Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Europa
Vor zehn Jahren wurde Montenegro unabhängig

Vor zehn Jahren entschied sich das kleine Land Montenegro bei einem Volksentscheid mit knapper Mehrheit für die Trennung von Serbien. Damit war die Frage der Unabhängigkeit entschieden, aber nicht die Frage der Identität.

Von Norbert Mappes-Niediek. | 03.06.2016
    Flagge Montenegro
    Am 3. Juni 2006 wurde die Unabhängigkeit von Montenegro erklärt. Zwei Wochen davor gab es eine Volksabstimmung. (imago/ITAR-TASS)
    Es ist der zweitjüngste Staat Europas, wird aber über den jüngsten, das Kosovo, gern vergessen. Dabei ist das kleine Montenegro auch nur zwei Jahre älter als das größere und bekanntere Nachbarland. Zwei Wochen vor der Unabhängigkeitserklärung am 3. Juni 2006 hatte eine Volksabstimmung ein denkbar knappes Ergebnis erzielt. 55 Prozent der Einwohner mussten für die Unabhängigkeit stimmen, damit die Europäische Union das Ergebnis anerkennen würde. Ganze 2.000 Stimmen gaben schließlich den Ausschlag. Die Frage Unabhängigkeit Ja oder Nein war damit entschieden. Aber die Brüche und Spaltungen in der Gesellschaft blieben bis heute bestehen.
    "Diese Spaltungen sind vielleicht nicht mehr so stark. Sie haben sich aber verlagert, und zwar auf die Ebene der Identität. Es geht nicht um die Frage: Unabhängigkeit oder nicht. Die stellt heute kein ernsthafter Politiker mehr infrage", erklärt der Politikforscher Zlatko Vujović, der in der Hauptstadt Podgorica ein eigenes Institut unterhält.
    Nicht mehr um das, was man wollte, ging fortan der Streit: die Unabhängigkeit oder die Föderation mit dem zwölf Mal so großen Nachbarn Serbien, sondern um die Frage, was man denn nun eigentlich sei: Montenegriner oder Serbe. Beide Nationen sprechen dieselbe Sprache, beide sind orthodox. Außer dem nationalen Bekenntnis, das bei Volkszählungen dann auch regelmäßig festgehalten wird, sind Unterschiede nicht zu erkennen.
    "Es ist schwer, zu erklären, aber es kann sein, dass in einer Familie Vater und Mutter Montenegriner sind, von den Kindern ist aber eines Montenegriner und das andere Serbe."
    Aus einem politischen Streit wurde einer um das nationale Selbstverständnis. Zwei verschiedene Völker aber, das heißt zwei Nationen, wurden nicht daraus. Wer sich selbst für einen Serben hält, der hält vielmehr auch alle anderen Montenegriner für Serben – und umgekehrt.
    Dieselben Sorgen
    Ansonsten haben alle, Montenegriner wie Serben, dieselben Sorgen: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, im gebirgigen Norden leeren sich ganze Landstriche, weil die jungen Leute Arbeit im Westen suchen. Mit seiner attraktiven Adriaküste steht Montenegro wirtschaftlich etwas besser da als der serbische Nachbar und ist unter den sogenannten Restbalkan-Ländern, die noch nicht in der EU sind, sogar knapp die Nummer Eins. Das gilt auch für den EU-Beitritt: Nimmt man den Stand der Verhandlungen zum Maßstab, dürfte Montenegro irgendwann das erste Land sein, das nach langer Pause wieder beitreten darf.
    Als Musterschüler allerdings wird das junge Montenegro in Brüssel eher nicht gehandelt. Seit Langem hagelt es von der Opposition Beschwerden über Druck auf die Medien, über Korruption und vor allem über die Machtkonzentration beim Regierungschef. Der heute 54-jährige Milo Djukanović regiert das Land schon seit einem Vierteljahrhundert, mal als Premier, mal als Präsident, immer aber als Vorsitzender der übermächtigen Regierungspartei. Er war es, der Montenegro in die Unabhängigkeit führte. Seinem Bruder gehört die wichtigste Bank im Land, seine Schwester betreut als Wirtschaftsanwältin so gut wie alle Investoren. Das kleine Land ist leicht zu lenken: Alle haben an derselben kleinen Universität studiert, die meisten sind auf dieselben Schulen gegangen: Montenegro ist nicht viel größer als Luxemburg.
    Verflochtene Beziehungen
    Wo jeder jeden von klein auf kennt, sind unabhängige Urteile, unabhängige Kontrolle so gut wie nicht zu haben - und wo alle Politik von privaten Beziehungen getönt ist, sind die Debatten besonders scharf und gehässig. Aber der allgegenwärtige Korruptionsvorwurf ist vielleicht nicht ganz so ernst zu nehmen, wie es in einem größeren Land der Fall wäre, meint der Politologe Vujović:
    "In einer kleinen Gemeinschaft herrschen sehr verflochtene Beziehungen, nicht nur in der Politik, auch in Finanzfragen, im Bankenwesen und so weiter. Damit sieht es so aus, als wären wir hier sehr korrupt. Aber weil die Gesellschaft so klein ist, ist auch alles, was wir tun, für die anderen durchsichtig. Schauen Sie, wie viele Studenten werden an einer amerikanischen Universität wohl nur deshalb eingeschrieben, weil ihre Eltern mit dem Dekan oder mit dem Direktor befreundet sind, ganz gleich, welche Noten sie mitbringen? Bei uns heißt das Korruption. Dort nennt man es Beziehungen."