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Europäische Frauenschicksale

Einakter führen ein Außenseiterleben in der Oper. Als einzelnes Werk für zu leicht befunden, werden sie gern mit anderen Stücken kombiniert. Unter dem ergiebigen Motto "Frauenschicksale" stellte in Wien Stephen Lawless Tschaikowskys letzte Oper "Iolanta" neben Sergei Rachmaninows "Francesca da Rimini".

Von Frieder Reininghaus | 20.01.2012
    Opern, die vom Wegschließen von Frauen durch Männer handeln, finden sich in der Geschichte des Musiktheaters ziemlich häufig: Im Theater an der Wien mag einem Mozarts "Entführung aus dem Serail" in den Sinn kommen oder "Die Zauberflöte", die an dieser Stelle uraufgeführt wurde. Aber auch andere klassische Werke wie Rossinis "Barbier von Sevilla", der Antonia-Akt in "Hoffmanns Erzählungen" von Jacques Offenbach oder Verdis "Rigoletto" (in dem der Hofnarr seine Tochter am Ende einer finsteren Gasse den Blicken der Männerwelt vorenthält); in sämtlichen "Blaubart"-Opern von Gretry über Bartók bis Franz Hummel geht es um Frauen, die ihrer Freiheit beraubt werden, und um eine radikale, tödliche Form des Wegschließens in sämtlichen "Antigona"-Tragödien des 18. Jahrhunderts (so auch zuletzt in der 2009 uraufgeführten "Proserpina" von Wolfgang Rihm).

    Auch in Peter Tschaikowskys "Iolanta" ist die weltabgeschiedene Verwahrung der blinden, aber über ihr Gebrechen nicht aufgeklärten Titelheldin zunächst ein Problem. Zunehmend drückt es auf die Mitleidsdrüse. Mit reichlich philosophisch-religiöser Erörterung von Schuld und Sühne sowie mit einer kräftigen Prise Esoterik nimmt die schauderhaft banale Geschichte der blinden provenzalischen Königstochter eine freundliche Wendung.

    Durch die spontane Verliebtheit eines burgundischen Grafen und die glückliche Hand des maurischen Arztes findet sie ein Happy End. Stephen Lawless inszeniert die anachronistische Ritterromantik in russischer Zuckerbäcker-Dekoration – der mediterrane Garten wurde in einer Halbkugel angelegt, ganz in Weiß und in russischen Winter getunkt. Die Herren kommen in Pelzmänteln und Uniformen der Ära Nikolaus II., mitunter sogar auf Skiern.

    Vassily Sinaisky, ein Handwerker alten Schlags, dirigiert mit routinierter Schlagtechnik und aller erdenklichen Aufmerksamkeit für die Details. Manche schöne Stelle, deren Melodie er den Celli oder Holzbläsern entlockt, gerät zum Schluchzen schön. Dem Ende zu gleitet die stark süßlich parfümierte Musik allerdings ins unbeholfen Grobe aus – Sinaisky geleitet mit Inbrunst in Zonen des Russisch-Orthodoxen und der krassen Zarentreue, die an Schmerzgrenzen rührt. Brächen da nicht im letzten Moment ein paar Rotgardisten herein, die dieser Gespensterstunde der Impertinenz ein jähes Ende bereiteten, müsste ein Verfahren gegen die Veranstalter wegen Verherrlichung von terroristischer Gewalt in Erwägung gezogen werden.

    Mit dem Einsatz der Revolutionsbrigadisten verknüpft der Regisseure recht geschickt die lärmende Verklärung des Lichts der Schöpfung mit dem Weg in die Finsternis – zur Konquistadoren-Gattin Francesca und deren Liebhaber Paolo, dem Bruder und Lockvogel des Militärmachthabers, die beide einen "Fehltritt" nicht nur mit den Leben bezahlten, sondern darüber hinaus mit ewigen Höllenqualen. Rachmaninows Musik zu Dantes und Vergils Abstieg ins Inferno ist um Klassen professioneller und moderner als Iolantas Kaiserschmarrn. Dass die beiden Einakter antipodisch aufeinander bezogen werden, hebt die Inszenierung durch die Umgruppierung der Bühnenbildelemente hervor: das Hinterste kommt nach vorn.

    Die gleichen Sänger stemmen in beiden Werken mit Stentor-Stimmen spätrussische Pracht in die Halle, in der sie tunlich nur halb so viel Kehlkraft einsetzen sollten. Dmitry Belosselesky dröhnt sowohl die Partei des Königs René wie die des Warlords Lanceotto, Saimir Pirgu die des jugendlichen Liebhabers der keuschen wie der begehrlichen Sorte. Sein ostsibirischer Begattungsschrei dringt durch Bein und Mark. Pirgu balgt sich dazu auf einem Bibliothekstisch mit Olga Mykytenko, die als züchtig-folgsame höhere Tochter auch zu sehr forciert, im Spiel der Verführung vorteilhaft aufblüht.