beispiel in Tunis oder in Kairo eben nicht getragen werden vom Fundamentalismus, sondern von aufgeklärten säkularen, westlich orientierten Menschen, ich glaube, das kann man sehen auf den Bildern, die wir da transportiert bekommen, das sieht man, dass das keine islamistisch geführte Bewegung ist, und das ist eine einmalige Chance für uns. Deshalb lassen Sie uns nach vorne schauen. Sicher haben wir viel falsch gemacht in der Außenpolitik, aber jetzt haben wir eine große Chance, manches zu korrigieren.

    Heinemann: Herr Schulz, wann hätte – wir blicken doch noch mal kurz zurück – das Europäische Parlament die Zensur in Ägypten jemals so gerügt wie das ungarische Mediengesetz?

    Schulz: Jetzt muss ich uns im Europaparlament ein bisschen verteidigen. Wenn es eine Institution gibt, die Menschenrechtsverletzungen, die die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die die Folter in Staaten wie Tunesien oder Ägypten, Libyen, übrigens häufig auch hart kritisieren in Marokko, kritisiert hat, dann ist es das Europäische Parlament. Wir haben ein bisschen das Problem, dass unsere Resolutionen manchmal nicht gehört werden, aber da muss ich jetzt eine Lanze für uns selbst brechen. Wir sind die Institution hier in Brüssel, die noch am kritischsten mit diesen Regimes umgegangen ist, vielleicht auch nicht so konsequent und hart, wie wir es hätten tun müssen, aber ich kann Ihnen sagen, ich bin oft gescholten worden dafür, dass ich als Vorsitzender meiner Fraktion dazu beigetragen habe, dass wir Menschenrechtsverletzungen in Ägypten ... - Wir waren diejenigen, die in der vergangenen Sitzungsperiode in Straßburg über die Religionsfreiheit für Christen in diesen Gebieten eine ziemlich harte Resolution verfasst haben. Da sind wir oft für kritisiert worden. Also insofern: Wir haben schon gerade im Europäischen Parlament uns mit dieser Frage beschäftigt, sicher nicht in der Härte wie notwendig, aber das haben wir schon gemacht.

    Heinemann: Herr Schulz, gegenüber welchem Machthaber oder welchem Regime wünschten Sie sich von den europäischen Staats- und Regierungschefs ab sofort eine deutlichere Sprache?

    Schulz: Sie hören an meinem Durchatmen, dass es mir schwerfällt, spontan darauf zu antworten. Eigentlich gegenüber allen, die die fundamentalen Grundwerte, für die wir einstehen, nicht respektieren und sie verletzen. Nur das sind ziemlich viele Staaten. Das ist zum Beispiel auch China und das ist auch Russland, das sind viele Staaten in Asien, in Afrika. Nur das Problem ist: Wenn wir mit allen in der gleichen Härte reden, mit allen zu Maßnahmen kommen, mit Wirtschaftssanktionen operieren, ist das nicht ganz einfach. Realpolitik ist eben manchmal auch die Politik, dass man mit Leuten reden muss, mit denen man eigentlich nichts zu tun haben will, aber wo Einsicht in die realen Machtverhältnisse keine Alternative zulässt. Man setzt sich dann ganz schnell des Vorwurfs aus, Doppelstandards einzuführen, aber wenn wir mit der gleichen Härte, wie wir gegen Lukaschenko vorgehen, gegen China vorgehen würden, würden sie ökonomische Chancen auch der Bundesrepublik Deutschland oder aller europäischen Staaten in enormem Maße gefährden. Insofern ist das immer eine Gratwanderung. Grundsätzlich muss die Europäische Union aber bereit sein, alle ihre Mitgliedsstaaten, die Grundrechte zum Gegenstand jeder Debatte mit jedem Staat, der sie nicht respektiert, zu machen.

    Heinemann: Martin Schulz, der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schulz: Ich danke Ihnen.