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EU zum Anfassen

Etwas ist anders an diesem Montag im Presseraum der Europäischen Kommission. Dort, wo normalerweise Journalisten aus den 25 Mitgliedsstaaten trockene Antworten auf trockene Fragen bekommen, haben rund 200 Jugendliche den Saal in Besitz genommen. Bei der Jugendwoche sollen die Belange und Interessen von Jugendlichen im Vordergrund stehen.

Von Ruth Reichstein | 06.12.2005
    Etwas ist anders an diesem Montag im Presseraum der Europäischen Kommission. Dort, wo normalerweise Journalisten aus den 25 Mitgliedsstaaten trockene Antworten auf trockene Fragen bekommen, schallt Beethovens 9. Symphonie aus den Lautsprechern. Rund 200 Jugendliche haben den Saal in Besitz genommen. Diskolicht flackert durch den Raum. Eine Handvoll Tänzer hüpft ungelenk über die Bühne, von der sonst Kommissionspräsident José Manuel Barroso seine politischen Strategien verkündet. Diesmal sitzt Barroso im Publikum und amüsiert sich köstlich – auch bei seiner Rede auf seiner so verwandelten Bühne. Er strahlt Zuversicht aus.

    "Es fühlt sich gut an, in die Augen der nächsten Generation zu schauen. Jugend repräsentiert Hoffnung, und Sie haben die Qualitäten, die Europa am meisten braucht. Vertrauen in Demokratie. Vertrauen in ein vereintes Europa. Europa braucht starke Jugendliche, und die Jugend braucht ein starkes Europa."

    In Paris und anderen europäischen Städten waren in den vergangenen Wochen Jugendliche auf die Barrikaden gegangen, hatten Autos in Brand gesteckt und sich Straßenschlachten mit der Polizei geliefert.

    "Die europäische Wirtschaft braucht die Jugend, weil wir so schnell altern. Europa braucht die Jugend, weil wir in Zukunft mit ihrer Beteiligung Politik machen. Die Jugend braucht ein starkes Europa, um die Herausforderungen der Globalisierung zu bestehen. Gemeinsam haben wir nichts zu befürchten."

    Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen in Europa ist doppelt so hoch wie die der gesamten Bevölkerung.

    "Europa ist an einem Wendepunkt – politisch und wirtschaftlich. Mehr als je zuvor brauchen wir eure Energie. Lasst uns einen neuen Dialog führen, nicht über einzelne Artikel der Verfassung, sondern darüber, warum wir ein starkes Europa brauchen und was Jugendliche dazu beitragen können."

    Nur jeder zweite europäische Jugendliche interessiert sich nach einer Umfrage der EU-Kommission für Politik. 39 Prozent finden, dass ihre Stimme in Europa zählt. In Frankreich und den Niederlanden sind es vor allem die jungen Menschen, die sich gegen den Entwurf einer Verfassung für Europa ausgesprochen haben.

    "Das ist schade. Aber ich weiß nicht, ob die Stimme der Jugend tatsächlich zählt. Es ist ja sowieso schon alles abgezirkelt. Die fragen uns, warum wir uns für Europa interessieren und uns da engagieren wollen. Ich würde sie gerne fragen, warum sie sich nicht um uns kümmern. Es ist schon alles nett hier, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass etwas Konkretes dabei herauskommt."

    Die europäischen Jugendlichen, wie Elodie aus Frankreich auf der einen und Kommissionspräsident Barroso auf der anderen Seite. Anspruch und Wirklichkeit: Gerade in der europäischen Jugendpolitik liegen sie weit auseinander. Die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedsstaaten und die EU-Kommissare werden nicht müde, darauf hinzuweisen, wie wichtig die junge Generation sei. Aber oft fehlt es daran, die hehren Ziele konkret umzusetzen. Lissy Gröner, Europa-Abgeordnete der SPD und Berichterstatterin für Jugendpolitik im EU-Parlament:

    "Ich denke es ist so, dass man sich nicht gleich schmücken kann mit Ergebnissen, wenn man für Jugendpolitik eintritt. Ganz im Gegenteil: Es ist oft mühsam, sich mit jungen Menschen auseinanderzusetzen, und es bringt auch manchmal Ärger ein, weil die Jugend ganz kritisch ist und immer wieder nachfragt. Das ist richtig so. Es ist eben nicht immer ganz einfach. "

    Außerdem liegt die Kompetenz für die meisten Politikbereiche, die Jugendliche betreffen, nach wie vor bei den Mitgliedsstaaten. Das gilt für die Arbeitsmarktpolitik genauso wie für Kultur und Bildung. Die Europäische Union als Ganzes kann hierzu lediglich Vorschläge machen, Empfehlungen geben, Ziele setzen. Die Umsetzung liegt dann aber bei den einzelnen Ländern selbst. Ein Beispiel von Lissy Gröner:

    "Wir haben in Lissabon ein Ziel festgelegt, dass kein Jugendlicher in Europa länger als sechs Monate ohne Arbeits- oder Ausbildungsplatz sein soll. Das ist noch längst nicht umgesetzt in den Mitgliedsländern. Ich denke, da kann man noch eine Menge mehr tun."

    Ein anderes Problem: Die Jugend existiert nicht als eine einheitliche soziale Kategorie. Die Erwartungen der jungen Menschen variieren von Land zu Land, aber auch innerhalb der Nationalstaaten. Gerade deshalb sei es so schwer, konkrete Projekte auf europäischer Ebene zu starten, sagt Pascal Delwit, Professor am Institut für europäische Studien der Freien Universität Brüssel:

    "Wir haben eine tiefe Trennlinie: Auf der einen Seite stehen verhältnismäßig wenige Jugendliche, die eine gute Ausbildung haben. Diese Jugendlichen sind europafreundlich, sogar begeistert. Das gilt zum Beispiel für die Austauschprogramme während des Studiums oder auch für die Möglichkeit, in einem anderen Land zu arbeiten. Diese Gruppe will mehr Macht für die europäischen Institutionen. Die anderen, Benachteiligten, sehen Europa eher als Gefahr. Das sind auch diejenigen, die bei den Volksbefragungen zur Verfassung mit Nein gestimmt haben. Sie haben Angst vor negativen wirtschaftlichen Konsequenzen."

    Trotz dieser schlechten Ausgangslange sind Europas Jugendpolitiker nicht völlig machtlos. Bereits seit 1995 gibt es zahlreiche Programme, die den Austausch von Jugendlichen fördern und sie auf ihr Berufleben vorbereiten sollen. Von 1995 bis 2000 haben rund eine halbe Million junge Menschen daran teilgenommen. Seit 2001, so schätzt die Kommission, sind noch einmal rund 700.000 hinzugekommen.

    Die Europäische Union fördert zahlreiche Projekte, die das Zusammenwachsen der Jugendlichen zum Ziel haben. Das sind Austauschprogramme von Schulen, Projekte einzelner Vereine, aber auch der Europäische Freiwilligendienst. Jedes Jahr arbeiten europäische Jugendliche für eine bestimmte Zeit in einem anderen Mitgliedsland. Sie werden von ihrem Heimatverein entsandt und von einer entsprechenden Partnerorganisation aufgenommen. Für dieses Programm gab die EU von 1995 bis 2000 rund 200 Millionen Euro aus.

    Gestern sind einige dieser Projekte in Brüssel ausgezeichnet worden. Barroso persönlich überreichte den Jugendlichen eine Art Bürger-Oskar für europäisches Engagement. Michael Stanger, der aus Berlin zur Jugendwoche gekommen ist, über sein Projekt, das er in Brüssel vorgestellt hat:

    "Wir haben im vergangenen Jahr einen Film gedreht gemeinsam mit dem Zentrum für Migration in Berlin. Jugendliche aus ganz verschiedenen Ländern haben sich gemeinsam Gedanken dazu gemacht, was die gemeinsame Vision von Europa sein könnte."

    Für die Europa-Abgeordnete Lissy Gröner ist dieser Austausch ein wichtiges Element für die künftige europäische Integration und deshalb zugleich unerlässlicher Teil der europäischen Jugendpolitik:

    "Wir haben nicht darauf warten müssen, dass in Paris die Autos brennen, um solche Erkenntnisse zu haben. Überall dort, wo frühzeitig Integrationsprogramme angegangen werden, kann man ablesen, dass die Toleranz überwiegt und man auch gemeinsam Lösungen für Probleme finden kann. Natürlich haben Jugendliche, die in Lappland groß geworden sind, ganz andere Vorstellungen wie vielleicht die Ungarn aus der Puszta oder das muslimische Mädchen aus Köln. Wir haben eine Vielfalt, die den jungen Menschen ganz viel Inspiration gibt und Lust auf Europa macht. "

    "Ich heiße Bilan, bin 24 Jahre alt und komme aus Zypern. Wir sind hier nach Brüssel gekommen, um andere Jugendliche zu treffen, um ihre Kulturen besser kennenzulernen, unsere Ansichten über Europa auszutauschen und uns so besser zu verstehen."

    Bilan kommt aus Zypern, genauer gesagt aus dem türkischen Teil der geteilten Insel. Sie gehört also noch nicht offiziell zur Europäischen Union. Aber sie setzt viel Hoffnung in die Vermittlung der Staatengemeinschaft, zu der auch Bilan eines Tages zählen will.

    "Ich bin Europäerin, weil ich aus Zypern komme. Aber die ökonomische und politische Situation auf meiner Seite ist um so vieles schlechter als in der EU. Das finde ich nicht fair. Wir haben so viele Probleme. Ich fühle mich zwar als Europäerin, aber nur als Individuum, nicht als Gesellschaft. Da muss noch viel passieren."

    Die junge Zypriotin hat deshalb auch an einem Projekt teilgenommen, dass die EU auf ihrer Insel organisiert hat. Lissy Gröner:

    "Wir haben auf Zypern Seminare und Jugendbegegnungen durchgeführt, die die Konfliktparteien aus dem gesamten Mittelmeerbereich zusammengebracht haben. Und die Jugendlichen haben den Politikern und ihren Entscheidungsträgern vorgemacht und Lösungsvorschläge erarbeitet, wie man friedlich zusammenleben kann. Also mal ein offenes Ohr für die Ergebnisse zu haben, kann der Politik nur gut tun."

    Solche offenen Ohren wollen die Politiker in Brüssel den Jugendlichen auch in dieser Woche schenken. Zum ersten Mal findet eine solche Beratung von Kommissaren, Parlamentsabgeordneten und jungen Europäern in diesem Umfang statt. Die Initiative dazu kommt aus dem Parlament. Der für Jugend und Bildung zuständige Kommissar Ján Figel nimmt sie gerne auf.

    "Ich fühle mich jung, und ich wünsche jedem, das gleiche zu fühlen. Ich glaube, dass die Europäische Union jung bleiben muss. Wir dürfen nicht zu einer altmodischen Struktur werden. Wir müssen Antworten auf die Fragen unserer Zeit finden. Dazu kann der Dialog mit jungen Menschen viel beitragen."

    Die Jugendwoche ist Teil des so genannten "Pakts für die Jugend". Im vergangenen Februar hatten die 25 EU-Minister, die sich in ihren Ländern um die jungen Menschen kümmern, erstmals eine Forderung an ihre Staats- und Regierungschefs gestellt: Jugendpolitik müsse ein Teil der Lissabon-Strategie werden. Darin hatten sich die Mitgliedsstaaten im Jahr 2000 auf ein ganzes Paket von wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen geeinigt, um Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze in Europa zu puschen. Von Jugendlichen war darin zunächst kaum die Rede.

    Auf Empfehlung ihrer Minister beschlossen die 25 Staats- und Regierungschefs dann aber auf ihrem Gipfel im März den Jugendpakt. Darin heißt es:

    "Der Pakt der Jugend zielt darauf ab, die allgemeine und die berufliche Bildung, die Mobilität sowie die berufliche und soziale Eingliederung der europäischen Jugend zu verbessern und zugleich die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Familienleben zu erleichtern."

    Noch gibt es keine europaweit festgelegten Ziele für diesen Pakt. Die bleiben – wieder einmal - jedem Mitgliedsstaat selbst überlassen. Festgeschrieben sind lediglich allgemeine Ansprüche wie Vollbeschäftigung, Chancengleichheit und Eingliederung von benachteiligen Jugendlichen ins Berufleben. Renaldas Vaisbrodas, Präsident der europäischen Jugend-Lobby, dem "European Youth Forum", bedauert, dass der Pakt nicht konkreter ist, der 24-Jährige hat aber auch Hoffnung:

    "Ich habe einige nationale Programme gesehen, die tatsächlich konkrete Ziele gesetzt haben. In meinem Land, Litauen, zum Beispiel: Da heißt es, die Jugendarbeitslosigkeit soll bis 2010 um 15 Prozent reduziert werden. Außerdem sollen Forschungs- und Informationszentren gemeinsam mit den Jugendorganisationen aufgebaut werden. Ich bin zuversichtlich, dass der Pakt der Jugend tatsächlich etwas bewirken wird."

    Die Arbeitslosigkeit, so der Brüsseler Professor Pascal Delwit, sei das größte Problem der Jugendlichen. Sie erwarten Lösungen – nicht nur von ihren nationalen Regierungen, sondern auch von der Europäischen Kommission in Brüssel. Dazu der für Arbeitsmarktpolitik zuständige Kommissar Spidla:

    "Es ist wichtig für Europa, diese Arbeitslosigkeit der Jugendlichen zu minimieren und auszuradieren, soweit es möglich ist. Es gibt viele Bereiche. Der erste Bereich sind die frühen Schulabbrecher. Wenn es dazu kommt, eine neue Chance zu geben. Das ist ganz wichtig. Die Möglichkeiten für die jungen Leute, ihre erste Arbeit zu bekommen und natürlich die verschiedenen Umschulungen. Es gibt es vieles."

    Ein ganz konkretes Projekt will die EU-Kommission im kommenden Jahr starten. Nach ihren Untersuchungen sind Jugendliche am Arbeitsplatz viel stärker unfallgefährdet als ihre älteren Kollegen. Deshalb soll die Europäische Agentur für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz ab Januar 2006 eine Informationskampagne durchführen und gemeinsame Standards zum Schutz von Jugendlichen am Arbeitsplatz erstellen.

    Für Kommissar Jan Figel sind solche Projekte erste Schritte zu einer europäischen Jugendpolitik.

    "Die meisten Kompetenzen liegen bei den Mitgliedsstaaten. Das stimmt. Aber wir haben überall die gleichen Probleme: die Alterung der Gesellschaft, Arbeitslosigkeit und so weiter. Deshalb müssen wir gemeinsame Antworten finden. Deshalb bin ich schon froh, dass die Staaten das Problem der Jugendpolitik erkannt haben und wir uns jetzt gemeinsam zum Beispiel über Mobilität, Bildung oder Forschung unterhalten. Dazu gehört auch, wie Arbeits- und Familienleben kombiniert werden können. Jugendpolitik muss in allen Bereichen eine Rolle spielen."

    Bewusstsein schaffen als Erfolg. Das ist die Devise in den Räumen der EU-Kommission. Nur nicht zu schnell vorangehen und dabei die Mitgliedsländer und Kollegen verschrecken. Dabei, meinen zumindest die Verteidiger der Jugendpolitik, geht aber der Fortschritt verloren. Renaldas Vaisbrodas vom European Youth Forum:

    "Es gibt kein Verständnis in der EU-Kommission und den Mitgliedsländern, dass Jugendpolitik überall eine Rolle spielen muss. Jeder in der Kommission schaut auf seinen kleinen Kasten und verteidigt seine Politik. Es gibt keine übergreifende Zusammenarbeit. Und das zu ändern, ist sehr, sehr schwierig."

    Das Europäische Jugendforum versucht in regelmäßigen Gesprächen mit der EU-Kommission und den anderen Institutionen ein Bewusstsein für die Erwartungen der Jugendlichen zu schaffen. Vereine und Organisationen aus allen 25 Mitgliedsstaaten sind in dem Forum zusammengeschlossen und in Brüssel vertreten.

    Bei ihrem Treffen mit Kommissionspräsident José Manuel Barroso verlangen die jungen Menschen vor allem mehr Geld für Bildung. Statt dessen könne man ja weniger für die Subventionierung der Landwirtschaft ausgeben, meint ein junger Fragensteller aus Dänemark, der dafür langanhaltenden Applaus von seinen Mitstreitern bekommt.

    Aber genau hier liegt ein Problem der Jugendlichen in Europa. Sie seien nicht gut genug vernetzt, um sich gegen andere Gesellschaftsgruppen durchzusetzen, meint Professor Pascal Delwit aus Brüssel:

    "Im Gegensatz zu den Bauern sind die Jugendlichen keine organisierte Gemeinschaft. Es kann schon mächtige Jugendorganisationen geben, aber die wollen nicht alle das gleiche. Eine Gruppe fordert zum Beispiel den kostenlosen Gebrauch von Computern in der Schule. Aber das ist dann nicht eine Forderung aller Jugendlichen."

    Immerhin in dieser Woche haben die jungen Menschen die Gelegenheit, mit Politikern aus Brüssel und den EU-Mitgliedsstaaten zu sprechen, um auf ihre Probleme aufmerksam zu machen. Renaldas Vaisbrodas ist das aber nicht genug:

    "Wir wollen einen jährlichen Dialog aufbauen, einen strukturierten Dialog mit der Kommission und jungen Menschen, die Ziele für jedes Jahr setzen. Das sollte der erste Schritt sein, um die jungen Menschen wieder näher zu den Institutionen zu bringen. "

    Jan Figel will zu diesem konkreten Vorschlag erst einmal nichts sagen. Er sei aber offen für weitere Diskussionen. Und die sind auch bitter notwendig, damit die Jugendlichen ihre Begeisterung für Europa nicht verlieren. Der 20 Jahre alte Johannes Langer aus Wien fasst zusammen, was wohl die meisten Teilnehmer an der Europäischen Jugendwoche denken:

    "Das Wichtigste ist, dass es nicht nur um Sonntagsreden geht, die sie natürlich immer gerne machen. "Jugend ist so wichtig!" Sondern dass tatsächlich konkrete Maßnahmen eingeführt werden. Das Wichtige ist, dass die Mitgliedsstaaten das wirklich umsetzen."