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EU-Sozialbericht ist eine "Ohrfeige" für Schönredner der Eurokrise

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst, heißt es im EU-Sozialbericht. Das wundert den Europaabgeordneten Sven Giegold (Bündnis90/Grüne) nicht: Er fordert eine grundsätzliche Änderung der Krisenpolitik - und schlägt drei konkrete Mechanismen zur Überwindung der Spaltung vor.

Das Gespräch führte Christiane Kaess | 10.01.2013
    Christiane Kaess: Die Kluft zwischen Arm und Reich, sie wächst nicht nur in Deutschland; sie ist ganz klar zu sehen im Gesamtblick auf Europa. Nach der Finanz- und Schuldenkrise driften die Länder der Europäischen Union immer mehr auseinander. In dieser Woche belegte das der aktuelle Sozialbericht, den der zuständige EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration, Laszló Andor, vorstellte. Die Arbeitslosigkeit in der EU liegt auf einem Rekordhoch und damit wächst auch die Verarmung. Ein ganz deutlicher Unterschied liegt dabei grob gesagt zwischen den Ländern des Nordens und denen des Südens. So haben Länder wie Deutschland oder Österreich Arbeitslosenraten um die fünf Prozent, Spanien und Griechenland dagegen 26 Prozent. Ganz besonders schlimm betroffen ist die junge Generation. – Am Telefon ist Sven Giegold, Abgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament und deren finanz- und wirtschaftspolitischer Sprecher. Guten Morgen!

    Sven Giegold: Ja guten Morgen, Frau Kaess!

    Kaess: Herr Giegold, hat Sie das Ausmaß an Negativem in dem Zustandsbericht über Europa überrascht? – Herr Giegold, können Sie mich noch hören? – Da haben wir offensichtlich die Leitung verloren und probieren es gleich noch mal.
    Und wir konnten die Leitung zu Sven Giegold wiederherstellen. Wir sprechen über den aktuellen Sozialbericht der EU-Kommission, der ein Auseinanderdriften der Länder der Europäischen Union belegt, und am Telefon ist jetzt wieder Sven Giegold, Abgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament. Noch einmal guten Morgen, Herr Giegold.

    Sven Giegold: Ja noch mal guten Morgen, Frau Kaess! Die Leitung zwischen Brüssel und Deutschland ist wohl durch den Sozialbericht gestört.

    Kaess: Wir arbeiten daran, dass sie stabil bleibt. Herr Giegold, hat Sie das Ausmaß an Negativem in dem Sozialbericht überrascht?

    Giegold: Ehrlich gesagt nicht, weil die Fakten sind seit Monaten bekannt, Eurostat meldet das. Es ist nur neu, dass dies in so einem großen Bericht zusammengefasst wurde, und gleichzeitig ist neu, wie kritisch dieser Bericht auch mit der jetzigen Krisenpolitik umgeht, und insofern ist der Bericht eine Ohrfeige für alle, die die Lage schön reden in der Euro-Krise.

    Kaess: Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis?

    Giegold: Die wichtigste Erkenntnis ist, wie groß der Unterschied innerhalb der EU ist und dass die Euro-Krise eben nicht vorbei ist, sondern wir in einem Teil der Länder jetzt hohe Arbeitslosigkeit haben und leider der Bericht auch feststellt, dass es unwahrscheinlich ist, dass sich daran 2013 etwas ändern wird.

    Kaess: Nun heißt es laut EU-Kommission, Reformen bei den sozialen Sicherungssystemen können die Widerstandsfähigkeit gegen wirtschaftliche Schocks – so wird das genannt – erheblich verbessern. Es sind also weitere Strukturreformen nötig?

    Giegold: Ja. Der Bericht sagt sehr klar, die Strukturreformen müssen grundsätzlich weitergehen. Das ist auch, glaube ich, erst mal grundsätzlich sehr weit akzeptiert. Er sagt aber gleichzeitig auch, dass das nicht reicht, sondern dass die bisherige Politik, die ja genau auf Strukturreformen und Ausgabensenkungen gesetzt hat, ausgeglichen werden muss mit einer Politik, in der zum einen es stärkere Ausgleichsmechanismen gibt und eine Besteuerung verstärkt wird von hohen Vermögen und auch von Umweltbelastungen und weniger Steuern auf Arbeit erhoben werden sollen, um die Beschäftigung zu stärken und durch Einnahmeverbesserungen des Staates eben nicht gleichzeitig die Nachfrage zu belasten, wie das bisher mit den Erhöhungen der Massensteuern passiert ist. Und genau das ist auch das Kritische an diesem Bericht, weil er im Grunde sagt, die Krisenpolitik muss die Richtung ändern.

    Kaess: Aber um es noch mal festzuhalten: Grundsätzlich sind wir auf dem richtigen Weg mit Sparmaßnahmen und Reformen, aber wir brauchen nur noch etwas mehr Geduld, bis sich die Ergebnisse zeigen?

    Giegold: Nein, eben nicht, sondern der Bericht sagt in deutlichen Worten, die Strukturreformen sind zwar grundsätzlich richtig und müssen auch in Teilbereichen sicher weiter verstärkt werden. Gerade im den Bildungsbereich gibt es in vielen Ländern Probleme. Aber er sagt gleichzeitig, die Politik muss ergänzt werden, und ist damit eine Kritik an der Untätigkeit des Rates, denn beim letzten Gipfel hat ja der Rat im Grunde erklärt, die EZB hat die Lage jetzt erst mal oberflächlich beruhigt und wir stellen die Reformen bis Mitte diesen Jahres ein, und man ruht sich darauf aus, und gerade die Bundesregierung hat ja auch Vorschläge, die in diesem Bericht des Beschäftigungskommissars jetzt wieder aufgegriffen werden, wie stärkere Ausgleichsstrukturen durch einen Ausgleichsfonds und Ähnliches, abgelehnt, und das wird indirekt damit kritisiert.

    Kaess: Herr Giegold, Sie haben die nötigen Investitionen angesprochen. Aber das Problem ist ja, dass den Krisenstaaten das Geld dazu fehlt?

    Giegold: Genau, und das Geld wird auch so schnell nicht in dem Maße fließen und es gibt eben bisher überhaupt keine relevanten Anstrengungen, die Investitionen zu erhöhen.

    Kaess: Woher sollte das Geld denn kommen?

    Giegold: Das Geld müsste zum Beispiel kommen durch gezielte Programme, wie sie die Europäische Investitionsbank auflegt. Aber meiner Meinung nach ist es auch notwendig, den EU-Haushalt in dieser Hinsicht zu stärken, und was die Mitgliedsländer derzeit machen ist genau das Gegenteil. Sie kürzen den EU-Haushalt, und zwar gerade in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Erneuerbare, Energieeffizienz. Wir haben bisher mit europäischen Geldern mit großem Einsatz die Banken gerettet, aber waren eben nicht bereit, für Arbeit zu sorgen, und jetzt sehen wir die Ergebnisse: 25 Prozent Arbeitslosigkeit, 50 Prozent Arbeitslosigkeit in Griechenland, Spanien und so weiter. Das sollte man deutlich sagen.

    Kaess: Aber auf der anderen Seite ist ja im vergangenen Juni sehr wohl ein Wachstumspakt beschlossen worden und Geld dafür zur Verfügung gestellt worden.

    Giegold: Genau! Dieser Wachstumspakt ist beschlossen worden, aber es ist leider kein Geld zur Verfügung gestellt worden, sondern es wurden zwar zehn Milliarden Euro, was im Vergleich zur gesamten Euro-Zone wenig ist, in die Europäische Investitionsbank gelegt, aber die anderen versprochenen Gelder sind nicht geflossen. Es ist vielmehr so, dass der Rat selbst die bisherigen, ich betone: die bisherigen, Strukturfonds der EU nicht ausreichend mit Geld ausstattet, um sie wirklich auszahlen zu können. Davon können selbst in Deutschland viele Träger im Sozialfonds ein Lied singen. nein, wir haben es in diesem Bereich leider mit großer Untätigkeit zu tun, und das stellt dieser Bericht in deutlichen Worten fest.

    Kaess: Herr Giegold, der Bericht belegt aber auch, dass manche Länder ihr Geld sehr viel effektiver einsetzen als andere. Es gibt da das Beispiel des Sozialkommissars Ungarn und Portugal. Die haben 2009 etwa gleich viel, nämlich etwa 13 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes, für sozialen Schutz ausgegeben. In Portugal wurde das Armutsrisiko dadurch um 36 Prozent verringert, in Ungarn sogar um 57 Prozent. Liegt es also letztendlich nicht doch an den Ländern selbst?

    Giegold: Deshalb habe ich ja von vornherein gesagt, ich gehöre nicht zu denen, die sagen, jegliche Strukturreformen sind neoliberal und fragwürdig. Im Gegenteil! Es gibt sehr viele Strukturprobleme in Ländern und die müssen angegangen werden, und die Länder ändern ja auch an diesem Bereich. Aber sie bekommen eben gleichzeitig im Bereich Arbeitsplätze und Investitionen keine Hilfen. Alsodass in den Ländern viel liegt, ist richtig. Allerdings muss man dazu sagen, dass der Bericht auch feststellt, dass gerade das deutsche Sozialsystem sehr ineffektiv ist und auch schlecht abschneidet, was die Effizienz der Bekämpfung von Armut in Deutschland angeht. Das wird in der gleichen Grafik festgestellt, die Sie eben zitiert haben.

    Kaess: Aber Deutschland ist doch insgesamt ganz gut durch die Krise gekommen?

    Giegold: Das ist richtig. Aber wir haben in Deutschland eben genauso ein großes Auseinanderfallen zwischen Arm und Reich. Wir haben zwar niedrige Arbeitslosigkeit, und darüber freut man sich natürlich, aber wir haben das gleiche Auseinanderfallen zwischen Arm und Reich, was wir in Europa erleben, auch in Deutschland und bei beiden Themen haben wir Untätigkeit der Bundesregierung. In Europa weigert man sich gegen stärkere Ausgleichsmechanismen, in Deutschland verweigert man sich einer gerechteren Steuerpolitik. Da gibt es Parallelen und das wird eben in dem Bericht zurecht kritisiert.

    Kaess: Herr Giegold, bei der Rettung Griechenlands wurde vor allem von den deutschen Steuerzahlern schon eine Menge Solidarität verlangt. Die Euro-Zone und der Internationale Währungsfonds verhandeln gerade mit Zypern über ein Hilfspaket im Volumen von gut 17 Milliarden Euro, um Zyperns maroden Bankensektor zu sanieren. Man muss dazu sagen: Zypern wird vorgeworfen, mit laxen Geldwäschekontrollen enorme Summen aus Russland angezogen zu haben. In Deutschland haben jetzt schon viele Parlamentarier eine Hilfe abgelehnt. Ist bei Zypern die Grenze der Solidarität erreicht?

    Giegold: Ich bin auch der Meinung gewesen, dass wir unter den gegebenen Bedingungen der Krise die Bankensysteme in Griechenland, in Portugal und in Irland stabilisieren mussten. In Zypern sieht das jetzt deutlich anders aus. Zypern von der Größe her hat nicht das Potenzial, die ganze Euro-Zone in die Krise zu reiten, und Zypern ist nicht nur ein Geldwäscheparadies, sondern es hat auch ein Steuersystem, das direkt so gestaltet ist, dass transnationale Unternehmen bequem Geld damit aus der EU unbesteuert herausschleusen können.

    Kaess: Also keine Hilfe für Zypern, das wäre nicht angebracht?

    Giegold: Ganz genau. Das heißt, Zypern und auch weitere Hilfen für Irland sollten nur gewährt werden, wenn diese Länder auch bereit sind, dort etwas zu ändern. Nach Solidarität zu fragen und gleichzeitig den Nachbarn in die Tasche zu fassen über das eigene Steuersystem, das passt nicht zusammen.

    Kaess: Herr Giegold, schauen wir zum Schluss noch auf einen letzten Aspekt des Sozialberichtes. Mit welchen Auswirkungen rechnen Sie, wenn in Europa große Teile der jungen Generation abgehängt werden?

    Giegold: Das kann leider niemand vorhersagen. Ich hoffe sehr, dass die Politik sich dem nun annimmt, denn die Gefahr ist ja weiter groß, dass sich irgendwann die Unzufriedenheit über diese Situation – und der Bericht sagt ja, den jungen Menschen in den Ländern wird es, wenn nichts anderes noch passiert, nicht besser gehen in den nächsten Jahren -, dass sich das gegen Europa wendet. Und das kann nicht in unserem Interesse sein und das ist schon gar nicht ...

    Kaess: Und auf welche Art und Weise gegen Europa wendet?

    Giegold: Durch Proteste, durch antieuropäische Parteien, die mit simplen Parolen versuchen, um Wählerstimmen zu werben. Schauen Sie die Situation in Griechenland an: die Leute sind doch nicht begeistert von Syriza, die sehr wenig an konkreten Lösungen bietet, sondern die liegen in den Umfragen derzeit vorne aus Verzweiflung. Und diese Verzweiflung, Europa sollte sich dem annehmen und versuchen, etwas daran zu tun, mehr als nur nach Reformen in den Ländern zu rufen.

    Kaess: ... , sagt Sven Giegold, Abgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament. Danke schön für das Gespräch.

    Giegold: Vielen Dank, Frau Kaess.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.



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