Freitag, 29. März 2024

Archiv

Europa
Eintauchen in die Wirklichkeit des Kontinents

Die Sicht auf Europa, zumindest die Binnensicht, ist in den vergangenen Jahren häufig eine negative. Nach Ansicht von Karl Schlögel hat sich aber ein Netz neuer Verbindungen auf dem Kontinent entwickelt. Und - so seine These - diesem neuen Europa kann keine Krise etwas anhaben.

Von Dirk Auer | 25.11.2013
    Vom Rand aus sieht man manchmal mehr als im Zentrum. Und so ist es ein Osteuropa-Historiker, der dem allgemeinen Gerede von einer Krise und Erschöpfung Europas entgegenhält:
    Es gibt ein Europa, das intakt ist und funktioniert, das aber in dem ganzen Krisendiskurs nicht vorkommt.
    Und dieses intakte Europa freizulegen, ist die Absicht gleich einer ganzen Reihe von Essays und Vorträgen, die Karl Schlögel in seinem neuen Sammelband "Grenzland Europa" zusammenfasst.
    Wenn ich davon spreche, dann nicht, weil ich darin, in diesem Diesseits von Brüssel, die Rettung sehe, den "archimedischen Punkt", sondern weil es zunächst einfach zur Kenntnis genommen werden sollte. Es geht zunächst um nicht mehr als die Ausweitung der Beobachtungszone.
    Womit gleichsam auch schon so etwas wie ein Motto beschrieben ist, das praktisch allen Arbeiten Schlögels zugrunde liegt. Immer geht es darum, etwas zu Gehör zu bringen und die Wahrnehmung zu schärfen, auch für scheinbar Abseitiges. Dabei gilt es zunächst, der westlichen Hybris zu widerstehen, Europa allzu einfach mit der Europäischen Union zu identifizieren. Europa ist mehr als das. Spätestens mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Fall der Mauer hat sich ein gänzlich neuer Erfahrungsraum geöffnet, mit dem alte Koordinaten schlagartig ihre Gültigkeit verloren haben.
    Städte, die jahrzehntelang unerreichbar waren, waren plötzlich in die Nachbarschaft gerückt. Städte und Landschaften, die man nur aus der Literatur, aus Filmen oder aus der familiären Erzählung kannte, waren mit einem Mal erreichbar. Man konnte sich darin bewegen und umsehen. Mit dieser Öffnung änderte sich fast alles: der Erfahrungsraum, der Aktionsradius, die Urlaubspläne und vielleicht sogar die Lebensplanung.
    Aber um zu erkennen, was tatsächlich alles in Bewegung geraten ist, muss man seinen Schreibtisch verlassen und eintauchen in die Wirklichkeit, sich an Orte begeben, die in den eingeübten Diskursen über Europa normalerweise nicht mehr vorkommen. Der Historiker Schlögel hat das schon seit Langem zu seinem Markenzeichen gemacht: Er besucht Grenzübergänge, Busbahnhöfe, Konsularabteilungen und Check-in-Schalter; er studiert Fahrpläne, läuft über Märkte und Basare, verfolgt die Bewegungen der Millionen von Arbeitsmigranten oder der Kulturfestival-Touristen. Für Schlögel sind das Messstationen, an denen deutlich wird: Überall gibt es neue Verbindungen, Vernetzungen, werden Grenzen überschritten, entstehen neue Verkehrsachsen, auf denen Waren und Ideen zirkulieren.
    Europa wird neu gemischt, es bekommt seine rumänische und ukrainische Community in Neapel und Barcelona, seine Russen in Berlin und Stockholm, seine Expat-Communities in Prag und Moskau. Istanbul ist ganz unabhängig von irgendwelchen EU-Beitrittsverhandlungen eine europäische Metropole – man muss nur auf die Flughäfen gehen. Die Pendelbewegungen gehen längst über die Grenzen hinweg.
    Das alles sind für Schlögel Gegenanzeigen zum Niedergang Europas. Schlögel zeigt ein Europa von unten, das sich einfach vollzieht; ein ständiger Austausch aus privatem oder kommerziellem Interesse - oder einfach aus Neugier. Und dieser Austausch ist schon viel weiter, als er auf entsprechenden Konferenzen je proklamiert werden könnte. Folgt man Karl Schlögel, gibt es also keinen Grund zur Panik oder gar Hysterie. Seine 18 Essays, Reden und Aufsätze, von denen die meisten in den letzten fünf Jahren entstanden sind, rufen zur Gelassenheit auf, selbst wenn es um die widersprüchliche Entwicklung Russlands geht: Denn ist es nicht erst einmal unglaublich, fragt Schlögel, wie das Ende der Sowjetunion bewältigt wurde, ohne in den Krieg aller gegen alle abzugleiten? Und in seinen Beiträgen zur Diskussion um eine europäische Erinnerungskultur warnt er vor der Idee, es könne ein Monopol auf Erfahrung oder Definition der Geschichte Europas geben.
    Das Optimum derzeit wäre nicht eine synthetische, wohl auch nur krampfhaft erzählte gemeinsame Geschichte, sondern der Versuch, die verschiedenen Erzählungen zu Gehör zu bringen. Das ist schwer genug, fast unmöglich, denn es ist auch eine Erzählung von Verletzungen und Kränkungen. Eine Geschichte der Zumutungen, eine Polyphonie der Geschichten, streckenweise dissonant und schmerzlich. Wenn die Europäer es aushielten, sich diese ihre Geschichten anzuhören, so wäre das mehr, als man derzeit erwarten kann.
    Die meisten der in "Grenzland Europa" versammelten Texte sind aus einem konkreten Anlass geschrieben, sie sind Wortmeldungen in laufenden Debatten, aber gleichzeitig immer auch bestechende Zeitanalysen mit bleibendem Wert. Manche Redundanzen bleiben dabei freilich nicht aus. Und manchmal stellt sich auch leiser Widerspruch ein: Schaut Schlögel nicht doch etwas zu optimistisch auf die neuen europäischen Wanderungsbewegungen? Anders, als Erasmus-Studenten, setzen sich Armutsmigranten ja nicht deshalb in Bewegung, weil sie von der Neugier auf das entstehende Europa getrieben wären.
    Der Sinn meiner Darlegung kann nicht sein, ein Gegenbild zu entwerfen, eine (zweck)optimistische Version zu geben, ein Antidot zu verpassen gegen den allgemeinen Verdruss, sondern etwas auf die Karte unserer Wahrnehmung einzuzeichnen, um so ein genaueres Bild von den wirkenden Kräften zu gewinnen.
    Es ist dem Autor zugutezuhalten, dass er sich mit abschließenden Urteilen zurückhält. Sein Programm lautet begleitendes Denken, statt falsche Gewissheiten zu formulieren. Das Schwierigste, so hat Karl Schlögel einmal an anderer Stelle erklärt, ist zu sagen, was der Fall ist, besonders in Zeiten, in denen vertraute Koordinaten erschüttert worden sind. In diesem Sinne haben Karl Schlögels Texte einen großen Wert.