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Europäische Union
Wie Flüchtlinge zum Sicherheitsrisiko gemacht werden

Die Flüchtlingspolitik der Europäischen Union setzt in erster Linie auf Abschreckung und schnelle Abschiebung. Der Umgang mit Asylsuchenden ist über Jahre von einer humanitären Aufgabe zu einer Frage der inneren Sicherheit gemacht geworden – mit schwerwiegenden Konsequenzen.

Von Benjamin Dierks | 17.01.2021
Eine Gruppe Geflüchteter geht durch einen Wald im Plješevica-Gebirge
Viele Geflüchtete sind wochenlang unterwegs (picture alliance/AP Photo | Amel Emric)
Zlatan Kovacevic ist fast jeden Tag unterwegs in der hügeligen Region an der bosnischen und kroatischen Grenze. Er ist einer der wenigen in seiner bosnischen Heimatstadt Bihac, die dort gestrandeten Flüchtlingen helfen. Tag und Nacht ist er bereit, um bei Alarm ins Auto zu springen, um Flüchtlingen in Not beizustehen – Menschen, die versucht haben, über die kroatische Grenze in die EU zu gelangen. Manche Einsätze wie diesen dokumentieren sie mit Videoaufnahmen.
"Unsere erste Aufgabe ist es, auf einen Anruf mit Informationen über einen Pushback zu warten. Diese Informationen bekommen wir von der Grenzpolizei oder von Leuten, die in den Bergen wohnen. Manchmal müssen wir Leute belohnen mit kleinen Geschenken, damit wir diese Informationen bekommen."
Demonstranten fordern unter dem Motto EU-Asylpakt stoppen Geflüchtete auf Lesbos schützen gemeinsam mit der Aktion SEEBRÜCKE die Evakuierung griechischer Lager und eine menschenwürdige Unterbringung für alle Geflüchteten. snapshot-photography/xK.M.Krause *** Demonstrators demand under the slogan EU Asylum Pact stop refugees on Lesbos protect together with the action SEEBRÜCKE the evacuation of Greek camps and a humane accommodation for all refugees snapshot photography xK M Krause
Ringen um die EU-Migrationspolitik - Europas Werte, Europas Versagen
Das inzwischen abgebrannte Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist längst zur Chiffre einer gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik geworden. Weiterhin sterben täglich Menschen auf ihrer gefährlichen Flucht nach Europa. Doch bei Begriffen wie Solidarität ist die EU tief gespalten.
Sobald ein Anruf kommt, fahren Kovacevic und seine Mitstreiter los. Sie suchen das Gebiet an der Grenze zu Kroatien nach Menschen ab, die von der kroatischen Grenzpolizei mit Gewalt wieder nach Bosnien und Herzegowina zurückgebracht werden. Pushbacks werden diese illegalen Zurückweisungen an der Grenze der Europäischen Union genannt. Manche schafften es bis nach Slowenien oder Italien, berichtet Kovacevic. Aber selbst so tief im Innern der EU würden sie noch aufgegriffen und an die Grenze zurückgebracht. Dann seien sie oft schon zwei Wochen oder länger zu Fuß unterwegs gewesen.
"Das Gehen dauert 14, 15 Tage. Die letzten drei, vier Tage laufen sie ohne Essen. Sie essen, was sie im Wald finden."
Oft fehlen warme Kleidung und feste Schuhe. Von den Grenzern würden sie in diesem Zustand irgendwo im unwegsamen, bergigen Gelände entlang der grünen Grenze zurückgelassen, berichtet Kovacevic. Tausende solcher Fälle haben Hilfsorganisationen registriert.
"Wir möchten so schnell wie möglich zu diesen Leuten, sie erst ein bisschen beruhigen. Dann geben wir ihnen medizinische Hilfe, dann Essen, dann Schuhe."

Tägliche Versuche, über die Grenze zu gelangen

Für Kovacevic selbst sind die Einsätze selbst eine große Anstrengung, weil er im Bosnienkrieg ein Bein verloren hat. Aber die Erfahrung helfe ihm, mit den Flüchtlingen zu fühlen, sagt er. Viele von ihnen würden von den kroatischen und damit EU-Grenzpolizisten schwer misshandelt.
"Geschlagen, manchmal finden wir Leute ohne Zähne mit verletzten Mündern, mit Verletzungen an Armen oder am Kopf."
Den täglichen Versuch, über die bosnisch-kroatische Grenze zu gelangen, nennen sie hier "the Game", das Spiel. Ein zynisches Spiel, bei dem als Gewinn der Verbleib in der EU lockt, mit dem Risiko, zu erfrieren, zu verhungern oder schwer misshandelt wieder auf "Start" geworfen zu werden. Ein Spiel, bei dem die EU tatenlos zuschaue, sagt der Migrationsforscher und Soziologe Gerald Knaus.
"Wir haben an der bosnisch-kroatischen Grenze seit vielen Jahren und im letzten Jahr ganz besonders häufig detaillierte Berichte über irreguläres, illegales Vorgehen von Sicherheitskräften in Kroatien, Männer in schwarzer Uniform mit Balaclavas (Sturmhauben, Anm. d. Redaktion), die Migranten aufgreifen, misshandeln und dann über die Grenze nach Bosnien zurückstoßen, wo sie mit Verletzungen in den Spitälern in Nordwest-Bosnien ankommen."
Hunderte harren hier nicht nur in offiziellen Flüchtlingslagern wie dem Camp Lipa in der Nähe von Bihac aus, das vor Weihnachten abbrannte und — teils wiedererrichtet — nicht annähernd ausreicht. Sie kampieren auch in ausgedienten Fabrikhallen und in selbst aufgebauten Zeltlagern im Wald, im Volksmund Dschungelcamps genannt. Wie auch an anderen Grenzen der EU sind sie dem Winter nahezu schutzlos ausgeliefert.
"Wir haben auf den griechischen Inseln eine ähnliche Situation. Wir haben ein neues Aufnahmezentrum auf Lesbos nach dem Brand von Moria, von dem jeder Experte vom ersten Moment an wusste — und ich habe damals mit vielen gesprochen, auch vor Ort — dass dort eine menschenwürdige Unterkunft nicht möglich sein wird. Trotzdem werden Menschen dort im Winter bei Regen, bei Kälte dort festgehalten. Das ist kein Versagen, das ist kein Scheitern schwacher Staaten. Es fehlt auch nirgendwo an Geld. Das ist Absicht."
Migranten fahren in einem Boot, kurz bevor sie ein Dorf auf der griechischen Insel Lesbos erreichen über die Ägäis von der Türkei aus kommend.
Frontex und Migranten-Pushbacks - "Ich fürchte, der Aufklärungswille ist nicht besonders groß"
Frontex soll in illegale Rückführungen von Flüchtlingen verwickelt gewesen sein. Die EU-Kommission hat deswegen ein Treffen mit der EU-Grenzschutzbehörde angesetzt. Der Migrationsexperte Gerald Knaus kritisierte im Dlf, dass in der Frage der Zurückstoßung von Flüchtlingsbooten eine Scheindebatte geführt werde.
Migrationsforscher Knaus hatte in den wesentlichen Grundzügen die Idee für das EU-Türkei-Abkommen entwickelt, das 2016 verhindern sollte, dass Menschen aus der Türkei über das Mittelmeer nach Griechenland fliehen. Nachdem das Abkommen scheiterte und die Türkei im März 2020 ihre Grenzen nach Europa wieder öffnete, versprach EU-Migrationskommissar Margaritis Schinas, dass die EU nun Solidarität mit Griechenland zeigen und die Grenzen gemeinsam verteidigen könne. Doch von Solidarität ist nicht viel zu spüren. Der Schutz der Grenzen verkommt zu einer immer offener zur Schau getragenen Abwehr von Menschen, die versuchen, in die EU zu gelangen — in Kroatien, Ungarn und Griechenland ebenso wie vor Malta, Lampedusa oder den kanarischen Inseln.
"Wenn wir das als Gesamtbild sehen, dann merken wir, dass an allen diesen Grenzen die Europäische Union an den gleichen Fragen scheitert und zunehmend an allen diesen Grenzen auf die gleichen Methoden zurückgreift. Und die lauten: Abschreckung durch schlechte Behandlung und zunehmend an immer mehr Grenzen auch illegales Zurückstoßen von irregulären Migranten. Und so sehen wir, dass es ein systemisches Problem ist, das eine neue Art des Herangehens und eine neue Art des Denkens fordert."

Lockerung im Innern, Sicherung nach außen

Auch der EU-Grenzschutzbehörde Frontex wird vorgeworfen, sich an Pushbacks in der Ägäis beteiligt zu haben. Unter anderem der "Spiegel" und die ARD berichteten im Oktober darüber. Videoaufnahmen zeigen Frontex-Schiffe, die zumindest dabei sind, während griechische Grenzpatrouillen Schlauchboote in türkische Gewässer abdrängen. Frontex-Chef Fabrice Leggeri bestritt die Vorwürfe zu Beginn des Jahres, als er im Innenausschuss des EU-Parlaments aussagte. In der vergangenen Woche befragte ihn auch der Innenausschuss des Bundestages. Zudem wurde in der vergangenen Woche bekannt, dass die EU-Betrugsbekämpfungsagentur OLAF neben anderen Anschuldigungen auch das mögliche Fehlverhalten der Grenzbeamten im Mittelmeer untersucht. Neu wären solche Rechtsbrüche der EU-Agentur nicht. Bereits 2013 hatte der damalige Frontex-Chef Ilkka Laitinen eingeräumt, dass die Grenzschützer an Pushbacks beteiligt gewesen seien. Die Vorwürfe seien besonders heikel, weil EU-Einrichtungen wie Frontex oder die europäische Asylagentur EASO in der gemeinsamen Asylpolitik der EU eine größere Rolle spielen sollen, sagt Petra Bendel, Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration.
"Je mehr Macht die europäischen Agenturen haben, dazu gehört Frontex, dazu gehört aber auch EASO, und das wollen die Mitgliedsstaaten, das betrifft die Grenzsicherung, das betrifft aber auch die Unterstützung im Asylverfahren durch EASO, je mehr Macht also diese Agenturen haben, desto mehr Kontrolle brauchen sie."
Bendel wird ab diesem Jahr zusätzliches Gewicht in der deutschen Migrations- und Integrationspolitik zukommen, denn ihr Sachverständigenrat ist nun offizielles Beratungsgremium der Bundesregierung, ähnlich den sogenannten Wirtschaftsweisen. Dass die Absicherung der Außengrenzen eine dominante Rolle in der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik der EU spielt, führt Bendel auf deren Anfänge vor rund 30 Jahren zurück.
"In dem Moment, wo Schengen beschlossen wurde und die Grenzkontrollen im Innern der Europäischen Gemeinschaft, der späteren Europäischen Union dann wegfielen, beschlossen die Mitgliedsstaaten, dass sie diesen freien Personenverkehr kompensieren sollten durch eine stärkere Kontrolle der Außengrenzen. Das ist also die Genealogie der gemeinsamen europäischen Asylpolitik."
Lockerung im Innern, Sicherung nach außen. Diese stärkere Kontrolle der Außengrenzen war noch eine Koordination der Mitgliedsstaaten, keine tatsächliche gemeinsame EU-Politik. Eine staatsübergreifende Asylpolitik entstand 1999, als die Mitgliedsstaaten den Vertrag von Amsterdam schlossen. Teil davon war der Versuch, die Visa-, Asyl- und Einwanderungsgesetze der Mitgliedsstaaten zu harmonisieren.
"Nichtsdestotrotz blieben erst mal für einen Übergangszeitraum von zunächst fünf Jahren die Akteure die Innenminister. Und wenn man auf die Akteure guckt und fragt, welche Ideen haben die Innenminister vor allem im Kopf, dann sind die natürlich zunächst immer an der Sicherheit ihrer eigenen Staaten orientiert. Und so lässt sich erklären, dass die Sicherheit bis heute einen sehr starken Fokus der europäischen Asylpolitik bildet."
Der politischen Annäherung folgte die Sicherheitstechnik. Mit EURODAC schufen die Europäer ein System, um Fingerabdrücke von Asylbewerbern abgleichen zu können. Niemand sollte mehr als einmal Asyl beantragen können. Ein erster Schritt auf einem langen Weg von Neuerungen, sagt Matthias Leese, Experte für Sicherheitstechnik vom Center for Security Studies in Zürich.
"Es gibt eine sehr stringente Entwicklung auf europäischem Level, die sich seit den frühen 2000ern entwickelt hat, und das ist die immer stärkere technische Aufrüstung."

Frontex hat die Grenze immer im Blick

Ab dem kommenden Jahr soll das Einreise/Ausreise-System die Fingerabdrücke und Gesichtsbilder von Reisenden aus Drittstaaten aufnehmen. 2013 rief Frontex das Überwachungssystem EUROSUR ins Leben: Mit Drohnen, Aufklärungsgeräten, Satellitensystemen, Offshore-Sensoren und hochauflösenden Kameras hat die Agentur die Grenze so immer im Blick.
"Die grüne Grenze abseits von Flughäfen, abseits von Häfen, abseits von Straßen, die wird immer stärker überwacht, um eben zu sagen: Wir fangen irreguläre Migration schon ab, bevor die Leute europäischen Boden erreichen."
Und somit auch bevor sie einen Antrag auf Asyl stellen können. Die Sicherheitssysteme werden fortlaufend weiterentwickelt. EURODAC soll nun mit anderen Erkennungssystemen zusammengeführt werden. Neben Fingerabdrücken werden dann auch Gesichtsbilder von Einreisenden aus Drittstaaten gespeichert. Daten werden auch mit Ländern außerhalb der EU geteilt, um irreguläre Einwanderer aufzuspüren.
"Es gibt weltweit eine Entwicklung, die Migration immer stärker zur Sicherheitsfrage macht. Es werden Richtlinien und Verfahren geschaffen, um künftige Gefahren vorherzusehen. Und die Mobilität bestimmter Menschen wird als möglicher Gefahrenherd ausgemacht. Diese Menschen werden in der Regel nach ethnischen Merkmalen und nach ihrem Geschlecht unterschieden, und sie werden als unproduktiv für den kapitalistischen Arbeitsmarkt gebrandmarkt. Daraufhin werden Möglichkeiten geschaffen, um ihre Einreise zu verhindern, einzudämmen und zu regulieren."
Flüchtlinge auf Lampedusa
Italiens Migrationspolitik - Neue Routen, alte Probleme
Seit Jahresbeginn sind in Italien viermal so viele Flüchtlinge angekommen wie 2019 im gleichen Zeitraum. Viele von ihnen schlagen über Tunesien eine neue Route ein. Die Regierung arbeitet an einer neuen Migrationspolitik – und fühlt sich weiterhin von der EU alleine gelassen.
Sagt Sanja Milivojevic, Kriminologin an der La Trobe University in Melbourne, die sich intensiv mit der Überwachung von Grenzen befasst hat. Migranten werden mit verschiedenen Gefahren in Verbindung gebracht, mit Terrorismus und Kriminalität, vor allem während der COVID-19-Pandemie mit Gesundheitsrisiken. Sie gelten als zusätzliche Belastung der Sozialsysteme und als Bedrohung für einheimische Werte und Identität. Fälle wie der Attentäter vom Weihnachtsmarkt 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, scheinen die Vorbehalte zu bestätigen. Der Tunesier soll 2015 eingereist sein und mehrmals Asyl beantragt haben. Aus der Sicherheitsperspektive seien Flüchtlinge hingegen zunächst nicht gefährlicher als etwa Touristen, sagt Matthias Leese. Dennoch würden sie so dargestellt.
"Dass man sagt, die Menschen, die zu uns kommen, die sind nicht mehr schutzbedürftig, sondern sie sind gefährlich. Und das ist eine argumentative Umkehr, die sehr weitreichende Folgen hat. Man sieht den einzelnen Menschen nicht mehr als ein Schutzobjekt an, sondern als eine potenzielle Bedrohung. Auf diesem geänderten Fundament findet dann natürlich eine veränderte Auseinandersetzung mit Migration statt: Wir verstärken die Grenzen, wir reformieren unsere Datenbanken, es wird stärker Wert gelegt auf den Informationsaustausch zwischen den Grenz- und Polizeibehörden der Mitgliedsländer."
Diese pauschale Beurteilung reicht weiter zurück als die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 oder die Anfänge der gemeinsamen EU-Asylpolitik. Eine Herabsetzung von Flüchtlingen half schon, die Asylrechtsverschärfung in Deutschland Anfang der 90er-Jahre durchzusetzen. Bevor Politiker der schwarz-gelben Regierungskoalition im Bundestag am 26. Mai 1993 mit Stimmen der oppositionellen SPD für die entsprechende Grundgesetzänderung stimmten, hatten sie Asylsuchende kurzerhand zum Sicherheitsrisiko erklärt, wie der Bericht der Tagesschau von diesem Tag zeigt.
"Redner der Regierungskoalition und auch der SPD-Opposition begründeten die Änderung des Grundrechts auf Asyl mit dem Missbrauch des Asylrechts. Nach ihren Worten gefährdet die hunderttausendfache Zuwanderung nach Deutschland den inneren Frieden."

Die Sorge um den inneren Frieden

In den zwei Jahren zuvor hatte ein rassistischer Mob ein Heim für Vertragsarbeiter in Hoyerswerda und ein Asylbewerberheim in Rostock mit Brandsätzen angegriffen und die Bewohner unter dem Beifall von Anwohnern in akute Lebensgefahr gebracht. Bei einem Brandanschlag auf das Haus einer türkischen Familie in Mölln waren drei Menschen ermordet worden. Zwei Tage nach dem Asylrechtsbeschluss im Bundestag wurden bei einem rassistischen Brandanschlag in Solingen fünf Menschen ermordet. Den inneren Frieden des Landes aber gefährdeten in den Augen der Bundestagsmehrheit die Asylsuchenden.
Die Sorge um den inneren Frieden brachten Politiker auch 2015 an, als viele Flüchtlinge versuchten, über die sogenannte Balkanroute nach Europa zu gelangen und Deutschland einen Großteil von ihnen aufnahm. Die Erfahrung der sogenannten Flüchtlingskrise präge die europäische Asylpolitik bis heute, sagt Migrationsforscher Gerald Knaus.
"Es hat sich in den Köpfen Vieler — und das sieht man ganz klar in Italien ebenso wie in Griechenland und anderen Ländern der EU — festgesetzt, dass es eigentlich nur zwei Alternativen gibt: entweder jede oder jeder, der mit einem Boot über das Mittelmeer kommt, wird aufgenommen. Oder man greift auf das zurück, was Viktor Orban und Sebastian Kurz das Australische Modell nennen, also Abschreckung durch schlechte Behandlung. Wenn immer mehr Entscheidungsträger — manche mit Freude und manche zerknirscht, das Gefühl haben, man muss zwischen inhumaner Abschreckung und unkontrollierten Grenzen wählen, dann ergibt sich das, was wir heute sehen, fast automatisch."
Daran dürfte auch der jüngste Reformvorschlag der EU-Kommission wenig ändern. Das lassen die bestenfalls verhaltenen Reaktionen aus Politik, Wissenschaft und von den Mitgliedsstaaten erkennen. Der lang erwartete Plan sollte das Dublin-System ablösen, wonach Menschen in dem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie zuerst EU-Boden betreten haben. Das belastete vor allem südliche Grenzstaaten wie Griechenland, Spanien, Malta und Italien. Zudem sollte er einen Kompromiss schaffen zwischen den Interessen dieser südlichen EU-Mitglieder, der zentral- und nordeuropäischen Länder, in die viele Neuankömmlinge weiterziehen, und den vor allem osteuropäischen Staaten, die gar keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Das biete der Vorschlag aber nicht, sagt Birgit Sippel, die innenpolitische Sprecherin der SPD-Abgeordneten im Europa-Parlament, in einer Online-Debatte des Center for Human Rights Erlangen-Nürnberg.
"Aus meiner Sicht ist der Vorschlag eben kein europäischer Vorschlag, weil er an viel zu vielen Stellen die Verantwortung an die Mitgliedsstaaten gibt und auf nationale Gesetzgebung verweist. Das es trotzdem viel Kritik bei den Mitgliedsstaaten gibt, führt mich natürlich nicht dazu, dass ich sehr hoffnungsfroh bin, dass wir schnell zu einer Einigung kommen werden, zumal das Kriterium des Ersteinreisestaates, also das, was ursprünglich in Dublin festgeschrieben war, mit den neuen Vorschlägen aus meiner Sicht eher noch verschärft wird, was zu noch größeren Herausforderungen für die Ersteinreisestaaten führen kann."

Überforderte Mitgliedsstaaten

Der Kommissionsvorschlag sieht vor, alle, die unerlaubt die Grenze überschritten haben, vor dem eigentlichen Asylverfahren unter anderem nach Herkunftsländern zu sortieren und jene, die wenig Aussicht auf ein Bleiberecht haben, sollen einem Schnellverfahren unterzogen werden. Experten kritisieren vor allem, dass die Verantwortung dafür wie bereits im Dublin-Verfahren, weiterhin den jetzt schon überforderten Mitgliedsstaaten zukomme — ohne Aussicht, dass sie die beschleunigten Verfahren künftig besser bewältigen als die bisherige Prüfung. Malta, Italien, Spanien und Griechenland haben Ende des vergangenen Jahres eine gemeinsame Stellungnahme aufgesetzt, in der sie ihren Verdruss deutlich machten. Auch ist nicht klar, wie und auf welcher rechtlichen Grundlage Menschen für die Zeit der Vorabprüfung an der Grenze festgehalten werden sollen. Das Fazit von Petra Bendel, der Vorsitzenden des Sachverständigenrats für Migration:
"Die Vorschläge der Europäischen Kommission sind doch insgesamt sehr enttäuschend, denn gerade da, wo es um die Sicherung der Grundrechte in Verfahren an den Außengrenzen geht, ist sie zu kurz gesprungen."
Keine Mühen scheute die EU-Kommission, um die unschönen Seiten der gemeinsamen Asylpolitik kreativ zu verpacken. Wer wie Ungarn partout keine Flüchtlinge aufnehmen will, erhält nun endgültig den Segen dafür und darf stattdessen eine sogenannte "Rückführungspatenschaft" übernehmen und für die Abschiebung abgelehnter Asylsuchender sorgen. Der Begriff wurde prompt zum Unwort des Jahres gewählt. Die Politik der EU habe weiterhin eine deutliche Schlagseite, sagt der Asylrechtsexperte Daniel Thym von der Universität Konstanz.
"Der Umstand, dass die Europäer es eben nicht schaffen, schnelle und faire Verfahren an den Außengrenzen oder sonst wo zu realisieren, führt dazu, dass sie einseitig auf eine Karte setzen. Und diese eine Karte sind nicht die offenen Grenzen, sondern es ist die Auslagerung der Kooperation an die benachbarten Staaten."
Die EU setzt also vorerst weiter auf Sicherheit — nicht in erster Linie auf Sicherheit für Migranten, sondern auf Sicherheit vor ihnen.