Freitag, 29. März 2024

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Ukraine-Konflikt
"Die EU meinte, auf Weisung der USA Sanktionen beschließen zu müssen"

Im Syrien-Krieg hofft Gregor Gysi auf eine Annäherung zwischen den USA und Russland. "Die Chemie zwischen Trump und Putin könnte stimmen", sagte der neu gewählte Chef der Europäischen Linken im DLF. Gemeinsam könnten sie einen Kompromiss finden. Im Ukraine-Konflikt sieht er die Rolle der EU kritisch.

Gregor Gysi im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 19.12.2016
    Gregor Gysi hält eine Rede auf dem Kongress der Europäischen Linken in Berlin, nachdem er zum Vorsitzenden der Partei gewählt wurde.
    Gregor Gysi ist neuer Vorsitzender der Europäischen Linke. (imago / Zuma Press)
    Die Europäische Union habe ihre Sanktionen gegen Moskau auf "Weisung der US-Administration" verhängt, sagte Gysi im Deutschlandfunk. Aus Washington habe es geheißen "Ihr müsst, ihr müsst", so der frühere Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, doch müsse "man sich ja nicht anweisen lassen". Russland sei ein Bestandteil Europas, ohne den es niemals Frieden und Sicherheit gebe. Anstatt Sanktionen zu verhängen, hätte die EU im Ukraine-Konflikt "von Anfang an vermitteln müssen".
    Mit Blick auf den Syrien-Krieg sagte der 68-Jährige, dieser sei nur in einem Kompromiss zwischen den USA und Russland zu lösen. Zuletzt habe auch die "nicht stimmende Chemie" zwischen dem noch amtierenden US-Präsidenten Barack Obama und Russlands Präsidenten Wladimir Putin dies verhindert. Unter Obamas Nachfolger könne sich dies ändern, "die Chemie zwischen Donald Trump und Putin könnte stimmen". Darin liege eine Chance.
    Gysi: Europäische Linke wollen die EU retten
    Dies würde auch für Europa die Situation ändern: "Was machen wir denn, wenn Trump einen Kompromiss findet und wir sitzen immer noch auf unseren Sanktionen? Da müssen wir einen Weg finden", forderte Gysi.
    Für die EU brauche es einen "Neustart". Zwar gebe es viel zu kritisieren an Brüssel, doch anders als die meisten Rechtspopulisten wollten die Europäischen Linken die EU retten. So hätten "die alten Nationalstaaten ökonomisch im Vergleich zu China und USA kein Gewicht, und politisch haben sie auch nichts zu sagen". Nur als EU seien "wir politisch und wirtschaftlich ein Faktor", so Gysi.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Gregor Gysi, seit Jahrzehnten ist er das vielleicht wichtigste Gesicht der Linken und ihrer Vorläuferparteien SED, SED/PdS und Linkspartei. Zehn Jahre lang hat er auch die Bundestagsfraktion der Linken geführt. Doch wer gedacht hat, dass sich Gregor Gysi in den Ruhestand verabschiedet, hat sich getäuscht. Am Wochenende ist der 68-Jährige, der in wenigen Tagen 69 wird, zum Vorsitzenden der europäischen Linken gewählt worden. Das ist der Zusammenschluss Dutzender europäischer Linksparteien. Jetzt ist er bei uns am Telefon. Zunächst mal Glückwunsch zur Wahl, Herr Gysi.
    Gregor Gysi: Schönen Dank, Herr Heckmann.
    Heckmann: Angela Merkel ist auf dem CDU-Parteitag in Essen mit 89,5 Prozent als CDU-Vorsitzende wiedergewählt worden. Das war das zweitschlechteste Ergebnis für sie und sie nannte das ein ehrliches Ergebnis. Für Sie haben sich gerade einmal 67,6 Prozent der Delegierten entscheiden können, obwohl Sie keinen Gegenkandidaten hatten. Wie nennen Sie dieses Ergebnis?
    Gysi: Na ja, das war ja eine Wahl von fünf Personen, und zwar auf einmal. Das war ja das Strittige. Manche wollten eine einzelne Wahl und andere wollten, dass alle fünf auf einmal gewählt werden, sodass man das gar nicht sortieren kann. Man weiß gar nicht, was man selbst für ein Ergebnis erzielt hätte. Alle haben mir zugesichert, mich hätten sie gewählt, aber eine andere wollten sie eben nicht wählen und deshalb haben sie so gestimmt. Ich kann das gar nicht deuten. Das Problem ist, …
    Heckmann: Sie hatten so was wie eine Einheitsliste? Verstehe ich das richtig?
    Gysi: Richtig, von einem Präsidenten und vier Vizepräsidenten. Und die Mehrheit hat entschieden, die zusammen zu wählen. Das muss ich erklären, das klingt ja nicht besonders demokratisch. Ich wäre auch lieber für eine Einzelwahl. Aber das liegt daran, dass alles dort auf Konsens ist. Das heißt, wenn der Präsident wird, muss die Vizepräsidentin werden und jener muss Vizepräsident werden.
    Und wenn dann plötzlich einer aus der Gruppe nicht gewählt wird, dann stimmt der ganze Konsens nicht mehr. Dann stimmt der Kompromiss nicht. Deshalb herrschen dort andere Regeln als die, die wir von unseren Parteien in Deutschland oder in anderen Ländern gewöhnt sind, weil nie darf eine Partei, die Mitglied ist, widersprechen einem Ergebnis, dann kommt das nicht zustande.
    Ich kann Ihnen sogar erklären, woran das liegt. Das liegt an der früheren, sage ich mal, Kommunistischen Internationale, wo ja dann Stalin entschieden hat, was passiert. So was wollten die nie wieder haben und deshalb spielt der Konsens bei ihnen eine ganz andere Rolle. Das macht die Sache ein bisschen komplizierter und macht sie nicht so vergleichbar mit den Strukturen, die wir beide ansonsten kennen.
    "Die Europäische Linke will die EU ganz deutlich reformieren"
    Heckmann: Durchaus interessante und überraschende Erkenntnisse, Herr Gysi. Schönen Dank dafür schon mal. - Kann es auch daran liegen, dass die europäische Linke mehr oder weniger ein Sammelsurium ist an sozialistischen und kommunistischen Parteien, die auch teilweise ja die EU verlassen wollen, wie zum Beispiel die Partei Portugals? Wie wollen Sie die denn alle auf eine Linie bringen?
    Gysi: Nein, das will ich gar nicht. Ich muss einfach die unterschiedlichen Sichten respektieren und akzeptieren. Das kenne ich ja schon aus meiner Fraktion und aus meiner Partei. Aber mal abgesehen davon ist es so: Es gibt ja auch wieder eine breite Übereinstimmung. Man will Frieden und ist gegen die Militarisierung der EU. Man will mehr Solidarität, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Demokratie, mehr ökologische Nachhaltigkeit, mehr Transparenz, weniger Bürokratie. Da sind wir uns einig.
    Aber Sie haben recht. Die portugiesische Partei hält die EU nicht für reformierbar. Sie will schon die europäische Integration, aber sie meint, mit der EU geht das nicht mehr. Aber die große Mehrheit will das, was ich auch will. Sonst hätte ich es ja auch gar nicht machen können. Sie will nämlich, dass wir die EU scharf kritisieren, aber dass wir sie ganz deutlich reformieren, wenn Sie so wollen ein Neustart.
    "Es gibt fünf Gründe, die EU zu retten"
    Heckmann: Sie sprechen ja davon, dass die Europäische Union unsozial sei, unsolidarisch, intransparent, bürokratisch, zumindest so wahrgenommen werde. Reden sie die Europäische Union nicht erst so richtig schlecht, worauf dann Populisten von rechts ihr Süppchen kochen können?
    Gysi: Sie sagen ja dasselbe. Bloß dann kommt bei mir der Bruch, der bei ihnen nicht kommt, und dann sage ich, es gibt fünf Gründe, sie zu retten, und zwar zwingende Gründe. Der erste Grund ist die Jugend. Die Jugend ist europäisch. Die haben mal dort gearbeitet, dort ein Praktikum gehabt, da studiert, die reisen durch ganz Europa. Stellen Sie sich doch mal vor, wir kommen zu den alten Nationalstaaten mit Grenzbaum und Pass zurück.
    Das zweite ist: Die alten Nationalstaaten haben doch ökonomisch im Vergleich zu China und den USA gar kein Gewicht und politisch haben sie auch nichts zu sagen. Was glauben Sie denn, welche Rolle Luxemburg im Nahost-Konflikt spielt. Aber auch wir. Nur als EU sind wir wirtschaftlich und politisch ein Faktor.
    "Wir haben in Afghanistan Tote verursacht, sogar tote Kinder"
    Heckmann: Jetzt ist es aber so, Herr Gysi, dass Europa ja derzeit eine Phase von erfolgreichen rechtspopulistischen Strömungen erlebt: in Österreich, in Polen, Ungarn, Frankreich, Niederlande, man könnte die Reihe so fortsetzen. Auch in Deutschland. Sie treten an, sagen Sie, diese Strömungen zu bekämpfen. Wie wollen Sie das machen? Werden Sie dem Rechtspopulismus von links entgegensetzen? Macht es sich Die Linke nicht ein bisschen einfach zu sagen, wir sind gegen jegliche militärische Einsätze wie in Afghanistan, um dann anschließend zu sagen, Afghanistan ist unsicher und deswegen darf es dahin auch keine Abschiebungen geben? Ist das nicht auch Populismus?
    Gysi: Nein. Sehen Sie mal, wer A sagt muss dann auch B sagen. Ich war ganz und gar dagegen, dass deutsche Soldaten nach Afghanistan gehen. Aber jetzt ist es ja so: Diejenigen, die der Bundeswehr geholfen haben, werden ja von den Taliban hingerichtet, und das kann ich doch nicht zulassen, sondern dann muss ich wieder sagen, ja dann müssen wir die natürlich aufnehmen. Das Land ist nicht sicher. Es ist ja völlig destabilisiert worden.
    Mein Gott, die Taliban sollten entmachtet werden; die sind heute mächtiger als damals. El-Kaida sollte zerstört werden; die sind bloß umgezogen. Elend, Not, alles hat zugenommen. Wir haben Tote verursacht, sogar tote Kinder. Wir haben selber tote Soldaten und haben Milliarden ausgegeben. Wenn wir nur einen Teil für die Entwicklung des Landes ausgegeben hätten, wären wir schon viel weiter.
    Heckmann: Wenn wir uns das Drama jetzt in Syrien anschauen, Herr Gysi, …
    Gysi: Furchtbar!
    "Der Syrienkrieg kann nur durch einen Kompromiss zwischen Russland und den USA gelöst werden"
    Heckmann: … und wenn wir uns anschauen, dass die Amerikaner, dass die USA unter Donald Trump eher weniger als mehr Verantwortung in der Welt übernehmen werden, was heißt das denn für Europa aus Ihrer Sicht? Muss Europa dann nicht doch mehr Verantwortung übernehmen und zur Not auch militärisch?
    Gysi: Militärisch habe ich bisher keinen Fall erlebt, wo das wirklich geholfen hätte. Der Irak-Krieg eine einzige Katastrophe, der Libyen-Krieg eine einzige Katastrophe, der Krieg in Syrien eine einzige Katastrophe. Den Syrienkrieg kriegen wir nur gelöst unter einer Bedingung, dass es einen Kompromiss gibt zwischen Russland und den USA. Ich halte von Trump gar nichts. Er ist kulturlos, er benennt ja nur ganz rechte Leute.
    Das Einzige, aber hoffentlich irre ich mich nicht: Die Chemie zwischen Obama und Putin stimmt überhaupt nicht und die könnte eher zwischen Trump und Putin stimmen. Das hebt zwar den Interessenunterschied nicht auf, aber es vergrößert die Chance für einen Kompromiss und ohne einen Kompromiss werden wir weder diesen Krieg beenden, noch den Konflikt in der Ukraine. Was bedeutet das für die EU? Die EU meinte ja, auf Weisung der amerikanischen Administration Sanktionen beschließen zu müssen gegen Russland.
    "Frieden und Sicherheit in Europa gibt es niemals ohne Russland"
    Heckmann: Auf Weisung?
    Gysi: Ein bisschen. Die haben gesagt, ihr müsst, ihr müsst. Aber man muss sich ja nicht anweisen lassen. Und das ist ein Fehler! Russland ist Bestandteil Europas. Frieden und Sicherheit in Europa gibt es niemals ohne, geschweige denn gegen Russland. Jetzt verbündet sich Putin mit Erdogan gegen die EU, was mich natürlich ungeheuer stört, aber das macht er, weil ja die EU Sanktionen gegen ihn beschlossen hat.
    Heckmann: Man hätte auf die Annexion der Krim beispielsweise nicht mit Sanktionen reagieren dürfen?
    Gysi: Nicht mit Sanktionen. Anders hätte man reagieren dürfen. Von Anfang an hätten wir übrigens vermitteln müssen in der Ukraine, wie wir das gemacht haben. Und Sie dürfen ja auch folgendes nicht vergessen: Der Krieg der USA gegen den Irak war auch völkerrechtswidrig. Kein Mensch ist auf die Idee gekommen, deshalb Sanktionen gegen die USA zu beschließen. Hätte ich auch nicht beschlossen. Aber das merkt doch die russische Regierung. Das merkt doch die russische Bevölkerung. Einmal sagen wir zwar nein und wir nehmen nicht teil, aber natürlich beschließen wir keine Sanktionen, und bei ihnen machen wir das dann.
    Heckmann: Und völkerrechtswidrige Schritte Moskaus einfach so hinzunehmen?
    Gysi: Nein, das sage ich gar nicht. Wir hätten auch die USA nicht hinnehmen dürfen, auch Moskau nicht hinnehmen dürfen. Ich habe das auch kritisiert, dass das völkerrechtswidrig ist. Wir dürfen nur nicht vergessen: Der Völkerrechtsbruch begann mit dem Jugoslawien-Krieg und selbst der angetrunkene Jelzin hat damals gesagt, wenn ihr hier das Völkerrecht verletzt, gilt es auch für Russland nicht mehr.
    "Das Verhältnis zwischen Europa und den USA ändert sich auch"
    Heckmann: Russland ist ein entscheidender Player, in der Tat, nicht nur im Syrien-Konflikt. Zugleich geht die amerikanische Regierung aber davon aus, dass Moskau den amerikanischen Wahlkampf manipuliert hat. Nachdem Russland jetzt bereits die Krim annektiert hat und auch solche Manipulationsvorwürfe, zumindest die Sorge davor hier auch in Deutschland ja laut geworden sind, wie sollte die Bundesregierung mit einem solchen Player umgehen?
    Gysi: Erstens wissen wir ja nicht, ob es stimmt. Aber wenn es stimmt, zeigt das, wie zugespitzt die gesamte Situation ist. Ich würde in ernsthafte Gespräche und Verhandlungen mit der russischen Regierung eintreten, übrigens genauso wie mit der amerikanischen, und fragen, was sich alles ändert, was sie vorhaben, was sie gegen uns tun, welche Bedingungen sie eigentlich stellen, was wir davon erfüllen können, was wir davon nicht erfüllen können.
    Wenn wir als erstes mit Sanktionen reagieren, dann ist natürlich die Gegenreaktion auch da. Und wir müssen sehen: Das Verhältnis, weil Sie auch danach gefragt haben, zwischen Europa und den USA ändert sich auch. Was machen wir denn nun, wenn Trump einen Kompromiss findet mit Putin in Bezug auf die Ukraine und wir sitzen immer noch auf unseren Sanktionen? Also ich glaube, wir müssen hier einen anderen Weg finden.
    "Angst, dass Trump das Abkommen mit dem Iran kündigt"
    Heckmann: Da gibt es auch andere Analysen dazu. Das muss man ergänzend vielleicht dazu sagen. Aber um auf die Amerikaner zurückzukommen: Heute kommen die Wahlleute in den USA zusammen, um Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten zu wählen. Was kommt da auf Deutschland, auf Europa zu? Dass Trump beispielsweise gegen Freihandel, gegen TTIP und so weiter und so fort ist, das dürfte Ihnen ja entgegenkommen.
    Gysi: Na ja, wissen Sie, das ist immer so. Alle negativen Entscheidungen haben auch immer irgendeinen kleinen positiven Nebeneffekt. Wenn er TTIP wirklich fallen ließe, das wäre, glaube ich, für die Verbraucher, für den deutschen Rechtsstaat, auch für unsere kleineren und mittleren Unternehmen wichtig. Aber ich sehe mit großer Sorge, dass er die Beiträge an die UNO einstellen will. Dann sehe ich mit großer Sorge, dass er den Mann zum Gesundheitsminister gemacht hat, der die Gesundheitsreform dort kippen will. Ich hoffe, dass das nicht passiert.
    Noch größer ist meine Sorge bei seinem Abschottungsdenken, also Mauer zu Mexiko. Wissen Sie, wir haben eine globalisierte Wirtschaft, die Menschheit rückt zusammen und dann kommen die Rechten und denken, wenn sie eine Mauer irgendwo hochziehen, halten sie den ganzen Prozess auf. Das ist doch eine Illusion, eine vollständige.
    Und dann am meisten habe ich Angst davor, dass er ernsthaft das Abkommen mit dem Iran kündigt. Das wäre eine Katastrophe, weil das die ganze Situation da unten noch mehr verschärfte. Ich hoffe, dass die anderen Regierungen, die unterschrieben haben, wie die russische, die deutsche, die britische, die französische, die chinesische, ihm das ausreden können.
    "Die Linke gilt nicht mehr als Protestpartei"
    Heckmann: Herr Gysi, kommen wir noch mal kurz zurück ins Inland. Die Landtagswahlen, die haben ja gezeigt, dass die AfD auch kräftig Zulauf vonseiten der Linken- Wähler bekommt. Weshalb gelingt es der Linken nicht, diese Wähler weiterhin anzusprechen?
    Gysi: Erstens: Wir waren die Protestpartei im Osten. Das sind wir nicht mehr. Wir sind in der Regierung in Brandenburg, in der Regierung in Berlin, stellen den Ministerpräsidenten von Thüringen. Da kannst Du noch so radikale soziale Forderungen stellen, Du giltst als angekommen, als etabliert und nicht mehr als Protestpartei.
    Zweitens gibt es große Ängste, eben auch in Bezug auf EU, in Bezug auf Flüchtlinge, und da gibt es natürlich auch bei uns Leute, die haben soziale Ängste. Man darf im Osten nicht vergessen, erstens: In der DDR war das eine eingeschlossene Gesellschaft. Dann sollten sie Deutsche werden, dann Europäerinnen und Europäer, jetzt am besten noch Weltbürgerinnen und Weltbürger und das überfordert auch einige.
    Aber das Zweite ist: Sie haben ja wirklich soziale Verwerfungen 1990 erlebt, so wie sie die Bürgerinnen und Bürger der alten Bundesländer glücklicherweise nie erlebt haben, und das erklärt schon einiges. Nur wir haben verloren in Mecklenburg-Vorpommern, wir haben verloren in Sachsen-Anhalt, und mich baut Berlin wieder auf. In Berlin haben wir absolut im Ostteil sogar zugelegt, nur prozentual wegen der höheren Wahlbeteiligung etwas verloren, und wir haben richtig toll zugelegt in Westberlin, weil wir so eine klare Politik diesbezüglich hatten und junge Leute uns gewählt haben. Die gehen jetzt übrigens auch in unsere Partei, aber …
    "Wir müssen dafür sorgen, dass die SPD wieder sozialdemokratisch wird"
    Heckmann: Das heißt, Sie sehen Chancen auf ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene im Jahr 2017?
    Gysi: Die Union und die SPD sind sich viel zu ähnlich. Früher waren das Alternativen. Wenn die Union gewonnen hat, hat die SPD verloren; wenn die SPD gewonnen hat, hat die Union verloren. Jetzt verlieren beide. Das geht gar nicht. Die sind sich viel zu ähnlich. Frau Merkel hat die Union sozialdemokratisiert und Schröder und seine Nachfolger haben die SPD entsozialdemokratisiert.
    Deshalb muss Folgendes passieren: Die Union muss konservativ werden und muss den verlorenen konservativen Teil der Wählerinnen und Wähler von der AfD wieder zu sich ziehen. Man muss sie mitnehmen, man kann sie nicht einfach links liegen lassen und der AfD überlassen. Und wir müssten in einer solchen Regierung dafür sorgen, dass die SPD wieder so sozialdemokratisch wird, wie sie unter Willy Brandt war.
    Wir brauchen einen sozialen Schub: Wir haben den größten Niedriglohnsektor in Europa, unmöglich, und die ganze prekäre Beschäftigung. Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit und dabei dürfen wir die Wirtschaft nicht verprellen, die müssen wir mitnehmen. Schwierig, aber machbar.
    Heckmann: Gregor Gysi war das, neugewählter Vorsitzender der europäischen Linken. Herr Gysi, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
    Gysi: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.