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Europäischer Autorengipfel in Berlin
Das multikulturelle Ich des Kontinents

"Ich", das sind viele. Beim europäischen Autorengipfel waren sich die 20 eingeladenen Schriftsteller einig: Ihr geistiges Erbe verdanken sie nicht einer Nation, sondern der Vielfalt der europäischen Kulturen. In ihrem Werk wollen sie deutlich machen: Europa ist ein Gefühl.

Von Alexander Moritz | 22.06.2018
    Der Empfang zum europäischen Autorengipfel gab Gelegenheit zum Austausch. Im Bild: die Autorin Terézia Mora und der Autor Guy Helminger (r)
    Der Empfang zum europäischen Autorengipfel gab Gelegenheit zum Austausch. Im Bild: die Autorin Terézia Mora und der Autor Guy Helminger (Bertelsmann / Stefan Maria Rother)
    Was ist Europa? Die Antworten darauf waren so vielfältig wie die eingeladenen Autorinnen und Autoren. Die Norwegerin Maja Lunde beschreibt in ihrer vor Kurzem erschienen "Geschichte des Wassers", wie eine norwegische Umweltschützerin für die Lebensgrundlage im zukünftigen Europa kämpft. Lunde identifiziert sich in erster Linie mit ihrer norwegischen Heimat, der Natur, aber auch Europa sei Teil ihrer Identität:
    "I love the feeling of Europe, an ambiance I think. Europe is so many things."
    Europa also ein Gefühl, ein Begriff, unter den sich so vieles fassen lässt. Diese Beschreibung dürfte Susanne Debeolles gefallen haben. Sie leitet den Verband der europäischen Kulturinstitute in Berlin, Mitorganisator des Autorengipfels.
    "Wir wollen vermitteln, dass Europa und die Europäische Union nicht nur mit Wirtschaft zu tun hat, sondern dass Emotionen dabei sind. Und Emotionen, wie kann man die besser transportieren als über Kultur und heute hier besonders über Literatur."
    Europäische Identität als Tatsache
    Als politische Gemeinschaft wurde Europa an diesem Abend kaum benannt. Die Blockade innerhalb der Europäischen Union beim Thema Migration, die Erfolge der Nationalisten – all das waren eher Randthemen. Mit Lösungsvorschlägen hielten sich die Autorinnen und Autoren zurück.
    Europa habe bereits Schlimmeres überstanden als den derzeitigen Rechtsruck, glaubt der französisch-tunesische Romancier Hédi Kaddour.
    "Je weniger sich Autoren um Politik kümmern, desto besser. Sie sollten sich lieber ihrem literarisches Werk widmen. Das kann natürlich eine politische Dimension haben. Aber ein Autor, der sich in erster Linie um den politischen Gehalt seiner Texte sorgt, ist häufig ein Taugenichts."
    Andere Autorinnen und Autoren dagegen spüren eine politische Verantwortung. Die Dänin Janne Teller will mit ihren Texten durchaus ein vielfältiges, geeintes Europa verteidigen. Ihr ist es wichtig, eine positive Erzählung zu verbreiten, die sie als "wahre Geschichte" Europas bezeichnet. Die europäische Identität gäbe es längst, sie müsse den Menschen nur bewusst werden.
    "Gerade unser Kulturerbe – alles ist irgendwie gemacht mit Input von anderen. Ich glaube, man kann fast gar kein kulturelles Erbe finden, die nur von eine Nation gemacht war. Eigentlich ist das Nationalismus dieser Traum von etwas, was nicht existiert."
    Ungarisch? Deutsch? Oder jugoslawisch?
    Ähnlich sieht das die deutsch-ungarische Autorin Terézia Mora. Um gegen Nationalismus anzugehen, genüge es, die alltägliche Vielfalt Europas zu beschreiben.
    "Es gibt nicht diese homogenen abgegrenzten Gemeinschaften. Und es gibt zum Beispiel kaum mehr Einsprachigkeit einfach durch die Populärkultur, wo wenigstens Brocken des Englischen ins Bewusstsein kommen. Ich glaube wir alle führen ein Leben, wo sehr viele kulturelle Einflüsse ineinander fließen."
    Mora gibt ihren Figuren deswegen gerne Namen, die nicht sofort auf ein Herkunftsland schließen lassen. Darius Kopp zum Beispiel, seine Frau Flora oder das Mädchen Oda – die Figuren aus Moras aktueller Romanreihe bewegen sich zwischen verschiedenen nationalen Identitäten. Sind sie Ungarn? Deutsche? Oder Jugoslawen? Und wieso ist es überhaupt so wichtig, das eindeutig festzulegen?
    Raus aus der Blase
    Dass politische Ereignisse sich auf das Schreiben auswirken, beobachtet auch die junge britische Autorin Claire North. Ihr Thema: der Brexit. Die Entscheidung Großbritanniens, aus der EU auszutreten, hat sie entrüstet.
    "Ich denke, der Brexit hat meine Art zu Schreiben in gewissem Sinne menschlicher gemacht. Der Brexit hat mich gezwungen, innezuhalten und über Menschen nachdenken, mit denen ich überhaupt nicht übereinstimme – auch über ihre Lebenswelt. Es ist einfach, in einer kleinen Blase zu leben, in der man richtig und falsch eindeutig zu kennen meint. Aber wenn wir in Großbritannien das nächste Jahr gemeinsam überstehen wollen, müssen wir diese Blasen verlassen und uns gegenseitig als Menschen anerkennen."
    Dazu könne Literatur im besten Falle beitragen.
    Der Autorengipfel hat Lust gemacht, auf die Vielfalt der europäischen Literatur. Wie Europa sich politisch weiterentwickeln sollte, um die kulturelle Vielfalt in Frieden zu erhalten – diese Frage blieb aber größtenteils unbeantwortet.