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Eugen Ruge: "Follower"
Im Superkaufhaus des Grauens

Nio, der Held in Eugen Ruges Romam, lebt in einer durchkommerzialisierten Überwachungsgesellschaft im Jahr 2055. Bei einem Versuch zu entkommen, landet er in einem Superkaufhaus - eine turbokapitalistische Variante von Dantes Höllenkreisen - in dem er von sexy Hostessen auf Rolltreppen hinab zu immer zweifelhafteren Konsum-Angeboten gelockt wird.

Von Gisa Funck | 13.12.2016
    Eine Frau steht am 10.12.2016 mit einer weihnachtlichen Einkaufstüte in einem Kaufhaus in Stuttgart (Baden-Württemberg). Dutzende Menschen nutzten den Samstag für Einkäufe in der Stuttgarter Innenstadt.
    Weniger Sciene Fiction, mehr Satire auf den gegenwärtigen Turbokapitalismus sei Eugen Ruges Roman, so Rezensentin Gisa Funck. (dpa / picture alliance / Christoph Schmidt)
    Eugen Ruges neuer Roman beginnt mit dem klassischen Horrorfilm-Szenario eines Hangovers: Ein Mann wacht früh morgens in einem Hotelzimmer auf und weiß nicht mehr, wo er sich befindet:
    "Er, Nio Schulz, war buchstäblich noch nicht ganz da (...) Er konnte sich nicht erinnern geweckt worden zu sein, schon gar nicht erinnerte er sich an F1, wie er die freundliche Aufwachstimmung, die er seit einigen Wochen mit Vorliebe verwendete, verschämt zu nennen pflegte. (...) Schulz träumte kaum noch in letzter Zeit, seit er sich von diesem Chip wecken ließ. War etwas schiefgegangen? Hatte jemand seinen Account gehackt und seinen Weckimpuls manipuliert?"
    Kulturpessimist Eugen Ruge, der in Presseartikeln schon länger vor den Risiken eines entfesselten Internet-Kapitalismus warnt, entwirft in Follower die Dystopie einer total kommerzialisierten Überwachungsgesellschaft. In dieser Zukunftswelt des Jahres 2055 besitzen Menschen nur noch einen Wert als Kunden oder als Verkäufer. Entsprechend herrschen in Ruges Dystopie nicht mehr politische Regierungen, sondern Wirtschaftskonzerne, die den Globus unter sich in verschiedene Marken-Zonen aufgeteilt haben. Ruges Held Nio Schulz – ein Name, der wohl nicht zufällig an den Matrix-Helden Neo erinnert – ist als Handlungsreisender in der Label-Region HTUA China unterwegs.
    Hier soll Nio Geschäftspartnern ein Produkt namens "True Barefoot Running" schmackhaft machen. Also das Produkt "Wahrhaftiges Barfußlaufen": Und damit ironischerweise etwas, was eigentlich zur menschlichen Grundbefähigung gehört und keinerlei Ausrüstung bedarf. Auch das ist natürlich ein Seitenhieb Ruges auf das berühmte Kapitalismus-Credo, bei Konsumenten – beziehungsweise: bei "Followern" – ständig Schein-Bedürfnisse zu wecken, die es in Wahrheit gar nicht gibt.
    Identität - nur noch ein Spiel mit Verpackungs-Optionen
    Nios Geschäftstermin ist im Roman auf zehn Uhr morgens festgelegt. Und Ruges futuristischer Handelsvertreter ist ziemlich nervös. Vor Kurzem hat Nio einen Flop hingelegt. Seitdem fürchtet er, dass Konkurrent Jeff ihn bei seiner knallhart kalkulierenden Firmenchefin in Misskredit bringen könnte. Nio braucht also dringend einen gelungenen Deal, um die Aura des Versagers wieder loszuwerden. Gelten in Ruges Optimierungs-Diktatur doch bereits kleinste Fehler und Versäumnisse als Sakrileg.
    Marcuses eindimensionaler Mensch ist hier endgültig zum Zahlen- und Daten-Objekt geschrumpft ohne eigenständige Persönlichkeit. Identität ist in Ruges Zukunftsvision nur noch ein Spiel mit Verpackungs-Optionen. Man kann als Konsument problemlos zwischen verschiedensten Rollenmodellen und Geschlechtsidentitäten hin- und herwechseln – und ist dann so sehr mit der Perfektionierung seiner äußeren Performance beschäftigt, dass für die Erörterung existenzieller Fragen nach Lebenssinn, Gerechtigkeit oder Umgang mit Alter und Tod schlicht keine Zeit und keine Energie mehr übrig bleibt.
    Insofern wird in Ruges Brave New World des schönen Scheins zwar allergrößten Wert auf political correctness gelegt. Gleichzeitig aber haben moralische Wertestandards hier längst jede Bedeutung verloren – und finden allenfalls noch als Werbesprüche Verwendung.
    Zumal Ruges Zukunftsbürger ständig mit einer Computerbrille namens "Glass" herumlaufen, die sie rund um die Uhr mit Informationen aller Art berieselt. Kein Wunder, dass bei so viel News-Overkill auch Held Nio Schulz ärgste Schwierigkeiten damit hat, sich länger als fünf Sekunden zu konzentrieren. Geschweige denn, endlich einmal in Ruhe über sein Leben nachzudenken:
    "Das routinemäßige Überfliegen der Tweets tat Nio Schulz gut. (...) @g-24 zufolge hatte die APOLOG-Gruppe weitere Anteile des russischen Staates gekauft, na schön, was interessierte es ihn, wem Russland gehörte. @dpa meldete soundso viel Tote im subsaharischen Wasserkrieg, allerdings gab es beinahe täglich soundso viel Tote im subsaharischen Wasserkrieg (...)
    "Das Recht auf wirtschaftliche Verwertung des eigenen Todes"
    Ein Typ namens S@sukagen teilte mit, dass das Computersystem der Weltbank von einem selbst assemblierenden Virus übernommen worden sei (...) Verschwörungstheorien, Schulz drückte den blauen Entfolge-Button, auch das @Luzia gerade einen Kokos-Bounty-Geburtstagskuchen backte, musste er nicht unbedingt wissen."
    "Oberstes Schiedsgericht bestätigt das Recht auf wirtschaftliche Verwertung des eigenen Todes", las Schulz, aber bevor er sich fragen konnte, was mit der wirtschaftlichen Verwertung des eigenen Todes gemeint sein könnte, verblasste die Meldung schon wieder und vor dem grauen Himmel erschien in gelber Schrift ein neuer Tweet von @Luzia, die der Welt mitteilte, ihr Kokos-Bounty-Kuchen sei angebrannt."
    Zugegeben: So ganz neu hört sich Ruges Big-Data-Alptraum in Follower nicht an. Informations-Overkill, Political Correctness-Wahn, die zunehmende Simulation von Erlebnissen statt eigenem, echtem Erleben – auch die Auflösung von Identität und Geschlechterrolle, und der vollständig durchleuchtete, statistisch bis ins Letzte vermessene Konsument: All’ das sind Phänomene, die wir bereits heute, im Internetzeitalter 2.0 beobachten können. Ruge hat mit Follower also weniger einen Science-Fiction-Roman geschrieben als eine Satire auf unseren hoch technisierten Turbokapitalismus, in der er heutige Trends bitterböse auf die Spitze treibt. Das macht seine Dystopie allerdings keineswegs weniger beängstigend. Im Gegenteil: Auch wenn sich Vieles in Follower durchaus amüsant liest: Insgesamt waltet hier ein sehr grimmiger, tiefschwarzer Galgenhumor.
    Das Wunder der Spezies Homo sapiens endet im Shoppingwahn
    Man merkt, wie empört der ehemalige DDR-Flüchtling Ruge darüber ist, mit welcher Bereitwilligkeit sich manche Zeitgenossen Big Brother Internet ausliefern. Um seiner Mahnung vor digitaler Fremdbestimmung noch mehr Gewicht zu verleihen, holt der Autor dann in einem Einschub von Nios Geschichte zeitlich sehr weit aus und blickt zurück bis zum sogenannten Urknall vor viereinhalb Milliarden Jahren. Seitdem, so listet Ruge im Zeitraffer auf, waren viele, höchst merkwürdige Zufälle notwendig, damit die Spezies Homo sapiens überhaupt entstehen konnte. Und nicht nur das Auftauchen des Menschen ist historisch gesehen eigentlich eine unwahrscheinliche Ungeheuerlichkeit, auch sein Überleben bis ins dritte Jahrtausend. Und nun sollen all’ diese erstaunlichen Zufälle lediglich dazu gedient haben, dass unsere Enkel sich bald nur noch stumpfsinnig mit Shopping beschäftigen?! Diese ungläubige Frage ruft Ruge seinem Leser quasi zwischen den Zeilen zu.
    Immerhin: Sein fiktiver Roman-Enkel Nio Schulz schert, wenn auch eher ungewollt, schließlich doch aus dem Heer der Marktgläubigen aus. Auf der Flucht vor der Polizei landet Nio dann bezeichnenderweise in einem futuristischen Superkaufhaus, bei dem einen als Leser endgültig das Grauen packt. Denn dieses Superkaufhaus entpuppt sich als turbokapitalistische Variante von Dantes Höllenkreisen. Immer tiefer gerät der arme Nio auf Rolltreppen hinab in den Abgrund, zu immer zweifelhafteren Konsum-Angeboten. Und immer trickreicher entlocken ihm sexy Hostessen dann auch noch den letzten Rest an Anstand und Würde, um diesen wiederum profitabel auszuschlachten: Nios Höllen-Einkaufstour endet schließlich in einem Raum, in dem er gegen Geld seine Mordgelüste ausleben darf, wenn er denn welche hätte. Einmal einen Kriminellen enthaupten, was für ein Spaß! säuseln ihm die Hostessen ins Ohr.
    Na – wunderbar! Das also war mit "wirtschaftlicher Verwertbarkeit des eigenen Todes" gemeint, von der Nio Stunden zuvor in einer Agenturmeldung las. Und sicherlich: Das mag eine drastisch-plakative Pointe sein – diese im Wortsinn "mörderischen" Auswüchse eines künftigen Neokapitalismus. Nichtsdestotrotz ist Follower ein Buch, das man nicht so schnell wieder vergisst. Denn sehr fremd oder sehr weit weg wirkt die darin beschriebene Zukunftswelt ohne Ethik, ohne Wunderglauben und ohne jeden Humor tatsächlich leider nicht.
    Eugen Ruge: "Follower. Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel"
    Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 320 Seiten, 22,95 Euro