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Europa
Albrecht Koschorke: "Hegel und wir"

Von Leander Scholz | 23.02.2016
    Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand. Die Briten denken darüber nach, den Staatenbund ganz zu verlassen. Zwischen dem Süden und dem Norden hat sich ein tiefer Graben aufgetan. Die Rettung Griechenlands ist zu einem Dauerthema geworden. Frankreich ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Und Deutschland wird zugleich bewundert und gefürchtet. Überall Krisen und keine Aussicht auf Besserung. Niemand kann wissen, wie die zahlreichen Flüchtlinge den europäischen Kontinent verändern werden. Und trotzdem scheint keiner mehr so richtig Lust zu haben, sich über die Zukunft des Staatenbundes Gedanken zu machen. Dabei dürfte es für europäische Intellektuelle eigentlich gar kein anderes Thema geben.
    Vor diesem Hintergrund hat sich Albrecht Koschorke die Frage vorgenommen, warum es heute keine große, mitreißende Erzählung mehr gibt, die das europäische Projekt mit neuem Leben erfüllen könnte. Seine Antwort ist sowohl ernüchternd als auch enttäuschend. Das Buch des Konstanzer Literaturwissenschaftlers trägt den schlichten Titel "Hegel und wir". Der Name des großen Philosophen steht stellvertretend für eine Epoche, in der sich erstmalig ein europäisches Selbstbewusstsein formiert hat.
    Demgegenüber steht ein wir, kleingeschrieben, das sich nichts mehr so richtig zutraut. Dieses wir bestaunt, kritisiert oder lehnt die Dichter und Denker um 1800 rundweg ab, aber es weiß vor allem nicht mehr, wie es sie beerben soll.
    So scheint es auch Koschorke selbst zu gehen. Der neidische Blick in die Vergangenheit wirkt müde, außer bekannten Kritikpunkten bringt er keinen Ansatz für eine zukünftige Lösung hervor.
    Dabei erscheint die Fragestellung zunächst vielversprechend. Da die Debatte um ein europäisches Gemeinschaftsgefühl festgefahren ist, schlägt Koschorke vor, sich zunächst einmal die Bedingungen anzuschauen, unter denen die Erzählung vom gemeinsamen Europa schon einmal erfolgreich war. Denn die Dichter und Denker um 1800 hatten es mit ähnlichen Problemen zu tun wie heute. Auch zu dieser Zeit war Europa in keinem guten Zustand und durch die Konkurrenz von Nationalstaaten geprägt.
    Obwohl sich das auf absehbare Zeit nicht ändern sollte, etablierte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Selbstverständnis der europäischen Kultur im Zeichen einer neuen Epoche der Freiheit. Nicht wenige hatten sogar den Mut, trotz der Erstarkung nationaler Interessen den Plan für einen europäischen Staatenbund zu skizzieren, der dann Jahrzehnte später nach der schmerzhaften Erfahrung zweier Weltkriege verwirklicht wurde.
    Ausgangspunkt für die europäischen Intellektuellen um 1800 war die Ansicht, dass es sich bei der Französischen Revolution nicht um eine lokale Begebenheit, sondern um ein welthistorisches Ereignis handelte. Von den vielen Versuchen, daraus ein neues Geschichtsverständnis abzuleiten, stellte Hegels Geschichtsphilosophie den prominentesten und folgenreichsten dar. Sein philosophischer Gang durch die Geschichte versuchte, alle großen Momente einzufangen, die sich als Beitrag zum Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit verstehen ließen.
    Den vorläufigen Höhepunkt bildete das revolutionäre Ereignis von 1789, das ganz Europa verändern sollte. Damit war das große Thema für die europäische Einigung gefunden. Da die wichtigsten Fortschritte weder in Asien noch in Afrika zu verzeichnen waren, sondern sich auf dem europäischen Kontinent ereignet hatten, ließ sich Europa als eine Kultur der Freiheit begreifen, die in dieser Hinsicht allen anderen Kulturen überlegen sein sollte.
    Allerdings wusste Hegel, dass diese Auszeichnung keine dauerhafte war und sah bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den nordamerikanischen Staaten das Land der Zukunft entstehen.
    Heute lässt sich die Geschichte nicht mehr in der gleichen Weise erzählen, weder was den Optimismus angeht, noch hinsichtlich der Vorstellung eines gradlinigen Verlaufs. Um die Einteilungen seiner Darstellung zu rechtfertigen, greift Hegel zudem oft auf Vorurteile seiner Zeit zurück.
    Albrecht Koschorke hat zweifellos Recht, wenn er Hegels Geschichtsphilosophie als eurozentrisch beschreibt. Dabei verkennt er jedoch eine ihrer großen Leistungen, die darin bestand, die europäische Gegenwart gegenüber ihrer eigenen Vergangenheit aufzuwerten. Denn noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein galt den Europäern das Ideal der Antike als unübertroffen. Die selbstbewusste Aussage, dass das moderne Europa der antiken Kultur überlegen ist, war um 1800 keineswegs selbstverständlich. Für die Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts wurde das neue Geschichtsverständnis daher zu einer wichtigen Bedingung, um politische und soziale Forderungen an die Zukunft richten zu können.
    Anstatt der Frage nachzugehen, wie sich heute dieses europäische Erbe antreten lässt, schließt sich Koschorke der postmodernen Einstellung an, dass große Erzählungen inzwischen unmöglich geworden sind. Es gebe kein starkes Thema mehr, unter dem sich das moderne Europa versammeln könnte. Seine Quellen der Überlieferung seien entweder unbrauchbar geworden oder hätten sich erschöpft. Außerdem sei Europa längst aus dem Zentrum der Weltpolitik in eine Randstellung gerückt.
    Vergleicht man diese Angabe von Gründen mit den Schwierigkeiten, vor denen die Dichter und Denker um 1800 standen, kann man den Eindruck gewinnen, dass es hier um eine Rechtfertigung der aktuellen Ratlosigkeit geht.
    Wie zum Trost versichert Koschorke dem Leser zum Abschluss, Europa sei auf keine Erzählung mehr angewiesen und würde aufgrund seiner starken Institutionen auch ohne funktionieren. Mutig wäre es gewesen, an die alte Erzählung von der Kultur der Freiheit anzuschließen und Europa die Rolle eines neuen demokratischen Vorreiters zuzuschreiben, gerade jetzt in der Krise bei dem einzigartigen Versuch, die politische Ordnung der Nationalstaaten zu überwinden. Um das gedanklich bewerkstelligen zu können, hätte sich der Blick auf das beginnende 19. Jahrhundert tatsächlich gelohnt.
    Buchinfos:
    Albrecht Koschorke: "Hegel und wir", Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 239 Seiten, Preis: 26,95 Euro