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"Europa legalisiert den Zustand meines Lebens"

Ich bin froh, ein Europäer zu sein, das kann ich mit einem klaren Ja beantworten. Es legalisiert gewissermaßen den Zustand meines Lebens, das also an verschiedenen Orten aufgewachsen zu sein und auch heute noch an verschiedenen Orten zu leben. Dass das jetzt auch eine politische Einheit ist, finde ich angenehm.

Von Raoul Schrott | 05.05.2010
    Einem Kind würde ich sagen, dass Europa nichts Geografisches ist, sondern eine Idee, die Idee einer gewissen Kultur, die Idee einer gewissen Auffassung des Menschen. Dem Erwachsenen würde man sich die Dinge natürlich etwas komplexer zurechtlegen, und da würde ich auf mehreren Ebenen die Idee Europas sehen, zum einen, dass es bei uns hier in Europa eine Trennung gibt von Kirche und Staat, die historisch sehr wesentlich ist für die Herausbildung des Individuums, und dass das Europäische eine Tradition ist, die von der Antike über den Humanismus bis hinauf zur Aufklärung den Menschen und einen bestimmten Aspekt des Individualistischen in den Vordergrund stellt. Und das ist eine Kultur und Geistesgeschichte, in der ich groß geworden bin, in der ich mich zufrieden fühle, in der wir uns eigentlich von allen anderen umgebenden Kulturen abheben, auf positive und auf negative Art, aber das ist, glaube ich, unsere europäische Eigenheit.

    Dazu ist die Idee Europas zu abstrakt, als dass sie mir ans Herz wachsen würde. Ich meine, das Schöne daran ist, dass es aussieht, dass wir die Anlässe für Kriege zumindest im Kerneuropa durch diese politische Konstruktion oder vor allen Dingen durch diese ökonomische Konstruktion beseitigt haben, das ist etwas Angenehmes. Aber richtig ans Herz gewachsen ist mir dabei sicherlich nichts, vor allen Dingen, weil es mir einfach zu selbstverständlich erscheint.

    Ich wüsste jetzt nicht zu diagnostizieren, was schief liegt, das wäre eine politisch-ökonomische Frage. Aber ich finde die Idee Europas selbst - über ihre lamentable Bürokratie, die so weit weg und so weit abstrakt ist - doch ein positives Gegenmittel zu den ganzen nationalistischen Tendenzen, die wir ja im Übermaß immer noch haben. Man braucht ja nur die Nachrichten anzuschalten um zu sehen, dass der größte Block der Nachrichten immer national ist, in deutsche, österreichische, schweizerische etc., wo das europäische 10, 15, 20 Prozent nur ausmacht im Grunde genommen. Dass es diese europäischen Institutionen trotz all ihrer Anonymität gibt, finde ich bislang ein positives Gegengewicht.

    Die Idee Europas ist aber insofern auch noch eine ganz interessante, weil sie letztlich eine paradoxale ist. Die größeren, nationalen Grenzen werden dadurch aufgelöst, in einer europäischen Einheit quasi integriert, aber das, was dadurch auf positive Art und Weise geschehen kann, ist, dass die Minderheiten mehr zum Vorschein kommen. Und das ist etwas, was mich sehr, sehr interessiert, weil dadurch die Rätoromanen, die Kaschuben, die Rutenen, all diese kleinsprachlichen Dinge, die eigentlich die Keimzelle und Kernzelle von Kultur sind, dadurch mehr Freiheit erhalten. Das ist eines der vielen positiven Dinge, die Europa gebracht hat.

    Einen Erinnerungs-Ort weniger, als dass ich eigentlich zwei verschiedene symbolische Orte für Europa sehe. Zum einen ist die Idee Europas etwas, von der Idee her etwas so Insulares wie England beispielsweise, und es ist kein Wunder, dass die frühesten zivilisatorischen Errungenschaften wie das Habeas Corpus aus England kommen. Zum anderen, symbolisch gesehen, aber ist Europa für mich nicht diese Landzunge, sondern viel mehr Gibraltar oder der Bosporus, weil ich Europa nur als das nördliche Teil des Ufers sehe, das das Mittelmeer umgibt. Für mich ist die Idee Europas wesentlich davon abhängig, dass es ein Mittelmeer gibt, das eigentlich zentral ist, um das die Ideen und Kulturgüter seit Jahrtausenden gewandert sind. Man braucht nur an die Antike zu denken, wo aus dem assyrischen Raum, aus dem ägyptischen Raum sehr, sehr viel nach Norden wanderte. Man kann ans Mittelalter denken und sich daran erinnern, dass das, was wir schreiben, arabische Zahlen sind, dass Worte wie "Chemie" und "Mathematik" aus dem Arabischen kommen, dass also Ideen permanent rund um das Mittelmeer gewandert sind. Und das Europäische ist dieser nördliche Teil daran, dieses nördliche Ufer, und das zu sehen, dass am Bosporus die Schiffe hin- und herfahren in beide Richtungen, nicht nur die beiden Landmassen miteinander verbinden, sondern auch weiterfahren in andere Meere, das ist eigentlich das Bild, das ich von Europa habe, dieser Schiffsverkehr, dieser Güterverkehr von Ideen.


    Kurzbiografie:
    Raoul Schrott, geboren 1964 in Landeck, Österreich, nach anderen Angaben auch in São Paulo oder auf einer Schiffsreise zwischen Brasilien und Europa. Er wuchs in Tunis, Zürich und Landeck auf und studierte Literatur- und Sprachwissenschaft in Norwich, Paris, Berlin und Innsbruck. 1986-87 war er Sekretär des surrealistischen Schriftstellers Philippe Soupault in Paris, danach promovierte er 1988 über "Dadaismus 1921 und 1922".

    Ende der 1980er-Jahre veröffentlichte Schrott erste Gedichte und lebte dann als Lektor für Germanistik in Neapel. Anschließend ließ er sich als freier Schriftsteller im südfranzösischen Seillans nieder und übertrug Literatur aus dem Okzitanischen, Bretonischen, Baskischen und Korsischen. Für seine eigenen Gedichte aus dem Zyklus "Hotels" (1995) erhielt Schrott den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt. Sein Romandebüt, "Finis Terra", erschien im selben Jahr. Darin beschreibt er die fiktive Reise eines Archäologen durch die von Touristen verwüsteten Landschaften Westeuropas. 1997 habilitierte Schrott am Institut für Komparatistik in Innsbruck über vergleichende Poetik. Im dem Jahr gelang ihm auch ein Bestseller mit der Lyrikanthologie "Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren". In seinem nächsten Gedichtband, "Die Tropen. Über das Erhabene" (1998), erkundete er die natürliche und wissenschaftliche Welt mit den Mitteln der Lyrik. Dafür erhielt er viel Lob und den Peter-Huchel-Preis 1999. Schrott gilt als einer der vielseitigsten unter den österreichischen Autoren seiner Generation und wird gleichermaßen geschätzt als Romancier und Lyriker, wie als Übersetzer, Poetologe und Dadaismusforscher. Er erhielt zahlreiche Förderungen und Preise und war Gastdozent in Kiel und Zürich. Zuletzt erschienen seine Übersetzung der "Ilias" und im Zusammenhang damit "Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe" (beide 2008). Darin stellte Schrott die heftig debattierte These auf, der Schauplatz der Ilias läge nicht in Troja, sondern in Kilikien.
    Raoul Schrott lebt bei Cork in Irland.