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"Euphoria"
Dreiecksbeziehung zwischen Forschern

Das Leben der amerikanischen Anthropologin Margaret Meads und ihrer beiden Ehemänner liefert die Vorlage für diese emotional-intellektuelle Dreiecksgeschichte. Doch im Roman "Euphoria" werde keineswegs das Schicksal Meads ausgeschlachtet. Lily King animiere wieder einmal dazu, die Werke großer Anthropologen zu lesen, meint unser Rezensent.

Von Martin Grzimek | 19.07.2015
    Die amerikanische Anthropologin Margaret Mead (r.) spricht 1953 auf den zu Papua-Neuguinea gehörenden Admiralitäts-Inseln mit einer Manus-Mutter und deren Kind.
    Die amerikanische Anthropologin Margaret Mead (r.) spricht 1953 auf den zu Papua-Neuguinea gehörenden Admiralitäts-Inseln mit einer Manus-Mutter und deren Kind. (picture-alliance / dpa/DP UPI)
    "Einer von den Mumbanyo warf ihnen noch etwas nach, als sie ablegten. Etwas Bräunliches. Es dümpelte ein Stück hinter dem Einbaum im Wasser. ‚Nur wieder ein toter Säugling', sagte Fen. Sie konnte nicht sicher sein, dass es ein Witz war. Er hatte ihr schon vor einer Weile die Brille zerbrochen. Weit vorn im dunklen Grün der Uferbiegung lag der helle Einschnitt, zu dem das Boot sie bringen würde. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit darauf. Sie sah nicht mehr zurück. Die wenigen Mumbanyo am Strand sangen und schlugen für sie die Totentrommeln. Ab und zu, wenn die stehenden Ruderer, die abwechselnd zum Ufer oder zu anderen Einbäumen hinüberriefen, alle vier gleichzeitig zogen, spürte sie auf der feuchten Haut einen Anflug von Fahrtwind. Dann brannten die nässenden Stellen und spannten sich, wie um rasch ein wenig zu heilen in dem trockenen Luftstoß. Der Wind kam und ging, kam und ging. An den kleinen Aussetzern zwischen Wahrnehmung und Begreifen merkte sie, dass das Fieber wieder stieg."
    Mit dieser Eingangsszene aus dem Roman "Euphoria" von der 52-jährigen amerikanischen Schriftstellerin Lily King befinden wir uns mitten im Regenwald Neuguineas Anfang der 1930er-Jahre. Nell Stone und ihr Ehemann Shuyler Fenwick, kurz Fen genannt, sind amerikanische Anthropologen, die das Leben und die Sitten primitiver Volksstämme untersuchen und sich nach eineinhalb Jahren Forschungen bei den Eingeborenen entschlossen haben, in die USA zurückzukehren. Auf dem Motorboot, das sie nach einer langen Fahrt nach Angoram am unteren Lauf des Sepikflusses bringen wird, befinden sich außerdem noch zwei "weiße Paare" wie es heißt, junge Frauen "in Seide und Perlen" mit ihren Männern, die wohl im Auftrag der Regierung als Bergwerks- oder Plantagenaufseher arbeiten, mitleidig auf das Forscherehepaar schauen und sie ausfragen, ob sie bei den "Menschenfressern" im Busch gewesen waren.
    "Die nächsten viereinhalb Stunden hindurch beobachtete Nell die herausgeputzten Paare, wie sie tranken, stichelten, (...) lachten, sich entschuldigten, auseinanderdrifteten, wieder zusammenfanden. Sie betrachtete ihre jungen, unfreien Gesichter, sah, wie locker die Maske ihres Selbstvertrauens saß, wie leicht sie verrutschte, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Ab und zu hob Tillis Mann den Arm, um auf etwas an Land zu zeigen: Zwei Jungen mit einem Netz, einen Beutelmarder, der wie ein zerlaufener Sack von einem Ast hing, einen Fischadler, der sich auf seinem Horst niederließ, einen roten Papagei, der das Stampfen des Motors nachahmte. Sie versuchte, nicht an all die Dörfer zu denken, die sie links liegen ließen, an die Pfahlhäuser, die Feuerstellen, die Kinder, die im Schilf mit ihren Speeren Jagd auf Schlangen machten. So viele Menschen, die ihr entgingen, so viele Stämme, die sie nie kennenlernen, Wörter, die sie nie hören würde..."
    Unentdecktes Matriarchat Neuguineas
    Nell Stone, die durch ein Buch über junge Frauen auf Samoa, bei denen sie sich zuvor aufgehalten hatte, berühmt geworden war, ist enttäuscht, weil sie mit ihren Forschungen nicht zufrieden sein kann, und zugleich ist sie erschöpft, weil sie unter den Fieberschüben der Malaria leidet. Als sie in Angoram ankommen, wird dort gefeiert: Es ist der Weihnachtsabend, ein christliches Fest mitten in den von heimischen Göttern besiedelten Tropen. Doch zu ihrer Verwunderung trifft sie dort auf Andrew Bankson, einen ebenfalls durch seine Studien berühmten Ethnologen, ein Brite von stattlicher Größe, der allein bei einem Kriegerstamm lebt, unter seiner Isolation und Einsamkeit leidet und auf dem Gebiet der Ethnologie eine Art Rivale von Stone und Fenwik ist. Aber er hat sofort ein Auge auf die ihm attraktiv erscheinende junge Frau geworfen, und es gelingt ihm, die beiden dazu zu überreden, noch eine Weile in Neuguinea zu bleiben. Am oberen Lauf des Sepik, so verspricht er, gebe es an einem See das Volk der Tam, die einzigartige Riten und Lebensformen hätten. Bei den noch nie erforschten Tam nämlich, so stellt sich heraus, haben die Frauen das Sagen über die Männer, die Bräuche und Verhaltensweisen der Geschlechter zueinander sind von einem Matriarchat bestimmt. Nells Forscherdrang ist sofort geweckt, und so fahren sie, Fen und Bankson schon am nächsten Morgen in einem Einbaum den Fluss hinauf in eine völlig abgelegene Urwaldregion, um dort in einem Dorf an einem großen See auf Menschen zu treffen, deren Zusammenleben von Regeln bestimmt ist, die den Forschern bislang völlig unbekannt geblieben sind. Nell ist, wie sie später in ihr Tagebuch schreiben wird, von Anfang an fasziniert.
    "Die Tam-Frauen haben Ehrgeiz und verdienen ihr eigenes Geld. Gut, einen Teil davon geben sie ihren Männern für neue Frauen oder ihren Söhnen als Brautgeld, aber den Rest behalten sie. Sie betreiben den Handel, auch den mit der Keramik der Männer. Und sie bestimmen selbst, wen sie heiraten; die jungen Männer schwänzeln um sie herum wie College- Mädels. Alles steht und fällt mit den Entscheidungen der Frauen. Ich beobachte hier eine faszinierende Umkehr der Geschlechterrollen. Fen, wen wundert's, sieht das anders."
    Protagonistin verkörpert Margaret Mead
    Spätestens an dieser Stelle weiß man, auch wenn man ohne Vorkenntnisse Lily Kings Roman zu lesen begonnen hat, wer in der realen Welt ihren fiktiven Figuren das Gesicht geliehen hat. Nell Stone ist niemand anderer als Margaret Mead, die legendäre amerikanische Ethnologin, die in den 1920er- und 1930er-Jahren das Verhalten eingeborener Stämme auf den Inseln Samoa, Neuguinea und Bali beobachtete. Ihre noch heute lesenswerten Bücher wie etwa die drei Bände über "Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften" wurden damals in den USA und England viel diskutiert, weil sie die als geschlechterspezifisch angesehene Rollenverteilung zwischen Mann und Frau und die damit verbundenen Lebensmuster der sogenannten zivilisierten Welt infrage stellten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Margaret Mead auch bei uns bekannt als Vorkämpferin für die "sexuelle Revolution" und zu einer Ikone der Frauenbewegung. Ihr unkonventionelles Denken äußerte sich auch in der Art ihrer Beziehungen zu Frauen und den drei Männern, mit denen sie verheiratet war. Einer von ihnen war Reo Fortune, unschwer in Nells Ehemann Fen wiederzuerkennen, der andere Gregory Bateson, aus dem Lily King Andrew Bankson machte, und diese Verquickung von Beziehungen ließ sie auf die Idee kommen, zwischen Nell, Fen und Andrew eine Dreiecksgeschichte zu konstruieren.
    "Eine emotionale und intellektuelle Dreiecksbeziehung"
    Lily King:
    "Die Figuren in meinem Roman waren ursprünglich inspiriert von den Anthropologen Margaret Mead, Reo Fortune und Gregory Bateson. Auch wenn ich mir einiges von ihrem Leben und ihren Werken geborgt habe, habe ich eine ganz andere Geschichte erzählt. Hier, was wirklich passiert ist: Ende Dezember 1932 nahmen Mead und Fortune, (...) das zwei Stämme in dem Gebiet, das damals Territorium von Neuguinea hieß, studiert hatten, eine Pinasse den Sepik-Fluss hinauf, um Gregory Bateson zu besuchen. (...) Er sehnte sich unbedingt nach ihrer Gesellschaft und drängte sie, in seiner Nähe am Sepik zu bleiben. Er versprach, einen neuen Stamm für sie zu finden. (...) Die drei verbrachten die nächsten fünf wilden Monate zusammen, verstrickt in einer emotionalen und intellektuellen Dreiecksbeziehung. (...) Als ich den Roman zu schreiben begann, lösten sich meine Figuren bald von ihren realen Vorbildern und entwickelten ihre eigenen Sehnsüchte, Wünsche und Impulse und die Geschichte, die ich erzähle, ist in hohem Maße Fiktion."
    Recherche zum Roman aus zweiter Hand
    Die detaillierte Darstellung des Lebens der Eingeborenenstämme wäre allerdings, so muss man hinzufügen, ohne die Schilderungen, die Margaret Mead davon überliefert hat, kaum denkbar. Auch war Lily King selbst zu Recherchen nie in Neuguinea gewesen und musste sich in ihren Beschreibungen tropischer Natur lediglich auf Material aus zweiter Hand verlassen. Umso erstaunlicher ist es, wie es ihr gelingt, die exotische Umgebung, in der sich ihre Figuren bewegen, ohne Effekthascherei zu veranschaulichen. Schon bei ihren ersten drei Romanen, die bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt sind, lobte die Kritik einhellig ihr erzählerisches Talent und vor allem ihren geschickten Umgang mit den darstellerischen Mitteln der Literatur.
    Letzteres gilt in besonderem Maße auch für den Roman "Euphoria". Denn das erste der insgesamt 31 Kapiteln beginnt im klassischen Stil eines auktorialen, scheinbar anonymen Erzählers, dessen souveräner Stimme man sich gern anvertraut. Wir folgen dabei mit Sympathie Nells Blick, ihren Empfindungen und Gedanken während der Bootsfahrt nach Angoram bis hin zur ersten Begegnung mit dem trotzigen Bankson. Doch dann erfolgt plötzlich mit dem Einsetzen des zweiten Kapitels ein schroffer Perspektivwechsel. Wie aus heiterem Himmel taucht in Erinnerung an den Weihnachtsabend in der Regierungsstation Angoram, als Nell zwischen den angetrunkenen Gästen in dem mit einem Christbaum geschmückten Saal zum ersten Mal auf den ihr nur von seinen Publikationen her bekannten Kollegen Andrew Bankson trifft und ihn aus der Ferne fixiert, völlig unvermittelt der Satz auf:
    Wechsel zum Ich-Erzähler
    "Sie hatte ja keine Brille. Mein Gesicht konnte deshalb kaum mehr für sie sein als ein rosa Kleks unter vielen, doch sie schien mich in dem Augenblick zu erkennen, in dem ich den Kopf hob."
    Auf die Frage, wie sie dazu gekommen sei, plötzlich dieses "ich" in den Roman einzubauen und von da an ihren Protagonisten Andrew Bankson zum Erzähler zu machen, nachdem man sich bereits auf mehr als zehn Seiten an eine gewissermaßen objektive Darstellungsweise gewöhnt und sich in die Hauptfigur Nell Stones eigefühlt hatte, sagt Lily King in einem Interview:
    "Sobald ich das zweite Kapitel mit Banksons Stimme geschrieben hatte, wusste ich, dass es seine Geschichte war, nicht ihre. Es kam mir so viel natürlicher vor, auch viel intimer. Ich konnte ihm auf diese Weise so viel näher kommen, seinem Innersten. Und sobald ich begriffen hatte, dass es seine Geschichte war, musste sich alles, was aus meiner Sicht geschehen sollte, verändern."
    Durch diesen literarischen Kunstgriff versucht Lily King uns Banksons widersprüchliches und von Emotionen geleitetes Wesen näher zu bringen. Einige Tage vor dem Zusammentreffen mit Nell und Fen war er noch fest entschlossen dazu, sich das Leben zu nehmen, doch schon am ersten Weihnachtsfeiertag bringt er die beiden zu dem weit abgelegenen Stamm der Tam, hilft ihnen, sich eine Hütte zu bauen, vermittelt zwischen den Eingeborenen und den Neuankömmlingen und erzählt ihnen Geschichten aus seinem Leben. Endlich, so scheint es, hat er Zuhörer gefunden, die in ihm nicht nur den Anthropologen und Wissenschaftler sehen, vor allem Nell nicht, der gegenüber sich sein Interesse an ihrer Forschungsarbeit nach und nach in Zuneigung und Begehren verwandelt. Der Perspektivwechsel erlaubt es aber Lily King auch, ihr aktuelle "Dreiecksgeschichte", wie sie es nennt, zu verlassen und dem alt gewordenen Bankson eine Rückschau auf den späteren Einfluss weltpolitischer Ereignisse auf die zu jener Zeit noch unter australischem Protektorat stehende Insel und seine eigene Funktion als Ethnologe zu erlauben.
    "Es scheint mir unfassbar, während ich all dies schreibe, dass der nächste Weltkrieg in jener Nacht nur sechs Jahre entfernt war oder das neun Jahre später Australien die Kontrolle über den Sepik und das ganze Mandatsgebiet an Japan abtreten sollte und ich der amerikanischen Regierung erlauben würde, jedes Fitzelchen an Wissen über die Region aus mir herauszuquetschen. Hätten Fen und Nell auch so gehandelt? ‚Anthropologische Beihilfe' nannte das Office of Strategic Services das. Eine sehr schäbige Umschreibung für wissenschaftliche Prostitution. Ende 1942 führte ich eine Rettungsoperation den Sepik hinauf zu diesem Dorf, und hinterher wurden sämtliche Männer und Kinder (...) durch die Japaner umgebracht, als Vergeltung dafür, dass ein paar Olimbi-Männer uns bei der Suche nach drei amerikanischen Agenten geholfen hatten, die in der Nähe des Dorfes gefangen gehalten wurden. Über dreihundert Menschen, niedergemetzelt, nur weil ich wusste, welches Häuflein Pfahlbauten, welches Streifchen Ufersand ihres war."
    Verlorener Schatz nach Indian-Jones-Muster
    Nicht weniger Dramatisches enthält eine andere Nebengeschichte in dem Roman, die nach dem Indiana-Jones-Muster auf der Suche nach einem verlorenen Schatz gestrickt scheint. Dieses Mal steht Fen im Vordergrund, der von einer "heiligen Flöte" weiß, die im Besitz eines Eingeborenenstammes ist und von ihm versteckt gehalten wird. Fen, der unter einer starken Mutterbindung leidet und seiner Frau gegenüber Minderwertigkeitskomplexe hat, will unbedingt dieser Flöte habhaft werden, da sie in der Welt primitiver Völker einen einzigartigen Beweis für eine zu Urzeiten entwickelte Schriftsprache erbringen würde.
    "[Fen] stand auf und trat ans Fenster, spähte nach rechts und links, bevor er sich wieder setzte. ‚Dieses Ding [sagte er] ist absolut einzigartig in der Region. Hunderte von Jahre alt. Groß, mindestens eins achtzig. Und es ist mit Symbolen bedeckt (...), in die ganze untere Hälfte sind Logogramme geschnitzt, die ihre Stammesgeschichten erzählen. (...) Ein Kreis mit zwei Punkten darin. Das heißt Frau. Ein einzelner Punkt, Mann. Dieses V hier mit den zwei Punkten, Krokodil. Großvater, Krieg, Zeit. Alles Logogramme.' (...) [Fen] war ein guter Zeichner. Die Flöte hatte die Gestalt eines Mannes. Sein bemaltes Gesicht war groß und zornig, und auf seiner Schulter saß ein schwarzer Vogel, dessen langer Schnabel im Bogen um den Kopf des Mannes herumreichte und sich mit der Spitze in seine Brust bohrte. Ein Stück unterhalb bleckte ein aufgerichteter Penis. Und darunter, laut Fen, Reihe um Reihe senkrechter Schrift."
    Beginn der emotionalen Dreiecksbeziehung
    Während sich Fen eines Tages zusammen mit einem Eingeborenen auf die Suche nach dieser heiligen Flöte macht, kommen sich Nell und Bankson immer näher, bis sie schließlich miteinander schlafen. Sie heizen sich in ihren Gespräche über die "offene Ehe" oder über die Sexualität und Fruchtbarkeit betonenden Riten der Eingeboren gegenseitig auf. Darüber hinaus bewundert Bankson die Intensität der Arbeit der jungen Amerikanerin, die mit ihren Beobachtungen vor allem der sich in einem Frauenhaus zurückziehenden weiblichen Eingeborenen, zu der kein Mann Zutritt hat, Notizheft um Notizheft füllt. Ein unerwartet mit einem Postschiff eintreffendes wissenschaftliches Manuskript von Helen Benjamin, einer früheren Geliebten und Kollegin Nells, über den "Kreis der Kulturen" führt zu heftigen Diskussionen. Helen geißelt in ihrem Buch ...
    "... die westliche Voreingenommenheit gegenüber den Gebräuchen anderer Kulturen als das größte und schwerwiegendste gesellschaftliche Problem überhaupt. (...) [Sie hatte] klargestellt, dass jede Vorstellung von rassischem Erbgut oder Rassenreinheit unsinnig sei, dass Kultur nicht biologisch weitergegeben werde und das die abendländische Zivilisation so wenig als das Endprodukt einer kulturellen Evolution gelten könne wie das Studium primitiver Gesellschaften als das Studium unserer Ursprünge."
    Auf unaufdringliche Weise fügt Lily King so die verschiedenen Standpunkte der damaligen Anthropologischen Vereinigungen in ihren Roman ein und greift zu einem weiteren literarischen Mittel, um Nells eigene Stimme, die sie sich bei Margaret Mead geborgt hat, zur Geltung zu bringen. Denn Bankson findet später Nells private Notizhefte, die King in den fortlaufenden Text seiner Erinnerungen einstreut, um Nells intime Auseinandersetzung mit den beiden Männern an ihrer Seite und vor allem mit ihrer Arbeit zu dokumentieren. Es ist anzunehmen, dass sich die Autorin dabei eng an Passagen aus Meads Büchern gehalten hat, deren ruhigen Redefluss sie mit erstaunlicher Sicherheit nachvollzieht.
    Im Gegensatz zu ihrer Anlehnung an Margaret Meads Gedanken und Aufzeichnungen, die den ganzen Roman durchziehen, weicht sie, soweit es den Schluss dieses Buches betrifft völlig von der Biografie der Ethnologin ab. Nell trennt sich zwar von ihrem Mann Fen, so wie sich Mead von Roe Fortune trennte, um Gregory Bateson zu heiraten. Bei Lily King hingegen kommt es zu keiner Ehe zwischen Nell und Andrew, da sie die Überfahrt von Sidney nach New York nicht überlebt. So beendet sie ihre Erzählung wiederum nach den klassischen Gesetzen des Romans, die sie souverän beherrscht und durch die diese Liebesgeschichte zwischen drei Forschern weitab der westlichen Zivilisation zu einer unterhaltsamen Lektüre wird.
    Dabei hat sie zwar das Leben und Wirken Margaret Meads als Vorlage benutzt, beides aber in keiner Weise ausgeschlachtet. Im Gegenteil: Der durch seine stilistische Kunstfertigkeit in sich ruhende Roman "Euphoria" animiert dazu, wieder einmal zu den Büchern der großen Anthropologin zu greifen, deren Schriften sich in ihrer bestechenden Einfachheit nichts anderem verdanken als dem Zusammenspiel von Enthusiasmus, Beobachtungsgabe und Erfahrung.
    Lily King:
    Euphoria. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Roth. C.H.Beck Verlag, München 2015. 262 S., 19,95 Euro