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Europa
Deutschland und die Krise

Schon lange herrscht Kritik an den deutschen Methoden in der Schuldenkrise. Berlin agiere nicht weitsichtig und belaste die Konjunktur. Was ist dran an solchen Vorwürfen und wie halten es die anderen? Auf diese Fragen geben zwei Autoren ungewöhnliche Antworten. Marcel Fratzscher in seinem Buch "Die Deutschland-Illusion" aus einer ökonomischen Perspektive, Sebastian Schoepp in "Mehr Süden wagen" aus soziokultureller Sicht.

Von Stephanie Lob | 10.11.2014
    "Wenn wir den Aufschwung kaputtsparen, weil wir glauben, jetzt ist die Stunde, den Haushalt einzig und allein zu sanieren, und nicht an die wachstumstreibenden Kräfte zu denken, dann werden wir etwas falsch machen."
    Angela Merkel im September 2009. Das heute fast überraschende Zitat zeigt: Die Bundeskanzlerin hielt nicht immer viel vom allzu strengen Haushalten. Merkels Worte fielen wenige Tage vor der Bundestagswahl, Union und FDP versprachen Steuer-Erleichterungen. Heute hingegen wird Merkel auch als Sparkanzlerin bezeichnet. Sie tritt für eiserne Haushaltsdisziplin ein. Dass die Wirtschaft "kaputtgespart" werde, davor warnen mittlerweile andere. Marcel Fratzscher zum Beispiel. Er leitet seit anderthalb Jahren das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. In seinem Buch "Die Deutschland-Illusion" ruft er die Bundesregierung auf, sich vom Ziel der "schwarzen Null" zu verabschieden - also eines schuldenfreien Haushalts ab 2015.
    "Der ausgeglichene Haushalt ist nicht per se etwas Gutes. (...) Natürlich bauen wir keine neuen Schulden auf – aber weil wir immer weniger in unsere Infrastruktur investieren. Dann ist eine schwarze Null kein Erfolg, sie ist ein Misserfolg."
    Diese These - oder: Anti-These zur Regierungsmeinung - kann man auch im Herbst-Gutachten der führenden Wirtschaftsforschungs-Institute nachlesen. Doch Fratzscher will mehr leisten als einen Beitrag zur Diskussion um die Sparpolitik. In seinem Buch geht es um uns, die Deutschen - unseren Wirtschafts-Patriotismus und unsere Hassliebe zu Europa. Nach Ansicht des Autors geben wir uns drei Illusionen hin:
    "Die erste Illusion ist die, dass die wirtschaftliche Zukunft gesichert sei, weil die Wirtschaftspolitik in Deutschland hervorragend war und ist. (...) Die zweite Illusion liegt im Glauben, Deutschland brauche Europa nicht, und seine wirtschaftliche Zukunft läge außerhalb des Kontinents. (...) Die dritte Illusion ist die Vorstellung, Europa sei nur auf Deutschlands Geld aus."
    Der Professor für Makroökonomie und Finanzen spitzt seine Thesen zum Teil sehr zu. Etwa wenn er schreibt, dass sich Deutschland zwar gerne als ein - Zitat - "europäischer Superstar" sehe. Stattdessen aber gebe es: Straßen voller Schlaglöcher, marode Brücken, verfallende Schulen und Krankenhäuser. Typisch deutsche Schwarzmalerei? Schließlich steht die Bundesrepublik im europäischen Vergleich gut da. Fratzscher:
    "Natürlich haben wir einen tollen Arbeitsmarkt, wir haben eine sehr viel niedrigere Arbeitslosenquote als noch vor zehn Jahren. (...) Aber für viele Menschen ist das Einkommen, die Kaufkraft, der Wohlstand in den letzten zehn bis 15 Jahren gesunken. Sie stehen heute schlechter da."
    Um dies zu ändern, müsse Deutschland zwei Dinge tun, schreibt der Ökonom im zweiten Teil seines Buches, in dem es um Europa geht. Erstens: Aufhören zu glauben, Deutschland sei Opfer der Krisenpolitik. Vielmehr profitiere die Republik wie kein anderes Land von den milliardenschweren Hilfsprogrammen für die Krisenländer:
    "Es waren und sind vor allem deutsche Investoren, deutsche Banken, deutsche Unternehmen und deutsche Privatpersonen, deren Interessen und Investitionen durch diese Politik geschützt wurden."
    Zweitens, fordert Fratzscher: Deutschland müsse investieren. Und zwar nicht nur in marode Straßen und Schulen vor der eigenen Haustür, sondern auch in den verschuldeten europäischen Ländern:
    "Der finanz- und wirtschaftspolitische Spielraum, den Deutschland zurzeit hat, fehlt fast allen andern Ländern der Eurozone. Auch gerade deshalb ist Deutschlands Beitrag so wichtig."
    Schluss mit dem Kaputtsparen, Investitionen wagen: Unter dem Strich überzeugen Fratzschers Ausführungen. Nicht nur, weil er verständlich schreibt. Sondern auch, weil er Erfahrungen aus langjähriger Arbeit in Asien und bei der Weltbank in Washington einbringt. Selbst Wirtschaftsminister Gabriel bekennt im Klappentext, er habe das Buch "mit Gewinn gelesen".
    Von einer ganz anderen Warte blickt Sebastian Schoepp auf Deutschland und die sogenannten Krisenländer. Der Redakteur im Ressort Außenpolitik bei der "Süddeutschen Zeitung" stellt nicht Wirtschaftsdaten in den Mittelpunkt, sondern Mentalitäten und Kulturen. "Mehr Süden wagen" heißt sein Buch, eine Anspielung auf Willy Brandts Wahlkampfslogan: Mehr Demokratie wagen. Schoepp wirbt dafür, die Länder Südeuropas mit ihren Eigenheiten ernst zu nehmen:
    "Der mantrahaft vorgetragene Verweis auf das Vorbild Deutschland genügt nicht. Er zeugt vielmehr von einem besorgniserregenden Mangel an Einsicht in die simple Tatsache, dass Griechenland, Spanien, Italien oder Portugal nun mal nicht Deutschland sind."
    Doch Schoepp geht noch weiter: Mit ihren Werten und Lebensvorstellungen, argumentiert er, könnten diese Länder dazu beitragen, "Europas Burn-out zu überwinden". Von vielen Dingen könnten wir Deutsche lernen. Als Beispiele nennt er die Solidarität und Protestkultur.
    "Ich weiß nicht was bei uns los wäre, wenn wir eine Jugendarbeitslosigkeit von 50 Prozent hätten. Da kann man sich einiges abschauen, wie man für seine Rechte und für seine Träume einsteht. In der Barceloneta, dem früheren Fischerviertel von Barcelona, gehen die Leute jeden Tag auf die Straße, um gegen Spekulation, um gegen die Wohnungspreise und Ähnliches zu protestieren. Bei uns regt sich außer einem gelegentlichen Grummeln nichts, obwohl wir vor ähnlich existenziellen Problemen stehen."
    In seinem Buch spannt Schoepp einen weiten Bogen vom Süden als Sehnsuchtsort in der deutschen Romantik bis zur heutigen Krisenmetapher. Am stärksten ist der Autor dort, wo er weitverbreitete Vorurteile über die Bewohner des Südens infrage stellt. Etwa das über die "verlorene Generation". Er erzählt von jungen Menschen, die die Krise als Chance begreifen, Sprachen lernen, ins Ausland gehen.
    "In Wahrheit ist im Süden eine Generation Umbruch am Werk. (...) Ihr Aufstand drückt die Sehnsucht nach einer neuen Wirtschaftsordnung aus, die den Menschen und seine kreative Arbeit wieder stärker in den Mittelpunkt stellt."
    An einigen Stellen legt Schoepp jedoch zu viel Weichzeichner an. Etwa wenn er behauptet, Rassismus sei den Gesellschaften des Südens wesensfremd. Schade ist auch, dass Griechenland in dem Werk nur am Rande vorkommt. Im Mittelpunkt steht Spanien. Das überrascht nicht, wenn man weiß, dass Schoepp Spezialist für die iberische Halbinsel und Lateinamerika ist, über das er ein ähnliches Buch verfasst hat. Aber es wirkt einseitig. Dennoch lohnt die Lektüre. Wie Fratzscher hinterfragt Schoepp verbreitete Sichtweisen und nennt gute Gründe, warum wir uns nicht zu viel auf unser Lebensmodell einbilden sollten. Wer den Blick vom Nabel Deutschland heben will, dem seien diese Bücher empfohlen.
    Bücher:
    Sebastian Schoepp: Mehr Süden wagen.
    Oder wie wir Europäer wieder zueinander finden,
    Westend Verlag, 256 Seiten, 17,99 Euro
    ISBN: 978-3-86489-070-3

    Marcel Fratzscher: Die Deutschland-Illusion.
    Warum wir unsere Wirtschaft überschätzen und Europa brauchen.
    Hanser Verlag, 277 Seiten, 19,90 Euro
    ISBN: 978-3-446-44034-0