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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Angehörige der Beslan-Opfer hoffen auf Europas Richter

Zehn Jahre nach dem schwersten Terroranschlag in der russischen Geschichte, der Geiselnahme von Beslan, beginnt am Europäischen Menschenrechtsgerichtshof der Prozess. Angehörige der mehr als 300 Opfer hatten zuvor vergeblich vor russischen Gerichten geklagt und sich dann an Straßburg gewandt.

Von Gesine Dornblüth | 14.10.2014
    Bewohner von Beslan bei einer Gedenkveranstaltung zum 10. Jahrestag der Geiselnahme in einer Schule (am 1. September 2004), bei der mehr als 300 Menschen starben.
    Rund 500 Angehörigen der Opfer von Beslan haben vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg Klage eingereicht. (picture-alliance / dpa / Evgeny Biyatov)
    Am 1. September 2004 stand Kirill Korotejew am Anfang seiner juristischen Laufbahn. Im Radio hörte er von der Geiselnahme in der Schule im nordossetischen Beslan:
    "Ich erinnere mich noch gut daran, ich war an dem Tag im Büro. Anschließend fuhr ich für mehrere Tage aufs Dorf. Dort gab es keine Telefonverbindungen, kein Radio und kein Fernsehen. Als ich drei Tage später wieder in Moskau war, erfuhr ich von dem ganzen Ausmaß der Katastrophe: mehr als 300 Tote. Das hat mich schwer schockiert."
    Jetzt vertritt Korotejew die Angehörigen der Opfer vor dem Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Rund 500 Personen haben dort Klage eingereicht. Einer der Kernpunkte ist die Rolle der Sicherheitskräfte bei der Befreiung der Geiseln. Sie setzten schwere Waffen ein, unter anderem Granatwerfer.
    Russischer Staat soll für viele Opfer verantwortlich sein
    Bei dem Beschuss geriet die Turnhalle in Brand, dort waren viele Geiseln gefangen, die meisten kamen in den Flammen um. Diejenigen, die sich noch retten konnten, taten dies aus eigener Kraft oder mithilfe örtlicher Bewohner. Die Feuerwehr begann erst Stunden später mit den Lösch- und den Rettungsarbeiten.
    Die Kläger meinen deshalb, dass der Staat für viele Opfer verantwortlich ist. Das sei aber vor russischen Gerichten nie untersucht worden, sagt der Anwalt Kirill Korotejew:
    "Keiner der Militärs, keiner der Leiter der Antiterroroperation wurde je zur Verantwortung gezogen. Offiziell heißt es grundsätzlich, dass an allen Opfern ausschließlich die Terroristen schuld seien. Sie sind wirklich für eine große Zahl der Opfer verantwortlich. Aber ein Teil der Verantwortung liegt auch bei den russischen Machthabern. Doch darüber reden sie natürlich nicht."
    Warnungen vor Anschlag wurden anscheinend ignoriert
    Weiter fragen die Angehörigen, weshalb es überhaupt zu der Geiselnahme kommen konnte. Denn es hatte Warnungen gegeben. Korotejew:
    "Es gab Telegramme, in denen von einem bevorstehenden Anschlag die Rede ist. Sie wurden Ende August aus Moskau in den Nordkaukasus geschickt. Die Machthaber wussten also von dem bevorstehenden Anschlag. Sie haben aber nichts unternommen, um ihn zu verhindern."
    Am 1. September, dem Tag der Geiselnahme, habe lediglich ein einziger Polizist in der Nähe der Schule gestanden. Die Telegramme mit den Warnungen existieren. Die Kläger werden sich bei der Verhandlung in Straßburg außerdem auf hunderte Zeugenaussagen stützen, auf Fotos und Videoaufnahmen:
    Neue Ermittlungen in Russland wenig wahrscheinlich
    "Es geht darum, die Wahrheit zu finden. Ich möchte, dass das Urteil, wenn es kommt, dafür sorgt, dass auch in Russland neue Ermittlungen in Sachen Beslan aufgenommen werden. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass das wenig wahrscheinlich ist. Das Straßburger Menschenrechtsgericht hat nämlich auch vielen Tschetschenen recht gegeben, die gegen den russischen Staat geklagt hatten. Nicht einmal wurde daraufhin ein Verfahren in Russland neu aufgerollt."
    Korotejew rechnet damit, dass der Prozess viele Jahre dauern wird.