Dienstag, 23. April 2024

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EU-Türkei-Beziehungen
"Zwischen der EU und der Türkei gibt es keinen Draht mehr"

Die Beschimpfungen aus Ankara seien ein Angriff auf die freie Meinungsäußerung und die Würde Europas. "Wir können nicht kuschen. Wir müssen eine Entscheidung treffen, wie die Zukunft zwischen der Türkei und Europa aussieht", sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn im DLF. De facto seien die Beitrittsgespräche längst ausgesetzt.

Jean Asselborn im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 19.03.2017
    Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg spricht während eines Treffens in Russland.
    Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg, warnt vor einer nachhaltigen Beschädigung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. (picture alliance / dpa / Sergey Pyatakov)
    Das Interview der Woche hören Sie ab 11.05 Uhr im Deutschlandfunk
    Jörg Münchenberg: Herr Asselborn, es gab jetzt in der zurückliegenden Woche in Europa einen kollektiven Stoßseufzer der Erleichterung, dass der EU ein Wahlsieg von Geert Wilders erspart geblieben ist. Stattdessen hat der amtierende Regierungschef Mark Rutte die Wahlen gewonnen, wenn gleich mit herben Stimmverlusten. Trotzdem ist das jetzt der zweite Erfolg von Pro-Europäern nach den Wahlen – den Präsidentschaftswahlen – in Österreich. Würden Sie sagen, das ist ein Hoffnungssignal für Europa, jetzt gerade, wenn man auch auf die Wahlen schaut, in Frankreich vor allen Dingen ja zuerst und dann später auch in Deutschland?
    Jean Asselborn: Ja, welche Frage würden Sie stellen, wenn Wilders die erste Partei gewesen wäre? Ich glaube schon, dass man, sagen wir mal, durchatmen kann, dass es wichtig ist, nach der Wahl in Österreich, nach der Wahl in Amerika, vor der Wahl in Frankreich, dass wir dieses Zeichen aus den Niederlanden bekommen haben. Das ist schon Gold wert, würde ich sagen. Es ist, glaube ich, kein Sieg jetzt für Europa. Es ist aber eine Niederlage für die, die gegen Europa sind. Und wenn ich sage, es ist kein Sieg für Europa heißt das, wir haben einen Rechtsextremen verhindert. Natürlich, über das Innenleben der Europäischen Union müssen wir ja sehen, dass eine gewisse Lethargie eingetreten ist, das kann uns Mut geben, das muss uns Mut geben, sagen wir mal, aktiver wieder gemeinschaftlich zu arbeiten.
    Münchenberg: Könnte man das zugespitzter fassen und sagen, vielleicht werden die Populisten auch ein bisschen zu sehr überschätzt in Europa, weil sie ja nur eine kleine Gruppe – auch in der Gesellschaft – repräsentieren? Oder man könnte es ja auch anders fassen, sollten nicht die Pro-Europäer selbstbewusster auftreten?
    Asselborn: Ja, Sie haben ganz recht. Auch, weil Sie die Frage stellen: Was geschieht jetzt in Frankreich? Frankreich ist ja die wichtigste Wahl des Jahres. Es geht ja nicht nur um das Innenleben in Frankreich, es geht um Europa. Wenn in Frankreich Le Pen gewählt würde, könnte man oder müsste man sagen heute, dass dann dieses Duo Frankreich-Deutschland – auf das die Europäische Union aufgebaut ist – nicht mehr existieren würde. Le Pen will aus dem Euro aussteigen, will Europa kaputtmachen. Und wir sind uns, glaube ich, bewusst geworden, dass man also den Kampf, das ist vielleicht ein schlechtes Wort, aber die Argumentation gegen den Populismus - dass diese Argumentation geführt werden muss. Sie muss nicht geführt werden, um Recht zu bekommen, sondern sie muss geführt werden, damit dieses Friedensprojekt, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben, dass das weiterhin Bestand hat.
    Münchenberg: Sie haben Le Pen angesprochen, das ist sicherlich die Schicksalswahl jetzt in diesem Jahr in Europa, das haben Sie auch gesagt. Sie meinten auch vielleicht jetzt nach Trump und auch dem, was in den Niederlanden passiert ist, auch in Österreich, das gibt auch eben den pro-europäischen Kräften neuen Auftrieb. Trauen Sie Le Pen einen Wahlsieg trotzdem theoretisch zu? Auch bei Trump hieß es ja im Vorfeld – dem jetzigen US-Präsidenten – der wird nie Präsident.
    Asselborn: Dasselbe haben wir gesagt in Österreich. Dasselbe haben wir gesagt in den Niederlanden. Es ist aber nicht so gekommen. Es ist ein klares Ergebnis gewesen. Darum, wenn Sie mich fragen, traue ich ihr das zu? Nein. Ich traue den Franzosen nicht zu, dass sie zulassen, dass Le Pen gewählt wird. Frankreich, das Land der Menschenrechte, Frankreich, das Land der Revolution, kann nicht zulassen, dass das, was nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, mit Füßen getreten wird, dass das Friedensprojekt Europa zerstört wird. In Frankreich gibt es diese Tendenz, das Nationale hochzuhalten. Und dann eben jetzt, wo die Tochter Le Pen das geschickter macht, nicht mehr antisemitisch ist, dass viel gescheiter macht. Aber, natürlich, der Geist ist derselbe wie bei dem Alten.
    Münchenberg: Stichwort "Geschickt". Lassen Sie mich noch mal den Bogen schlagen jetzt zu Mark Rutte, der hat ja sehr geschickt agiert, als diese Angriffe kamen aus der Türkei, diese harschen Verbalattacken, diese unsäglichen Nazi-Vergleiche. Er hat im Rückblick auch sehr klare Kante gezeigt. Er hat die Wahlkampfauftritte für das anstehende Referendum in der Türkei nicht erlaubt. Sollten sich die anderen europäischen Länder nicht auch an dieser Haltung ein Beispiel nehmen?
    Asselborn: Wir müssen ja aufpassen. Zum Beispiel hier in Luxemburg – wie in Deutschland – ist das ja gang und gäbe, nehmen Sie das letzte Referendum in Italien, das auch italienische Politiker in andere Länder gehen und dort für ihre Einstellungen werben, für die Seite, die sie vertreten. Allgemein jetzt in Europa zu verbieten, dass für eine Gemeinschaft – und in Deutschland ist ja eine sehr große Gemeinschaft von Türken – dass das verboten wird. Ich glaube, da hätten wir Probleme auch mit der Rechtsstaatlichkeit. Und ich glaube auch, dass die Demokratie eigentlich das schaffen müsste.
    "Diese Beschimpfungen sind schon auch ein Angriff auf die Würde Europas"
    Münchenberg: Trotzdem, die Beschimpfungen hören ja nicht auf. Also, wir haben angefangen erst mal mit den grundsätzlichen Beschimpfungen, dann kamen die Nazi-Vergleiche, jetzt ist von einem Religionskrieg die Rede. Also, Erdogan schürt und schürt, wo er eigentlich nur kann. Die Frage stellt sich schon: Sollten sich die Europäer nicht untereinander abstimmen und sagen: Wir alle, solange sich der Ton da nicht ändert, haben da eine klare Linie.
    Anhänger von Präsident Erdogan protestierten vor dem niederländischen Konsulat in Istanbul gegen die Regierung in Den Haag. 
    Anhänger von Präsident Erdogan protestierten vor dem niederländischen Konsulat in Istanbul gegen die Regierung in Den Haag. (AFP / Yasin Akgul)
    Asselborn: Also, ich glaube ganz klar, Herr Münchenberg, dass diese Bilder, die wir sahen vor allem aus den Niederlanden, aber auch aus Deutschland, die Töne - dass die nicht spurlos an dem Verhältnis der Europäischen Union und der Türkei vorübergehen. Das ist ganz klar. Gabriel spricht ja schon von einer privilegierten Partnerschaft. Wir werden eine intensive Debatte zu führen haben. Diese Beschimpfungen sind schon auch, glaube ich, ein Angriff an die freie Meinungsäußerung und auch auf die Würde Europas. Ich bin noch immer der Überzeugung, dass man eine Kultur der Diplomatie in Europa hochhalten muss.
    Münchenberg: Aber noch ein Argument dagegen: Haben die Staats- und Regierungschefs in Europa nicht auch eine Verpflichtung gegenüber ihren eigenen Bürgern, denen sich ja schon der Gedanke aufdrängen muss, die Regierung – ich spitze es zu – kuscht vor der Türkei?
    Asselborn: Nein. Die Regierungen in oder sagen wir die Mitgliedsländer in der Europäischen Union haben eine Demokratie, die so stark ist, dass sie das verträgt. Wissen Sie, ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich bin aber nicht bereit, zu diesem Zeitpunkt, auf den Weg zu gehen, dass man alles kaputt schlagen soll von unserer Seite.
    "Man sollte abwarten wie das türkische Volk abstimmt"
    Münchenberg: Was wäre für Sie dann die Schwelle, wo Sie sagen würden, das geht so nicht?
    Asselborn: Diese Schwelle zu definieren im heutigen Zustand ist ziemlich schwer, denn ich weiß nicht, wo man noch drauflegen kann. Wir haben ja gesagt, Todesstrafe, gut, da wissen wir, was kommt. Aber es geht nicht darum jetzt. Wir müssen jetzt noch ein wenig Geduld haben, bevor wir eine Entscheidung treffen. Man sollte abwarten wie das türkische Volk abstimmt. Die Frage kann sich ja auch stellen: Was geschieht, wenn Erdogan nicht dieses Referendum gewinnt? Wie steht die Türkei dann da? Was geschieht dann? Das sollte man abwarten. Und ich glaube, danach kommt die Frage auf uns zu: Wie gehen wir mit der Türkei weiter um? Wenn ich kurz sagen darf, ich habe selbst erlebt 2004, die Zeit der großen Hoffnung, dass – in der Türkei und für Europa – dieser Prozess der Annäherung wichtig ist. Dann kam die Periode, sagen wir mal, des Zögerns. Und Sie als Deutscher, Sie wissen, SPD war eher dafür, CDU eher für privilegierte Partnerschaft, CSU eher dagegen. Sarkozy kam dann und hat fast alles abgebrochen und dann kam die dritte Phase, das ist wo effektiv die Zerrüttung kam. Das hat Erdogan provoziert, das ist ganz klar. Schon vor dem Staatsstreich im Juli 2016 hat das sich ja angezeigt und heute wieder das zusammenzubringen und wieder das zusammenzukitten, das ist extrem, extrem schwierig. Aber trotzdem, ich weiß, was Sie sagen wollen, wir können nicht kuschen. Das geht nicht. Wir müssen zu einem gewissen Zeitpunkt – und der wird kommen – eine Entscheidung treffen, wie die Zukunft zwischen der Türkei und Europa aussieht. Und das ist nicht, glaube ich, ein "Weiter so".
    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks, heute Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg. Herr Asselborn, Sie haben es ja jetzt schon angedeutet, lassen Sie uns das trotzdem mal konkret fassen. Die verbalen Abfälligkeiten, die da ständig aus der Türkei kommen, wie sehr hat das jetzt dieser Beziehung zwischen der Türkei und der EU schon geschadet? Wenn Sie das trotzdem beschreiben müssen, das geht ja nicht spurlos vorbei, das wird man auch, wenn das Referendum dann vorbei ist im April, nicht einfach bei Seite schieben können. Also, wie groß ist schon jetzt dieser außenpolitische Schaden?
    Asselborn: Also, ich glaube diese Attacken, diese verbalen Attacken, sind auch zum Teil ein Zeichen der Hilflosigkeit und sind auch eine Ablenkung. Ich glaube, dass Erdogan das ja klarmacht, um zu zeigen, ich brauche jetzt viel mehr Macht hier in diesem Land, um mich wehren zu können gegen den Westen, der uns akkaparieren will. Aber, ist Erdogan in der Lage abzusehen, warum er oder seine Partei auch so stark geworden ist? Ohne die wirtschaftlichen Beziehungen der Türkei zu Europa – 50 Prozent der Exporte der Türkei gehen nach Europa, 50 Prozent der Investitionen kommen aus Europa in die Türkei –, ohne Europa wäre die Türkei nicht in diesem Zustand.
    "In der Türkei gibt es Methoden von Verdächtigungen, von Verhaftungen, die absolut nicht mehr zu rechtfertigen sind"
    Münchenberg: Trotzdem wird im Augenblick ja verhandelt über die Ausweitung der Zollunion mit der Türkei. Da wäre ja auch die Frage, ob man nicht da vielleicht einen Warnschuss setzt und diese Verhandlung wenigstens jetzt mal aussetzt?
    Asselborn: Ja, ich glaube, ganz klar, diese Verhandlungen sind de facto ausgesetzt. Sowie auch die Beitrittsverhandlungen "ausgesetzt" sind. Das ist klar, dass hier kein Schritt in diese Richtung gemacht wird. Die Kommission hat auch meines Erachtens richtig reagiert, dass sie die Gelder für die Präadhesion, also die Gelder, die im Vorfeld einer Mitgliedschaft gezahlt werden können, dass das eingefroren ist. Es gibt zurzeit zwischen der Europäischen Union und der Türkei, es gibt keinen Draht mehr, der uns annähern könnte, der uns zusammenbringen könnte. Nicht nur die verbalen Attacken. Ich glaube, das ist eines, aber was noch viel schlimmer ist, das ist die Rechtsstaatlichkeit. In der Türkei gibt es Methoden von Verdächtigungen, von Verhaftungen, die absolut nicht mehr zu rechtfertigen sind. Nach dem Putsch ist die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei mit Füßen getreten worden. Jetzt ist die Frage – und das ist die cruciale Frage – haben wir Einfluss dies im Interesse der türkischen Menschen zu korrigieren? Oder müssen wir alles durchschneiden, die Türkei vor ein Faktum stellen, jetzt ist Schluss damit, wir haben keine Beziehung mehr zueinander, nicht nur, was die Mitgliedschaft angeht, sondern wir gehen viel weiter und können wir dadurch Druck ausüben? Das ist eine große Frage, das ist eine Frage der politischen Machbarkeit. Ich bin noch immer überzeugt, dass man nicht alles so kaputt schlagen soll, dass man die diplomatische Kultur jedenfalls von unserer Seite, dass man da, sagen wir mal, eine Reserve behalten soll.
    Münchenberg: Herr Asselborn, es gibt aber auch diesen Punkt – lassen Sie mich noch mal einhaken – es gibt auch den Vorwurf, dass gerade wegen dem EU-Türkei-Flüchtlingsdeal die EU letztlich so handzahm auftritt. Weil sie diesen Deal – der sich gestern jetzt zum ersten Mal gejährt hat – den nicht gefährden will. Ist das nicht trotzdem auch tatsächlich ein Punkt, warum die EU so vorsichtig gegenüber Erdogan auftritt?
    Asselborn: Sie können das Deal nennen. Ich glaube, ich sehe das eher positiv, dass wir versucht haben, wenn wir geografisch schauen, wo liegt Syrien und wo liegt Griechenland, dazwischen liegt die Türkei, dass man zu einem Abkommen kommt. Und wenn ich das positiv drehen darf – es gibt ja auch positive Sachen in der Türkei –. Die Türkei und ich erinnere mich an den hohen Kommissar der UNHCR, also, des Flüchtlingswerks, der hat gesagt: Die Türkei ist das Land auf der Welt, was am meisten gemacht hat für Akzeptanz von Flüchtlingen. Da sind mehr als drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien in der Türkei. Ich sehe nicht die Türkei zurzeit in der Lage – und das sind ja auch Drohungen, die absolut unfair sind, dass jede Woche 15.000 Flüchtlinge jetzt rauskommen. Welche Türkei wäre das denn, 15.000 Menschen jede Woche rauszutreiben, das geht ja gar nicht mehr.
    Die Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 in Rom.
    Die Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957 in Rom. (AP Archiv)
    Münchenberg: Im Interview der Woche des Deutschlandfunks heute Jean Asselborn, Außenminister von Luxemburg. Herr Asselborn, lassen Sie uns auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Nächstes Wochenende feiert die EU in Rom sich selbst – 60. Jahrestag der römischen Verträge. Es hat im Vorfeld schon dieser Feierlichkeiten Streit gegeben um die Erklärung, die EU in dieser Erklärung nach vorne schauen will, ihre Ziele und im weiteren Indikationsansatz beschreiben will. Das hat in Osteuropa, muss man sagen, große Sorgen ausgelöst, dass diese Länder in einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten auf der Strecke bleiben könnten. Sind diese Sorgen berechtigt oder halten Sie diese Kritik, die da auch kommt, vielleicht ein bisschen vorgeschoben? Weil – um das noch hinterher zu schieben, – wir haben ja faktisch schon ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten.
    Asselborn: Ja, das haben wir mit Schengen, wir haben das mit dem Euro. Die Position, ich sage jetzt nicht nur Polens, aber auch Polens und vieler Ländern im Osten, ist ja sehr sensibel. Man muss aufpassen, wie man damit umgeht. Man darf im Westen – im sogenannten Westen – nicht den Eindruck geben - das weiß die Kommission, das wissen auch die meisten - dass wir jetzt eben nur voranmarschieren wollen auf Kosten der Länder, die vielleicht durch Ursachen nicht mitziehen wollen. Das darf es nicht sein. Es darf, wie Juncker gesagt hat, kein neuer Vorhang aufgebaut werden. Allerdings, und das ist für mich die cruciale Frage – ob Ostländer oder Westländer, Südländer oder Nordländer – wissen Sie, es gibt meines Erachtens zwei Sachen, die werden nicht in Rom entschieden, aber vielleicht nach den deutschen Wahlen. Die erste Frage ist für uns alle: Sind wir bereit in einem Verein weiter mitzumachen, wo das Gemeinschaftliche Priorität hat? Akzeptieren wir das Gemeinschaftliche, um die Europäische Union weiterzubringen? Ever Closer Union. Und die zweite Sache ist, ich sage das auch nicht nur für den Osten, das kann für jeden sein, auch für mein Land: Sind wir bereit, die Rechtsstaatlichkeit – die Werte der Europäischen Union – weiterhin zu akzeptieren?
    "Das Prinzip des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten, muss von der Kommission vorgeschlagen werden"
    Münchenberg: Dann würde ich gleich…
    Asselborn: Diese zwei, wenn wir diese zwei Bedingungen akzeptieren, dann glaube ich, sind wir bereit in unserem Kopf auch es fertig zu bringen, wenn wir ein Reset wagen. Welches Land kann vielleicht in verschiedenen Gebieten, kann voranmarschieren, so wie der Vertrag es vorsieht, ohne andere zu diskriminieren?
    Münchenberg: Da würde ich Sie gleich danach schon noch mal fragen. Aber noch mal eine Sache zu dieser Erklärung, dieser Begriff der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, den hat vor allen Dingen die Bundeskanzlerin eingeführt. Und hat das mehrfach auch betont. Nicht alle sind darüber glücklich, Kommissionschef Jean-Claude Juncker, den haben Sie auch schon angesprochen, hat das im Parlament in dieser Woche indirekt kritisiert. Er hat gesagt, dadurch ist diese Besorgnis erst ausgelöst worden. Nun gibt es auch die Vermutung, kursiert auch, dass die Bundeskanzlerin das mit Absicht gemacht hat, um den Druck auf die Osteuropäer zu erhöhen. Können Sie sich vorstellen, dass tatsächlich diese Intention ein Stück weit dahintersteht?
    "Asselborn: Also, die Bundeskanzlerin macht vieles richtig. Und ich glaube auch nicht, dass sie hier total falsch liegt. Es gibt in den osteuropäischen Ländern, irgendwie durch die Migrationsfrage ist ja etwas aufgekommen, das sie den Eindruck haben, dass ihnen nicht mehr zugehört wird. Und wenn wir jetzt noch einen drauflegen – vor allem bei diesen Festlichkeiten in Rom – dann kann etwas geschehen oder ein Eindruck aufkommen, dass man eigentlich über sie mit der Walze wegfahren will. Das Prinzip des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten, muss von der Kommission vorgeschlagen werden und es muss im Rat auch gutgeheißen werden. Dann können neun, glaube ich, neun Länder, die sich finden, in eine Richtung gehen. Das soll nicht, und ich glaube, auch die Bundeskanzlerin will nicht, dass sie das gegenüber den Ostländern als pejorativ gesehen hat. Sie will, dass wir aus dieser Lethargie herauskommen – was alle wollen. Wir können nicht einfach so weitermachen, wie es ist, das sind ja auch diese fünf Punkte, diese fünf verschiedenen Modelle…
    Münchenberg: Das Weißbuch zu den Verschiedenen …
    Asselborn: Das Weißbuch. Und da gibt es, glaube ich, ganz klar – die zwei Ersten jedenfalls – weiter so, dass das nicht geht. Also müssen wir schauen, wie bringen wir Europa weiter mit dem Prinzip Ever Closer Union und da gibt es keine 100 Möglichkeiten.
    Münchenberg: Herr Asselborn, ich würde noch zwei kurze Punkte machen. Sie haben vorhin die Rechtsstaatlichkeit angesprochen, die nun gerade ja in Polen erheblich leidet. Es gibt das Rechtsstaatsverfahren auch der Kommission – da muss man trotzdem sagen, haben die Mitgliedsstaaten die EU-Kommission bislang alleine gelassen, da tut sich auch nichts. Ist es nicht endlich an der Zeit, dass auch die Mitgliedsstaaten hier Farbe bekennen und dieses Thema zumindest überhaupt mal auf die europäische Agenda heben, angesichts doch der massiven Verstöße jetzt gegen die Unabhängigkeit der Justiz in Polen?
    Asselborn: Herr Münchenberg, ich kann Ihnen nur recht geben. Man darf die Kommission nicht alleine lassen, denn wir wissen, dass die Kommission mit dem Vertrag nicht ganz weit kommt. Die, die im Konvent waren, hatten nicht die Vorstellungskraft, dass wir einmal in diese Lage kämen, dass dann Einstimmigkeit gebraucht wird. Sie wissen, dass ganz klar Ungarn gesagt hat: Wir lassen nichts an Polen kommen.
    "Heute würde mit großer Wahrscheinlichkeit Ungarn und Polen nicht mehr Mitglied werden können"
    Münchenberg: Aber es geht ja um das politische Zeichen.
    Asselborn: Ja. Wissen Sie, diese Solidarität zwischen Ungarn und Polen treffen wir ja sehr oft an, wenn es um die Rechtsstaatlichkeit geht. Die haben zwei verschiedene – grundverschiedene – Meinungen zu Russland, das wissen Sie. Aber hier, wenn es um die Rechtsstaatlichkeit geht, dann ist eine gewisse Solidarität da. Lassen Sie mich nur sagen, in Polen – das ist für mich das Allerschlimmste – es gibt eine Logik, was geschehen ist mit Präsident Tusk. Herr Kaczyński, der Chef der PIS-Partei in Polen, hat eine ganz andere Vorstellung von der Rechtsstaatlichkeit als die, die eigentlich in den Kopenhagener Kriterien steht. Er kann sich nicht anfreunden mit der Trennung der Gewalten, mit einer freien Presse. Für ihn sind Teile der Werte der Europäischen Union ein Sündenfall.
    Münchenberg: Aber muss dann die Europäische Union nicht trotzdem das auch einmal klar benennen, und zwar auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs?
    Asselborn: Ja, ich bin ja nicht nur, ich bin ja nur ein kleiner Mensch. Ich kann nicht für einen…
    Münchenberg: Sie sind Außenminister…
    Asselborn: … Ja, aber lassen Sie mich nur erklären, was es ist. Es ist schlimm, wenn man, heute ein großes Land wie Polen sich entfernt von den Kopenhagener Kriterien. Das heißt, heute würde mit großer Wahrscheinlichkeit Ungarn und Polen nicht mehr Mitglied werden können der Europäischen Union, weil sie vor 25 Jahren, als sie Mitglied wurden, die Kriterien respektiert haben und heute nicht mehr. Ich gebe Ihnen auch ganz recht, dass Debatten im Europäischen Parlament nützlich sind, wertvoll sind, dass die Position der Kommission natürlich auch wertvoll ist und richtig ist, aber wir kommen nicht weiter, wenn keine Debatte im Rat stattfindet. Und darum geht es. Ich habe ja wirklich nichts gegen das ungarische Volk einmal sagen wollen, auch nicht gegen das polnische Volk. Aber hier geschieht eine Verzerrung, die effektiv diese Länder auf die Kriechspur bringt. Und ein paar Länder natürlich auch bei uns fangen an, sich Gedanken darüber zu machen. Vielleicht noch nicht aus dem Europäischen Rat, denn der Europäische Rat verteidigt, das wissen Sie, viel zu viel die nationalen Interessen anstatt die europäischen Interessen. Das ist so. Ich kritisiere das nicht, aber das ist ein Faktum. Während im Allgemeinen Rat wir uns ein System geben müssen, die Belgier haben ja einen Vorschlag gemacht, dass man ähnlich wie in Genf beim Menschenrechtsrat, dass man eine Debatte führen kann, wenn die Rechtsstaatlichkeit in die falsche Richtung geht. Dass dann eine Peer Review, wie das heißt, gemacht wird, dass eine Debatte darüber stattfindet, dass man wenigstens politisch weiß und akzeptiert, dass das nicht geht. Wir saßen als Benelux-Außenminister vor ein paar Tagen mit den Visegrád-Außenministern zusammen. Der polnische Außenminister gibt es zu, er sagt: Ohne Eingriff in die Justiz und ohne Eingriff in die Presse ist es nicht möglich, dass wir unsere Politik, für die wir gewählt wurden, die Ideologie unserer Partei, durchsetzen. Es ist klar, der Eingriff wird von Regierungsseite so definiert, dass er nützlich ist, dass er notwendig ist, um die Politik einer Partei durchzusetzen. Und das ist schlimm. Ich glaube mit Tusk – mit Präsident Tusk – man braucht nicht einen Polen in Brüssel, der antipolnische Politik macht - wir müssen jemanden haben aus Polen, der polnische Politik der Regierungspartei verteidigt. Das ist ihre Logik gewesen. Und das ist etwas, das kann selbstverständlich, ich sage es noch einmal, die Fundamente der Europäischen Union ins Wackeln bringen.
    "Diese Erklärung wird Europa nicht retten"
    Münchenberg: Herr Asselborn, eine letzte Frage. Es wird in dieser Rom-Erklärung ja auch um die Werte gehen der Europäischen Union. Jetzt haben wir geraden über Polen gesprochen und da ist eben ganz klar – Ungarn haben Sie auch genannt – da gibt es Verstöße gegen europäische Grundwerte. Was taugt diese Erklärung? Was für ein Signal kann von dieser Erklärung überhaupt ausgehen - wenn Sie diese Frage noch kurz beantworten?
    Asselborn: Ja, diese Erklärung wird Europa nicht retten. Wir werden, glaube ich, egal, was da drinsteht, das glaube ich, ist vielleicht sehr wichtig für die, die da unterschreiben oder da stehen in diesem Moment und das zu kommentieren haben. Aber die Europäische Union wird nach den Wahlen in Deutschland – also im Herbst – sich in den Spiegel schauen und dann muss sie sich selbst befragen, wollen wir zusammen und wohin wollen wir? Zusammen wohin? Und das glaube ich, wird das Entscheidende werden. Frankreich, die Wahlen in Frankreich sind curcial, selbstverständlich. Es kommen auch Wahlen in Tschechien, die nicht unwesentlich sind. In Deutschland, glaube ich, gibt es keine Gefahr, dass eine antieuropäische Regierung zustande kommt. Im Gegenteil, jetzt wo auf Augenhöhe gekämpft wird, geht das auf Kosten der AfD, davon bin ich überzeugt. Aber die Frage ist nicht, was wir schreiben, wie wir Europa voranbringen. Die Frage ist: Was ist unsere Mentalität in der Europäischen Union? Sind wir noch zusammen? Und wenn wir zusammen sind, dann müssen wir auch schauen, dass wir eine Politik machen, die auf Solidarität aufgebaut ist und selbstverständlich auch auf das Gemeinschaftliche. Wir dürfen uns nicht dazu gratulieren, wenn wir das fertigbringen im Rat, dass die Europäische Union uneinig ist in der Durchsetzung von verschiedenen Positionen, was wir heute haben.
    Münchenberg: Herr Asselborn, vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.