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Europäische Zentralbank
"Politik nur für schwache EU-Länder"

Die Europäische Zentralbank verfolge eine Politik, die vor allem "Peripherieländern" wie Spanien und Italien zugute komme, kritisiert der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Stark. Die EZB betreibe seit längerer Zeit Fiskal- und Wirtschaftspolitik und habe damit den Rahmen ihrer Aufgaben längst verlassen, sagte Stark im DLF.

Jürgen Stark im Gespräch mit Christoph Heinemann | 12.09.2014
    Jürgen Stark war bis 2012 Chefvolkswirt und Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB)
    Jürgen Stark war bis 2012 Chefvolkswirt und Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB). (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Die EZB müsse auf den Durchschnitt der Finanzentwicklung in Europa achten, sagte Jürgen Stark, früheres Direktoriumsmitglied der EZB, im Deutschlandfunk. Seit geraumer Zeit entstehe jedoch der Eindruck, dass die Zinspolitik der Zentralbank in erster Linie schwachen Euro-Ländern wie Italien und Spanien zugute komme. Für die deutsche Volkswirtschaft sei die Geldpolitik dagegen "nicht notwendigerweise optimal", so Jürgen Stark.
    Stark fordert Sanierung des Bankensystems
    Wichtiger sei dagegen, an die Gründe für das geringe Wirtschaftswachstum Europas heranzugehen. Das Problem sei nicht eine fehlende Nachfrage. Es müssten vielmehr Bedingungen für mehr private Investitionen geschaffen werden, sagte der Wirtschaftswissenschaftler im DLF. Durch immer neue Schulden entstehe dagegen kein nachhaltiges Wachstum. Entscheidend sei auch die Sanierung der Bankensysteme. Der hohe Anteil fauler Kredite in Italien und Spanien sei ein klarer Indikator für Strukturprobleme, so Stark. Manche Länder seien allerdings unwillig oder gar unfähig zu Reformen.
    Stark kritisierte auch, dass erstmals über das Ziel eines niedrigeren Euro-Wechselkurses gesprochen wurde. Bei dem Wechselkurs handele es sich um einen marktgetriebenen Preis. Explizit einen niedrigeren Wechselkurs gegenüber Währungen wie dem US-Dollar vorzugeben, nehme den Druck von Ländern wie Frankreich für notwendige Strukturreformen. Allerdings habe die EZB den Rahmen ihres Mandats ohnehin längst verlassen, so Stark.
    In Europa wird derzeit heftig um den richtigen Kurs in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gestritten. In Mailand in Italien findet heute ein informelles Treffen der Finanzminister der Eurogruppe statt, an dem auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble teilnimmt.
    Das vollständige Interview können Sie hier nachlesen.

    Christoph Heinemann: Die europäischen Finanzminister kommen heute zu zweitägigen Beratungen in Mailand zusammen, bei denen es um die zuletzt schlechte Entwicklung beim Wirtschaftswachstum und bei der Inflation in Europa geht. Mit dabei EZB-Präsident Mario Draghi, der hat die europäischen Staaten in einer Rede gestern zu mehr Investitionen aufgerufen. Gleichzeitig verteidigte der EZB-Präsident das jüngste Maßnahmenpaket der Europäischen Zentralbank.
    Super-Mario oder Marionette – am Präsidenten der Europäischen Zentralbank scheiden sich die Geister und auch an Mario Draghis Zinspolitik oder der jüngsten Entscheidung der EZB, bestimmte Wertpapiere von Banken als Sicherheit anzunehmen. Gestern gab Frankreichs Notenbankchef Christian Noyer zu Protokoll, die Europäische Zentralbank müsse auf einen schwächeren Euro hinarbeiten, damit das Inflationsziel von zwei Prozent noch erreicht werden könne. Fachleute begründen das so: Wenn die Inflation zu niedrig ist, dann droht Deflation, also drohen sinkende Preise, womit ein großes Zaudern der Käuferinnen und Käufer ausgelöst werden könnte, weil ja keiner weiß, ob Autos, Kühlschränke, PCs und so weiter nicht doch noch billiger werden. Die Äußerungen aus Frankreich dürften heute auch in Mailand für Gesprächsstoff sorgen. – Bei uns am Telefon jetzt ist der Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Stark, von 2006 bis 2012 Chefvolkswirt und Mitglied im Direktorium der Europäischen Zentralbank. Guten Morgen.
    Jürgen Stark: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Stark, sollte die EZB den Euro schwächen?
    Stark: Es war immer eine Übereinkunft unter den Zentralbankern in Europa, dass die Europäische Zentralbank kein Wechselkursziel hat. Dies hat sich offenbar geändert. Zum ersten Mal wird offen über einen niedrigeren Wechselkurs gesprochen und auch die Entscheidungen von der vergangenen Woche vonseiten des EZB-Rates werden mit einer Schwächung des Euro-Wechselkurses begründet. Das ist neu. Das hat es vorher nicht gegeben. Denn der Wechselkurs ist immer als Tabu bezeichnet worden und als ein marktgetriebener Preis.
    Wenn die Europäische Zentralbank nun über eine Abwertung des Euro versucht, die Inflation anzuheizen, dann ist das eine Sache. Aber es ist letztlich nicht Aufgabe einer Zentralbank, auf diese Art und Weise den Wechselkurs zu beeinflussen. Das soll über den Markt gehen.
    EZB hat engen Rahmen ihres Mandates verlassen
    Heinemann: Warum bisher nicht und warum jetzt doch?
    Stark: Ja, es gibt kein Wechselkursziel in der Europäischen Zentralbank. Die Europäische Zentralbank hat ein binnenwirtschaftliches Stabilitätsziel. Das sind stabile Preise, ein stabiles Preisniveau. Und das ist die Voraussetzung letztlich für die externe Stabilität, ein Beitrag für den Wechselkurs. Der Wechselkurs ist ja ein relativer Preis, ein Preis, der sich am Markt bildet, zum Beispiel gegenüber dem US-Dollar, dass der Euro-Wechselkurs auch bestimmt wird durch Entwicklungen in den Vereinigten Staaten. Dort haben wir ein etwas stärkeres Wachstum. Wir haben schwaches oder kaum Wachstum in Europa. Wir haben die Erwartung, dass die amerikanische Zentralbank die Zinsen erhöhen wird.
    Die EZB hat die Zinsen erneut gesenkt und zusätzliche Maßnahmen ergriffen. Das hat den Wechselkurs beeinflusst. Das sind natürlich Elemente oder Faktoren, die sich beim Wechselkurs niederschlagen. Aber explizit ein Wechselkursziel zu haben und zu sagen, wir brauchen einen niedrigeren Wert des Euro gegenüber dem Dollar oder anderen Währungen, das ist eine Politik, die letztlich wiederum den Druck völlig wegnimmt von den Strukturreformen, die notwendig sind insbesondere in Frankreich und Italien.
    Fehlende Nachfrage ist nicht das Problem
    Heinemann: Ist das noch Geldpolitik oder schon Finanz- beziehungsweise Wirtschaftspolitik?
    Stark: Das ist seit längerer Zeit Haushaltspolitik, quasi Fiskalpolitik, und es ist Wirtschaftspolitik. Die EZB hat längst den engen Rahmen ihres Mandates verlassen und betreibt eine andere Politik, die natürlich auch von anderen Zentralbanken betrieben worden ist. Aber dennoch: Im kurzfristigen Bereich mag das einen Erfolg haben. Man muss aber auch über die mittelfristigen Konsequenzen nachdenken und muss an die Gründe herangehen, die Ursachen, warum wir ein derart schwaches wirtschaftliches Wachstum haben. Und das liegt nicht in einer fehlenden Nachfrage. Sicherlich haben wir ein Investitionsproblem in Europa. Aber es müssen die Bedingungen geschaffen werden, dass private Investitionen wieder zum Zuge kommen. Es geht ja nicht darum, dass man nun durch immer mehr Schulden, wie man das auch definiert, dass man durch immer mehr Schulden versucht, die Wirtschaft anzukurbeln. Das wird nicht aufgehen. Das ist kein nachhaltiges Wachstum, was damit geschaffen wird.
    Heinemann: Operiert die EZB schon jenseits ihres Auftrags?
    Stark: Das schon seit geraumer Zeit.
    Heinemann: Also auch des gestatteten?
    Stark: Das schon seit geraumer Zeit, seitdem sie Staatspapiere bestimmter Länder gekauft hat, seitdem sie eine Garantie gegeben hat, dass die Zinsen für Staatspapiere bestimmter Länder nicht eine gewisse Grenze überschreiten, jetzt auch durch das Schaffen eines neuen Marktes wie Kreditverbriefungen. Das ist nicht Aufgabe einer Zentralbank. Das muss man der Politik oder auf jeden Fall dem Markt überlassen, ob ein solcher Markt wieder entstehen soll. Ich rede von den Asset Backed Securities, von den verbrieften Krediten, die die EZB aufkaufen will, aber den Markt auch beleben will. Das hat nichts mehr mit Geldpolitik im engeren Sinne zu tun.
    Heinemann: Diese ABS-Papiere genießen ja wegen des breit gestreuten Risikos nicht den besten Ruf. Mario Draghi begründet das damit, dass er die schwache Kreditvergabe beflügeln wird, und das würde doch genau dem Ziel, das Sie eben beschrieben haben, nutzen, nämlich die Konjunktur anzukurbeln.
    Sanierung der Bankensysteme ist notwendig
    Stark: Es geht ja in erster Linie darum, die kleinen und mittleren Unternehmen, die offenbar Probleme haben, in Italien und in Spanien und in anderen Ländern an Kredite heranzukommen, denen den Kreditzugang zu erleichtern. Aber der entscheidende Punkt liegt nicht hier bei der Schaffung eines neuen Marktsegmentes am Finanzmarkt, sondern an der Sanierung der Bankensysteme. Wenn Sie sehen, dass der Anteil der faulen Kredite an dem Gesamtvolumen der vergebenen Kredite in Italien 15 Prozent erreicht hat und auch in Spanien bei 15 Prozent liegt, ist dies ein klarer Indikator dafür, dass hier strukturelle Probleme sind, die Sanierung des Bankensektors notwendig ist, um wieder die Kreditvergabe auf den Weg zu bringen. Das kann man nicht übertünchen durch irgendwelche anderen Maßnahmen. Dann muss man an den Kern der Probleme heran. Aber daran scheitert es insbesondere in Italien bis jetzt.
    Heinemann: Ist Mario Draghi ein Zentralbankpräsident für Südeuropa?
    Stark: Er ist ein Zentralbankpräsident für das Euro-Gebiet insgesamt. Aber die EZB betreibt seit geraumer Zeit eine differenzierte Geldpolitik, die in erster Linie den Peripherieländern Italien und Spanien zugutekommt.
    Heinemann: Insofern, als die Länder jetzt am Kapitalmarkt wieder zu erträglichen Bedingungen Geld aufnehmen können.
    EZB-Interventionen sorgen für Marktverzerrung
    Stark: Nun, inwieweit dies erträglich ist, zeigen die Zahlen. Wir haben im kurzfristigen Bereich von zwei bis drei Jahren sogar negative Zinsen. Das heißt, durch die Risiken, die diese Länder auf sich gebürdet haben mit sehr hohen Schuldenständen, zum Beispiel in Italien mit 130 Prozent der Wirtschaftsleistung, werden die Risiken des dortigen Haushalts bei den Renditen nicht mehr richtig bepreist. Es gibt eine völlige Verzerrung am Markt durch die Interventionen oder durch die Garantien der Europäischen Zentralbank und irgendwann schlägt das auf.
    Heinemann: Andererseits, Herr Stark, nach Draghis Ankündigung gab der Euro gegenüber dem Dollar nach und der DAX zog an. Beides war erwünscht. Wo der Mann doch Erfolg hat, muss man das doch auch konstatieren.
    Niedrige Zinsen sorgen für falsche Effekte
    Stark: Ja gut. Wenn man ein Wechselkursziel hat und den Euro herunterredet und entsprechend politisch handelt, dann muss man das am Ende dann aus der Perspektive des Handelnden als Erfolg sehen. Je niedriger die Zinsen und je mehr Liquidität in die Märkte gegeben wird, umso mehr zeigen sich bei den Vermögenspreisen Übertreibungen, oder Steigerungen, die nicht rational nachvollziehbar sind. Und wir haben das durchaus bei den Aktienmärkten und wir haben es auch bei den Immobilienmärkten. Diese Liquidität und die niedrigen Zinsen, die wir zur Verfügung haben, die zeigen ihre Effekte. Und wir haben auch Inflation. Wenn wir auch keine Verbraucherpreis-Inflation haben, haben wir Vermögenspreis-Inflation im Augenblick.
    Heinemann: Herr Stark, das ist alles relativ kompliziert, zumal für den Laien. Wir haben Christian Noyers Äußerung gehört, des französischen Zentralbankchefs. Auch Christine Lagarde, die Direktorin des Internationalen Währungsfonds, unterstützt Mario Draghis Politik, und vermutlich wird das auch der neue oder künftige Währungskommissar Pierre Moscovici tun. Das sind ja alles keine Anfänger. Gibt es da in Frankreich eine vollständig andere Wahrnehmung, oder in Südeuropa, der Geldpolitik und der Aufgaben der EZB?
    Zentralbanken werden für Konjunkturpolitik eingespannt
    Stark: Ja. Es zeigen sich jetzt doch die tief greifenden kulturellen Unterschiede in der Geldpolitik und in dem, was man als Stabilitätsorientierung versteht. Die Zentralbanken werden eingespannt für die Konjunkturpolitik, anstelle einer Fiskalpolitik oder mit der Fiskalpolitik zusammen. Das hat es in Zeiten der Deutschen Bundesbank so nicht gegeben. Nun, wir leben jetzt aber in einer anderen Welt mit einer Europäischen Zentralbank, mit einer europäischen Währung, und die Europäische Zentralbank muss auf den Durchschnitt der Entwicklungen in Europa achten. Das heißt, da wir im Moment eine sehr starke Auseinanderentwicklung im Euro-Gebiet auch haben, was die wirtschaftliche Entwicklung angeht, und zum Teil auch, was die Inflationsraten angeht, ist es für die EZB natürlich schwer, den richtigen Weg hier zu finden.
    Verkrustete Wirtschaftsstrukturen sind das Problem
    Aber man hat den Eindruck seit längerer Zeit, dass hier in erster Linie für die sehr schwachen Peripherieländer und auch größere Länder eine Geldpolitik verfolgt wird, die nicht notwendigerweise optimal ist für die deutsche Volkswirtschaft.
    Heinemann: Nun sollte das Geld den Menschen dienen und nicht umgekehrt. Wenn in manchen Ländern die Hälfte der jungen Leute keinen Job hat, hört der Spaß doch mal irgendwann auf und dann müsste doch nur noch eins zählen, nämlich wie gibt man diesen Menschen schnellst möglichst eine Perspektive.
    Stark: Ja! Warum gibt es so viele arbeitslose Jugendliche? Hier haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das seit über 20 Jahren besteht. Vor 20 Jahren war die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen in Spanien genauso hoch wie heute. Das darf man nicht vergessen und ist nur durch einen Immobilien-Boom überlagert worden. Hier geht es wirklich um Strukturprobleme, die nicht mit mehr Geld gelöst werden können. Allenfalls kann man mit mehr Geld etwas Zeit kaufen.
    Aber die verkrusteten Wirtschaftsstrukturen in einigen Ländern, die verloren gegangene Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten, da muss man ansetzen. Die Politik in manchen Ländern neigt immer dazu, den Sündenbock woanders zu sehen und ja nicht in den eigenen Versäumnissen in der Vergangenheit, sondern dass dann eine Europäische Zentralbank oder ein anderes Land sozusagen den Motor, die Lokomotive spielen soll. Aber das lenkt nur ab von den wirklich tief greifenden Problemen in einigen Ländern. Manche Länder sind wirklich reformunfähig oder sogar unwillig. Das muss man einfach sehen. Das kann man nicht mit sehr viel Geld, sei es von der Zentralbank, sei es über die Europäische Investitionsbank oder andere Quellen, kurzfristig beheben. Hier ist ein langfristiges Konzept notwendig, so schwerwiegend, das im sozialpolitischen Bereich dann auch sein mag.
    Heinemann: Jürgen Stark, der ehemalige Chefvolkswirt und Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank. Herr Stark, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Stark: Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.