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Jesiden in Deutschland
Abschied von Afrin

Rund 190.000 Jesiden leben in Deutschland, darunter auch Flüchtlinge aus der syrischen Stadt Afrin. Sie haben Angst, dass jesidische Kurden Opfer des IS und der türkischen Armee werden. Einige von ihnen demonstrieren gegen die Politik der Türkei. Unsere Autorin hat eine jesidische Familie begleitet.

Von Lena Gilhaus | 26.03.2018
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    Kurdendemonstration in Köln gegen türkischen Angriff auf Afrin (Deutschlandradio/Lena Gilhaus)
    Eine Sprachnachricht von Zozan: "Wir sind in Flughafen, wir wollen eine friedliche Demo machen und die Polizei haben uns gesagt, bitte vom Flughafen raus. Wir sind rausgegangen und dann die haben vor uns gesperrt. Können wir nicht weiter laufen, wir können nicht rechts, nicht links. Wir wollen nachhause gehen, die lassen uns nicht. Die wollen unsere Ausweise haben, die wollen uns alle bestrafen. Wir machen nichts, wir haben eine Demo einfach für Frieden gemacht!"
    Nichte Lodmela: "Ja, wegen den Kindern, die in Afrin sterben."
    Zozan: "Lena, wenn Du kannst, Journalisten hier schicken, bitte, wenn Du kannst, selber kommen, auch schön, aber Du bist weit, dann eine andere Journalistin von Düsseldorf schicken, die lassen uns nicht frei."
    Diese Whats-App-Nachricht erreicht mich am Mittag, des 11. März. Zozan Siydo und ihre Nichte Lodmela Khello sitzen seit fast drei Stunden mit der Familie am Düsseldorfer Flughafen fest. Sie rufen wieder an, ich höre, wie sie mit einem Polizisten sprechen. Die Kinder wollen trinken, zur Toilette gehen. Warum macht ihr das mit uns, fragen sie? Er lasse sie nur passieren, wenn er ihre Personalien aufnehmen und Fotos von allen machen könne, entgegnet der Polizist. Die Demo sei nicht genehmigt worden, in Deutschland gebe es Regeln, an die hätten sie sich zu halten. Und die Lage in Syrien werde sich dadurch auch nicht verbessern. Ich höre, wie Zozan Siydo wütend antwortet. Dass sie Deutsche sei, hier seit fast 30 Jahren lebe. Kurz darauf geben sie auf und lassen ihre Personalien aufnehmen. Dann schicken Zozan und Lodmela wieder eine Sprachnachricht:
    Zozan: "Gestern Nacht um zwölf Uhr ist Nachricht gekommen, Türkei und ISIS ist zwei Kilometer entfernt von Afrin, unsere Kinder sind dort, unsere Geschwister sind dort, müssen wir alle raus. Man kann in dieser Zeit nicht daran denken, ob Genehmigung ist da oder nicht da. Wenn die Kinder sterben, wie sollen wir ruhig sitzen und essen."
    Lodmela: "Das war doch früher in Deutschland auch so. Das weiß auch jeder."
    Zozan: "Ich glaube, jeder ist so, wenn Sterbefall in Familie kommt, man vergisst alles. Und man weiß nicht, was man tut und wir sind rausgegangen, aus diesem Grund. Danke euch, wir brauchen Unterstützung von euch, wir brauchen Hilfe von euch. Danke Tschüss."
    So verteidigen sich Zozan und ihre Nichte Lodmela.
    Mit Maschinengewehren gegen "Ungläubige"
    Zozan und ihre Verwandten sind syrische Kurden, gehören zur Glaubensgemeinschaft der Jesiden, die in zahlreichen islamisch geprägten Ländern seit Jahrhunderten verfolgt werden. 1989 erhielten Jesiden unter dem Status der Gruppenverfolgten bei uns das Bleiberecht. So wuchs über die Jahrzehnte eine große Gemeinde heran. Mittlerweile leben laut Schätzungen des Zentralrats der Jesiden rund 190.000 Jesiden in Deutschland.
    So wie Zozan Siydo, die hier zwar in Sicherheit ist, aber jeden Tag größere Angst um ihre Verwandten in Syrien bekommt. Sie fürchtet ein Massaker an Zivilisten, insbesondere jesidischen Kurden, durch den IS und die türkische Armee. Seit einigen Tagen erreicht sie ihre Schwester nicht mehr. Das erzählt sie mir Tags drauf. Zozan und ihr Mann Rozghar Siydo stehen bei der Montagsdemonstration auf der Kölner Domplatte.
    Reporterfrage: Wie habt ihr die letzten Tage erlebt, als ihr die Information erhalten habt, dass die Türkei vor Afrin steht? Welche Informationen habt ihr von euren Angehörigen?
    Zozan: "Die haben über 300 Dörfer vernichtet, dem Erdboden gleich gemacht. Steine. Bäume. Erde. Die brennen alles. Die Leute sind alle in der Stadt Afrin. Fast eine Million Menschen in Stadt Afrin gesperrt. Die haben die Talwassersperre bombardiert. Die haben das Wasser zugemacht, jetzt eine Million Menschen ohne Wasser. Raus, rein, nichts mehr."
    Reporterfrage: Von wem habt ihr das gehört?
    Zozan: "Meine Freundin hat mich angerufen heute morgen, ein Mann mit Schwiegertochter ist allein im Dorf geblieben und die haben die genommen, Schwiegervater ist 80 Jahre alt, haben sie getötet und Frau schwanger, 8 Monat, die haben Bauch geschnitten Kind rausgeholt, auch kaputt geschnitten und dann Frau. Alle Leute sind am Heulen. Leute können nicht essen, trinken, nur am Heulen."
    Alle rufen im Chor: "Hoch die internationale Solidarität."
    Keine validen Quellen
    Das deckt sich mit den Videos, die bei Facebook kursieren. Sie sollen Morde und Vergewaltigungen an "Ungläubigen" darstellen. Nackte Frauen und kleine Mädchen werden unter unvorstellbaren Schreien in Trucks gesperrt, wehrlose Menschen mit Maschinengewehren niedergeschossen.
    Es sind keine validen Quellen. Dass es bereits Morde oder Vergewaltigungen gegeben habe, kann der Zentralrat der Jesiden zum Zeitpunkt der Kundgebung nicht bestätigen. Auch nicht die Sprengung der Talwassersperre, wohl aber die anderen Berichte der Siydos:
    Vor dem Einmarsch hätten sich alle Bewohner der umliegenden Dörfer im Zentrum befunden, von der Armee eingekesselt, habe es keine Chance zur Flucht gegeben, Berichte, dass die Zivilbevölkerung habe fliehen können, seien falsch. Es habe an Nahrung, Trinkwasser und Medikamenten gefehlt. Durch die Verletzten seien die Krankenhäuser überfüllt gewesen. In Bildern und Videos hätten Djihadisten und Islamisten verkündet, in Afrin eine Gottesstadt zu errichten. An den Zentralrat sei nur eins aus Afrin gedrungen: "Helft uns!" Die Menschen dort hätten weder Unterstützung durch den syrischen Staat, noch Russland, Amerika oder Europäische Staaten erhalten.
    Zurück auf der Kundgebung in Köln. Ein syrischer Mann liest aus einer Nachricht, die ihm eine Freundin aus Afrin geschickt habe.
    Da steht: "Die zu erwartenden Opfer übersteigen alles Vorstellbare, denn der türkische Präsident, Erdogan hat erklärt, dass er Afrin säubern will. Dass er dabei den Gruß der grauen Wölfe zeigt, vergleichbar mit dem Hitlergruß der deutschen Nazis, spricht eine eigene Sprache. Die vorgeschobene Erklärung, die Verteidigung gegen terroristische Angriffe, erinnert fatal an die Erklärung der Nazis zum Überfall auf Polen im Jahr 1939."
    Gesänge: "Terrorist Erdogan!"
    An Erdogans Begründung, den Terror – konkret die Kurdenmiliz YPG - in Syrien zu bekämpfen, glaubt auch Rozghar Siydo nicht:
    "Sie meinen wegen YPG - die haben doch gegen ISIS gekämpft! Ganz Europa hat die unterstützt! Und ich wundere mich: Auf einmal, die ganze Welt stellt sich taub und blind."
    Demo-Chor: "Hoch die internationale Solidarität"
    Zentralrat der Jesiden: Keine unangemeldeten Demos
    Um das zu ändern hätten sie am Düsseldorfer Flughafen demonstriert, sagen die Siydos. Inzwischen hat die Polizei Anzeige gegen hunderte kurdische Demonstranten erstattet. Nico Held, IG-Metaller, steht jetzt am Mikrofon und verurteilt das Vorgehen der Polizei scharf:
    "Was der größte Skandal ist, dass hier in Deutschland, die Regierung und die Polizei immer mehr gegen die kurdischen Proteste hier in Deutschland vorgehen und die Kurden, die sich hier gegen das Massaker wehren und Aufmerksam machen, kriminalisiert. Das finde ich ist eine riesige Schweinerei."
    Der Zentralrat der Jesiden distanziert sich von solchen Vorwürfen, vertritt nicht die Meinung, dass Jesiden kriminalisiert würden. Irfan Ortaç, der Zentralratsvorsitzende, gibt eine Stellungnahme zu den Demonstrationen ab.
    Er sagt: "Wir können unsere Proteste kundtun, jederzeit und überall protestieren, wo wir wollen. Wir müssen sie allerdings vorher, wie es das Gesetz vorsieht, anmelden und wenn wir uns nach den Gesetzen verhalten, dann haben wir alle Rechte, so wie jeder Deutsche, jeder Bürger in Deutschland auch."
    Gewalt werde nicht legitimiert und gerechtfertigt und unangemeldete Demonstrationen auch nicht, so Ortaç weiter.
    Zozan Siydo fühlt sich von der Bundesregierung verraten. Wegen der millionenschweren Exportgenehmigungen deutscher Waffen für die türkische Operation "Olivenzweig" in Nordsyrien. Sie steht neben mir und weint.
    Reporterfrage: Wie ist das, hier in Deutschland zu sein und das zu wissen?
    Zozan: "Ich möchte gar nicht in Deutschland bleiben, ich will in meine Heimat zurück! Wenn Deutschland hat am Anfang YPG unterstützt und jetzt auf einmal verkauft an Türkei! (WIRD WÜTEND) Gegen was? Warum? Wir sind Menschen, wir wollen leben, wir wollen nicht unsere Kinder sterben! Wir wollen nicht unsere Mutter weinen, wir sind Menschen wie alle, wie Deutsche, wie Russen, wie jede!"
    Der Veranstalter der Montagsdemonstration Nico Held ruft jetzt zu unparteiischer Solidarität mit den Opfern der Kriege im Nahen Osten auf.
    "Wir als Bevölkerung, ob wir Deutsche sind, Türken sind, Kurden sind, können uns da auf keine Seite stellen, egal ob es die USA sind, die den Irak völkerrechtswidrig angegriffen haben oder ob es die Türkei ist, die jetzt Syrien angreift, ob das Russland ist. Wir müssen konsequent für Freiheit und Demokratie kämpfen."
    Aus 30 sind inzwischen 200 Kundgebungsteilnehmer auf der Domplatte geworden. Man wolle die Versammlung zu einer Demonstration ausweiten und sie nun korrekt bei der Polizei anmelden, sagen die Veranstalter. Zozan und Rozghar Siydo verabschieden sich, ziehen weiter, nach Bonn: zur nächsten Kundgebung. Sie biegen um den Dom, vorbei an den vielen Passanten, die hektisch Richtung Einkaufsstraße laufen. Der syrische Mann ergreift nochmal das offene Mikrofon:
    "Am Ende werden wir uns nicht an die Worte unserer Feinde erinnern, sondern an das Schweigen unserer Freunde. Martin Luther King."
    "Wir haben alles verloren"
    Zwei Wochen später: Allen Protesten zum Trotz, hat die Türkei Afrin eingenommen. Aufnahmen aus dem Stadtzentrum zeigen Plünderungen der Häuser. Laut dem Zenralrat lassen die Eroberer Zivilisten Textlücken aus dem Koran ergänzen, um Nicht-Muslime zu identifizieren. Dr. Irfan Ortaç vom Zentralrat der Jesiden befürchtet ein Massaker an Andersgläubigen, das die Türkei unkontrollierbaren militanten Gruppen zuschieben könne.
    Die Lage ist sehr undurchsichtig. Die Menschen wollen keine Kontakt mehr mit uns aufnehmen. Sie befürchten, dass sie als Informant oder Spion bestraft werden. Jetzt kann die Türkei auch mal zeigen, das ihnen das Leben der Zivilisten der Jesiden und anderen Religionen wichtig ist und dort keine islamistischen Djihadisten angesiedelt sind.
    Von Zozan Siydos Verwandten fehlt weiterhin jedes Lebenszeichen. Von Freunden habe sie gehört, dass die Eroberer den Besitz der Menschen unter sich aufteilten. In einer kurzen Nachricht schreibt sie mir: "Wir haben alles verloren. Unsere Wohnung in Afrin, unsere Olivenbäume. Alles ist weg."