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Europa und die besondere Art von liberaler Demokratie

Jan-Werner Müller beschreibt das 20. Jahrhundert als ein Jahrhundert der Ideologien. In seinem Werk geht der Autor ideengeschichtlich vor: Er schildert Ideologiekonzepte und bewertet ihre historische Umsetzung.

Von Rainer Kühn | 11.02.2013
    Die oft gestellte Frage, wie Ideengebäude, also etwa Pluralismus oder Liberalismus, die politische Entwicklung beeinflussen? Das treibt auch den in Princeton lehrenden Professor für "Politische Theorie und Ideengeschichte", Jan-Werner Müller an. Gerade für das letzte Jahrhundert hebt er hervor, dass

    …politische Ideen eine ungewöhnlich wichtige Rolle zu spielen schienen … Folglich wird das 20. Jahrhundert häufig als ein "Zeitalter der Ideologien" interpretiert. Aus dieser Perspektive erscheinen Ideologien als Formen eines leidenschaftlichen, mitunter fanatischen Glaubens an Ideen und Entwürfe zur Perfektionierung der Gesellschaft.

    Schreibt Jan-Werner Müller in seinem 2011 in den USA erschienenen Buch "Das demokratische Zeitalter", das jetzt auf Deutsch erschienen ist. Mit ihm legt der Wissenschaftler einen Überblick über die europäische politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts vor. Warum kam es zu dieser Fülle an – wie er schreibt – "Sinn und Erlösung stiftenden" "gottlosen Religionen"; wie etwa dem "Personalismus" oder dem "Imperialismus"? Müller sieht hier das Ende des Ersten Weltkriegs als entscheidend an. Danach, so der 1970 geborene Ideenhistoriker, drängte sich die Frage nach Begründung politischer Macht geradezu auf. Mit dem "Eintritt der Massen in die Politik" ging die…

    … Notwendigkeit massenhafter Rechtfertigung … einher … - die Notwendigkeit also, Herrschafts- und Institutionsformen zu rechtfertigen … Die Menschen … hatten ein Bewusstsein dafür, dass … Neues Einzug gehalten hatte, dass dies ein Zeitalter des Produzierens (und Konsumierens) politischer Glaubenslehren war.

    Was aber sind "Ideologien"? Müller gibt hier wenig aufklärende Hilfestellung und belässt es bei der Charakterisierung als "politische" oder "gottlose Religion"; ganz so, als hätte es etwa den Soziologen Karl Mannheim nie gegeben. Wie dem auch sei: Allen Ideologien gemeinsam war, dass sie sich auf Volk und Demokratie als Grundlage für politisches Handeln beriefen, wenn auch jede Gedankenschule, wie etwa der Faschismus oder der Kommunismus, etwas anderes darunter verstand. Die 1918 etablierte liberale parlamentarische Form der Demokratie stand somit von Beginn an in Konkurrenz zu anderen Konzeptionen der "Herrschaft des Volkes"; sie war, wie der amerikanische Originaltitel von 2011 hervorhebt, eine "Contesting Democracy", also eine "umkämpfte" Politikform. Dieses Spannungsverhältnis - liberale Demokratie und ideologische Alternativangebote - verfolgt Müller, um die…

    … Illusion zu zerstreuen, dass die liberale Demokratie der Sollzustand Europas oder des Westens insgesamt ist.

    Dazu geht der Autor "ideengeschichtlich" vor; er zeichnet also Konzeptionen, wie "Parlamentarismus" oder "Feminismus" gemäß ihrem historischen Erscheinen nach. Zunächst erarbeitet Müller anhand der Darlegungen des Soziologen Max Weber eine Blaupause für "legitime Herrschaftsformen" und für die Beweggründe, die Berufspolitiker in ihrem Handeln bestimmen. Auf beides nimmt Müller immer wieder Bezug, um die einzelnen politischen Vorschläge in ihrer Praxistauglichkeit zu beurteilen. Im zweiten Kapitel widmet sich Müller dann den von ihm als "Experimente" bezeichneten Ansätzen der Zwischenkriegszeit, etwa dem Austromarxismus oder den Gedankengängen von Lukács, Bloch oder Gramsci. Und er stellt im dritten Kapitel italienische faschistische und deutsche nationalsozialistische Ideologieversatzstücke vor, etwa den Philosophen Giovanni Gentile. Das im vierten Kapitel beleuchtete "Denken im Wiederaufbau" sieht Müller von der christdemokratischen Bewegung geprägt; Adenauer, de Gaulle und Wilson werden zitiert.

    Abgesehen von Großbritannien – und Skandinavien … war die westeuropäische Nachkriegsordnung das Werk gemäßigt konservativer, vor allem christdemokratischer Kräfte. Müsste man eine einzige ideelle und parteipolitische Bewegung benennen, die jene politische Welt geschaffen hat, in der die Europäer heute immer noch leben, dann wäre dies die Christdemokratie.

    Müller zeigt, dass dieses Denken wiederum herausgefordert wurde durch die "Kulturrebellion" der 68er, denen sich der Autor im fünften Kapitel zuwendet. Während in dieser Zeit dem Staat erheblich viel abverlangt wurde, kam es, laut Müller, anschließend zur Formulierung einer "Antipolitik": Der Neoliberalismus trat ein für einen "starken Staat", der sozialstaatliche Ansprüche und wirtschaftliche Forderungen abschmettern und sich aus der Gesellschaft heraushalten sollte. Damit, im Jahr 1991 angekommen, sieht Müller das Spektrum an ideologischen Konzepten für ausgereizt an.

    Zweifellos gibt es kein Ende der Ideologie, solange es Menschen gibt … Aber diese spezielle Zeit der Ideologien ist vorbei… Deutet dies auf … Erschöpfung des politischen Vorstellungsvermögens hin? Die naheliegende … Antwort ist, dass es sich um ein Zeichen von Pragmatismus handelt: Es … herrscht weniger Druck, die eigenen Vorschläge in den Mantel weltgeschichtlich wirksamer Ideen zu kleiden."

    Stimmt das? Zeigt uns nicht etwa die Volksrepublik China, dass sich für moderne, marktradikale, technologisch hochgebildete Köpfe auch passgenaue Ideologienhüte schneidern lassen? Oder dass etwa die linksgerichteten Politikvisionen in Ländern Südamerikas auf etwas ganz anderes aus sind, als darauf, das europäische Vorbild der parlamentarischen Demokratie zu kopieren? Jan-Werner Müller würde wohl auf seinen ideologischen Ziehvater Max Weber verweisen, den er mit dem Hinweis zitiert, dass…

    …der Kapitalismus eine Verwandtschaft nur mit der Bürokratie und nicht mit der Demokratie habe.

    Müller ist mit seinem Werk ein grandioser Wurf geglückt, auch weil es ihm gelingt, das Buch in der Gegenwart zu verankern. Mehrfach stellt er heraus, dass westliche Verfassungsordnungen Resultate der Krieges und des Totalitarismus sind, und dass das…

    …was sich in Europa durchsetzte, eine besondere Art von liberaler Demokratie war – eine, die viele der im Laufe des 20. Jahrhunderts formulierten demokratischen Ideale nicht erfüllte.

    Der Autor will offensichtlich den Sinn dafür schärfen, dass alternative demokratische Formen möglich sind, und etwa beim europäischen Einigungsprozess auch gefunden werden müssen. Dass ein Überblick über das Denken eines so komplexen Zeitalters Widerspruch zu Einzelheiten provoziert - geschenkt: Müller muss einige Konzepte und Autoren hervorheben – und andere vernachlässigen: Keynes, Valéry, Masaryk, Musil, Marx, Engels, Naumann, Lenin, Schmitt, Mussolini, Hitler, Gierke und…und…und bis hin zu Rushdie, Chomeini, Bracher… Alle tauchen auf – bis Johannes Paul II. Dass so viele Theoretiker genannt werden, hat nichts mit "name-dropping" zu tun. Zudem werden auch nur einzelne Denker exemplarisch für ihre Denkschule ausgewählt und eingehender dargestellt - und das mit großer Souveränität. Da der Ideengeschichtler sehr anschaulich und verständlich zu schreiben vermag und mitunter auch witzige Bemerkungen einfließen lässt, macht die Lektüre: einfach Spaß.

    Jan-Werner Müller:
    Das demokratische Zeitalter: Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert". Suhrkamp Verlag, 519 Seiten, 39,95 Euro

    ISBN: 978-3-518-58585-6