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Europäische Medien in der Flüchtlingskrise
"Wir leben irgendwie parallel"

Seit mehr als 60 Jahren ist die Eurovision-Fanfare der Inbegriff europäischer Medienzusammenarbeit, der Eurovision Song Contest das Vorzeigeprojekt. Doch darüber hinaus hat sich kein wirkliches europäisches Medienprojekt langfristig durchsetzen können. Ist das ein Problem? In Zeiten, in denen das politische Projekt Europa mehr denn je auf dem Prüfstand steht, auf jeden Fall ein paar Gedanken wert.

Von Brigitte Baetz | 19.09.2015
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    Das Aushängeschild gemeinsamer europäischer Medienarbeit: der Eurovision Songcontest. Hier im Bild: die Siegerin des Jahres 2014, Conchita Wurst. (dpa/Vladimir Astapkovich)
    Ulrike Gúerot, Politikwissenschaftlerin und Leiterin des European Democracy Lab glaubt, dass Europa sich längst neue Formen von Teil-Öffentlichkeiten geschaffen hat. Selten zuvor, sagt sie, habe es ein so großes Interesse an europäischen Themen gegeben wie gerade jetzt. Selbst ihre Mutter wisse heute, wie der griechische Finanzminister heiße – das sei durchaus als eine Art "Erfolg" der jetzigen Krise zu bezeichnen:
    "Eigentlich fangen wir ja längst an, über die Grenzen hinweg gesellschaftliche Präferenzen zu verhandeln. Nehmen Sie die Flüchtlingsfrage. Wir hatten in der Flüchtlingsfrage, die jetzt ganz aktuell ist, in verschiedenen Ländern absolute Willkommenkultur, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch andere Länder, wo die Menschen aufgewacht sind, humanitäre Aktionen von ihren Regierungen gefordert haben und wo es im Prinzip eine europäische Öffentlichkeit gegeben hat, die sich gegen die Regierungen von Ungarn, Polen und Tschechien gestellt hat und ich glaub, das ist ein Momentum, wo man doch ganz optimistisch sein kann, dass wir aus diesem Rahmen von nationalen Medien herauskommen und in Zukunft eben benennen, worum es geht: wir diskutieren gesellschaftliche Präferenzen in einem europäischen Rahmen."
    Dr. Jens Lucht, Sozial- und Medienwissenschaftler an der Universität Zürich, hat zum Verhältnis von europäischer Öffentlichkeit und europäischer Identität geforscht. Eine europäische Öffentlichkeit, die diesen Namen verdiene und die sich mit einer nationalen vergleichen könne, gebe es nicht.
    "Es gibt aber durchaus, wenn auch noch sehr schwach, es gibt eine Europäisierung nationaler Medienunternehmen. Das können wir messen."
    In europäischen Krisenzeiten brechen nationale Animositäten auf
    1957, also in der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft, wurde in der Presse nur in wenigen Artikeln über die Römischen Verträge berichtet, obwohl doch, so Lucht, diese Verträge die Zukunft der teilnehmenden Staaten enorm bestimmen sollten. 2005 gab es in einem vergleichbaren Untersuchungszeitraum in den gleichen Ländern mehrere Tausend Artikel zu Fragen der EU – was natürlich auch den Grad der inzwischen erreichten europäischen Integration widerspiegelt. Das Internet sollte allerdings als möglicher Motor einer europäischen Mediendebatte nicht überschätzt werden, sagt Lucht:
    "Wo ich eher skeptisch bin, ist Social Media. Nicht skeptisch, dass es das gibt, da bin ich eher positiv, aber dass man da die große Gegenöffentlichkeit erwartet, so nach dem Motto: Wir diskutieren hier in allen möglichen Foren über Europa. Das gibt es, das ist auch nicht schlecht. Aber was wir da sehen, wenn wir das genau anschauen, dass, wenn Verlinkungen stattfinden, sehr viel Soft News verlinkt werden und wenn es um politische Informationen geht, dann meistens doch als Anlass, Artikel oder Ähnliches, ein Online-Angebote eines etablierten Mediums entsprechend genommen wird und darüber dann diskutiert wird, was sicherlich nicht schlecht ist."
    Doch in europäischen Krisenzeiten brechen ganz schnell schon überwunden geglaubte nationale Animositäten auf. Das hat die Schriftstellerin Maria Topali, Mitarbeiterin am nationalen Zentrum für Sozialforschung in Athen, gerade als Griechin erfahren. Und Europa stehe vor einer weiteren Renationalisierung, so glaubt sie, gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise. Da helfe es nicht, neue europäische Medienplattformen aufzubauen oder mehr Übersetzungen ausländischer Zeitungsartikel anzubieten – es helfe nur eine einheitliche europäische Schulbildung.
    "Also gemeinsame Curricula in der Geschichte, in der gemeinsamen europäischen Geschichte, weil man muss ja voneinander wissen und wir bleiben uns mehr oder weniger unbekannt. Wir leben irgendwie parallel."