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Europäische Chemikalienagentur ECHA
Wird die EU-Chemikalienrichtlinie REACH zu lasch umgesetzt?

Seit zehn Jahren soll das EU-Chemikaliengesetz REACH Menschen und Umwelt vor giftigen Stoffen schützen. Die europäische Chemikalienagentur ECHA hat festgestellt, dass benötigte Dossiers über gefährliche Stoffe für eine Lizenz zur Vermarktung lückenhaft sind. Kritiker bemängeln, dass das Gesetz zu lasch umgesetzt werde.

Von Ralph Ahrens | 12.06.2017
    Eine Chemieglasflasche mit einem Aufkleber für "giftig" und einem Totenkopf-Symbol
    Die europäische Chemikalienagentur, ECHA, hat jetzt 184 solcher Dossiers über gefährliche Stoffe geprüft. (picture alliance / dpa - Fredrik Von Erichsen)
    Die EU hat das weltweit strengste Chemikaliengesetz: Einmalig ist etwa, dass Chemiefirmen für Substanzen eine Lizenz zur Vermarktung brauchen: eine Registriernummer. Um diese zu erhalten, müssen sie in Dossiers klar sagen, wie gefährlich diese Substanzen sind. Doch viele dieser Berichte sind lückenhaft. Die europäische Chemikalienagentur, ECHA, hat jetzt 184 solcher Dossiers über gefährliche Stoffe geprüft. Das Ergebnis erschreckt ECHA-Direktor Geert Dancet. In 90 Prozent vermisst er wichtige Informationen.
    "Ja, einige Firmen verzichten einfach auf Tests. Diese sind aber wichtig: Mit ihnen lässt sich prüfen, ob eine Chemikalie langfristig etwa die menschliche Gesundheit gefährdet."
    So prüften Firmen oft nicht, ob eine Substanz die Entwicklung eines Kindes im Mutterleib schädigen kann. Sie sparen so Geld: Denn ein Rattenversuch, um die vorgeburtliche Wirkung einer Substanz zu prüfen, kostet 70.000 Euro und mehr.
    "Doch ohne solche Daten können Risiken nicht vernünftig abgeschätzt werden. In der Folge könnten Arbeiter und Verbraucher gefährlichen Chemikalien unnötig ausgesetzt sein."
    Jetzt dürfen diese Firmen ihre regelwidrigen Dossiers nachbessern. Die Chemikalienagentur ECHA sei aber zu nachsichtig, glaubt Alice Bernard von Client Earth, einer Organisation von Juristen in Brüssel, die die Umwelt schützen möchten.
    "Schauen Sie auf die Sprache der ECHA: Sie empfiehlt, Vorgaben einzuhalten. Doch die Chemikalienverordnung ist ein Gesetz. Wir fürchten, dass Unternehmen, die keinen Druck verspüren, oftmals eher weniger in die Sicherheit von Menschen und Umwelt investieren."
    Lizenzentzug die Ultima Ratio
    Statt nachsichtig zu sein, sollte ECHA den Firmen Dampf machen und damit drohen, die Lizenz zum Verkauf ihrer Stoffe zu entziehen. Diese Möglichkeit kennt auch Geert Dancet.
    "Dann können wir – am Ende – eine Registrierung zurückziehen."
    Für den ECHA-Direktor ist der Lizenzentzug die Ultima Ratio. Juristin Bernard bezweifelt aber, dass er die Drohung ernst meint. Denn bei Sicherheitsfragen werde öfter mit Datenlücken locker umgegangen. Ein Beispiel: Der Weichmacher DEHP schädigt die Fruchtbarkeit und darf nicht mehr neu verwendet werden. Doch die EU-Kommission erlaubt – auf Empfehlung der Chemikalienagentur – drei Firmen, Kunststoff mit diesem Weichmacher zu recyceln, obwohl deren Zulassungsanträge Lücken aufwiesen. Alice Bernard:
    "Risiken für die Arbeiter wurden unzureichend bewertet. Geprüft wurde auch nicht, ob es Alternativen gibt. Und: Es darf keine Zulassung geben, fehlen diese Informationen."
    ClientEarth hat daher die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt. Die Organisation will den grundsätzlichen Charakter des Zulassungsverfahrens retten.
    "Das Zulassungsverfahren soll ein Anreiz sein, harmlose Alternativen zu entwickeln und zu nutzen. Erlaubt die Kommission trotz Datenlücken die Verwendung, widerspricht dies der Logik des Verfahrens. Deshalb kämpfen wir gegen solche Entscheidungen."
    Doch Geert Dancet, Direktor der ECHA, versucht, zu beruhigen:
    "Wir lassen die Firmen nicht lang in Ruhe. Wir werden uns bald wieder mit diesen Dossiers befassen."
    Zulassungsanträge müssen regelmäßig aktualisiert werden
    Denn auch, wenn Zulassungen unbegrenzt gelten, müssen Firmen ihre Zulassungsanträge regelmäßig aktualisieren. Im Falle des Weichmachers DEHP bis August. Und dann kann ECHA möglicherweise eine andere Empfehlung aussprechen, so Geert Dancet.
    "Hier muss man wissen, dass diese Substanz, als wir 2014 die Empfehlung aussprachen, noch nicht offiziell als hormonell wirksam galt."
    Doch ob und wie schnell die EU nach solch einer Empfehlung die Zulassung zurückzieht, ist offen. Umweltjuristin Bernard fürchtet, EU-Staaten werden solche Entscheidungen immer wieder hinauszögern, damit Firmen länger an gefährlichen Chemikalien verdienen können – auf Kosten von Menschen und Umwelt.