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Europäisches Glockenzentrum Kempten
Forschung zum Wohle der Glocken

Kirchenglocken können sehr alt werden - doch sie halten nicht ewig. Irgendwann entstehen Ermüdungsrisse, die den Klang unwiederbringlich zerstören können. Im Schallabor in Kempten werden Schäden an Glocken frühzeitig erkannt - und die Forscher wissen, wie man die meist alten und oft auch berühmten Glocken schützen und bewahren kann.

Von Sibylle Kölmel | 31.12.2017
    Der Geschäftsführer des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken in Kempten, Michael Plitzner, untersucht im Schalllabor den Klöppel einer Kirchenglocke
    Der Geschäftsführer des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken in Kempten, Michael Plitzner, untersucht im Schalllabor den Klöppel einer Kirchenglocke (dpa)
    So läuten die Glocken des Magdeburger Doms.
    [Glockenleuten]
    So klingen die der Leipziger Nikolaikirche.
    [Glockenleuten]
    So die der Leipziger Thomaskirche.
    [Glockenleuten]
    Und das sind die Glocken des Doms zu Köln.
    [Glockenleuten]
    Von Köln erstmal ins Allgäu. Hier, in einem Landstrich, in dem es ohnehin viel bimmelt, läutet und klingt, nämlich weil allerorts Kühe mit ihren Kuhglocken auf den Wiesen und Weiden stehen, hat an der Fachhochschule Kempten eine besondere Einrichtung ihren Sitz: das Europäische Kompetenzzentrum für Glocken. Andreas Rupp, der Leiter dieses Zentrums und ich stehen auf dem Campus - vor zwei riesigen, doppelten Türen aus Stahl.
    "Also wir gehen jetzt hier rein in das Schallabor, das wir nutzen, um das Glockenläuten hier mit unseren Glocken ohne Störung von anderen laufen zu lassen."
    Testläuten im schallgedämpften Raum
    Das Licht geht an - und wir befinden uns in einem sehr großen und sehr hohen Raum. Er ist komplett schallgedämmt durch überall an den Wänden und an der Decke befestigte große Dreiecke aus hellem Schaumstoff. Auf dem Boden aufgebaut, an Stahl- oder Holzjochen hängend: Versuchsglocken, gegossen in unterschiedlichen Ländern, aus Frankreich, Italien, Österreich, der Schweiz. Alle sind sie, wie Andreas Rupp sagt, "läutebereit" - und das klingt dann, Achtung, Kopfhörer auf! zum Beispiel so:
    [Glockenleuten]
    Kirchenglocken hängen im isolierten Schalllabor des Glockenforschungszentrums in Kempten 
    Im isolierten Schalllabor des Glockenforschungszentrums in Kempten werden Kirchenglocken untersucht (dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Gemessen wird von den Forschern zum Beispiel an dieser Glocke, einer prachtvollen Schweizerin. Andreas Rupp:
    "Sie sehen hier überall auf dem Umfang Sensoren, die uns die Verformung des Materials dann geben, und Sie sehen hier unten eine ganze Reihe von verschiedenen Klöppeln, mit denen wir unterschiedliche Läute-Bedingungen, Läute-Kulturen simulieren, um dann zu schauen, wie gut unsere Computermodelle das wiedergeben. Das heißt, hier wird sozusagen verifiziert, was wir dann im Computer simulieren."
    Klöppelform beeinflusst die Beanspruchung und Klang
    Es ist nämlich so: Beim Läuten werden die teils schon sehr alten, historisch wertvollen und oft großen und schweren Glocken meist ziemlich beansprucht. Dadurch, wie sie schwingen, wie sie aufgehängt sind und auch durch den Klöppel. Der schlägt manchmal zu wuchtig oder anders ungünstig. Man versuche hier, die Klöppelform zu optimieren, sagt der Leiter des Forschungszentrums, Andreas Rupp:
    "Und zu schauen, welche Formteile, ob dann die Kugel größer oder kleiner gemacht werden muss, ob dann der Vorschwung durch seine Bewegung und die entsprechende Verformung dann den Klöppel länger oder kürzer an der Glocke hält, das sind hochkomplexe Zusammenhänge und denen gehen wir zum Beispiel nach mit Simulationswerkzeugen, die man im Automobilbau in der Crash-Simulation einsetzt."
    Und: Mit verschiedenen Klangbildaufzeichnungen und sensorischen Messungen mit speziellen Messtechniken "helfen" die Wissenschaftler den Glocken, sich maximal zu entfalten. Sie "wecken" sozusagen ihren schönsten und vollsten - und individuellsten - Klang. Eine Frage dabei ist beispielsweise, wie die Form des Klöppels den Klang beeinflusst:
    Andreas Rupp: "Der Klöppel berührt die Glocke im sogenannten Glockenkuss für etwa eine halbe tausendstel Sekunde, und in dieser halben tausendstel Sekunde passiert alles, was das Glockenklingen dann eben bedeutet, wie es sich darstellt. Und das heißt, wir müssen an dieser halben tausendstel Sekunde arbeiten, was dort passiert, wenn die beiden sich berühren: dass das nicht zu hart ist, dann klatscht es, das es nicht zu weich ist, dann gibt es keine Erregung, dann ist es zu laut, dann wird es zu leise und die Glocke wird nicht in allen ihren Tönen angeregt - sondern das muss ein richtig wohldefinierter Kontakt sein, damit alle Töne der Glocke wohl erklingen können und auch kein Risiko entsteht, dass die Glocke zerschlagen wird."
    Schwingverhalten lässt Risse identifizieren
    Jede Glocke und ihr Klang sind einzig und einmalig. Mithilfe des "musikalischen Fingerabdrucks" beschreiben die Forscher den Zustand der Glocke: Wie geht es der Glocke in diesem Moment? Hat sie eventuell schon einen kleinen Riss? Ist sie vielleicht nicht besonders gut gegossen? Weisen eventuelle Schweißnähte Mängel auf? Ist die Glocke durch den Klöppel sehr stark ausgeschlagen? Um all das herauszufinden, schlagen die Glockensachverständige die Glocke mit einem Klöppel an, um sie zum Klingen und damit zum Schwingen anzuregen. Das, was dann über den Klang zu hören ist, spiegelt das Schwingverhalten der Glocke wieder, erklärt Michael Plitzner, Glockensachverständiger aus Kempten:
    "Und im Schwingverhalten kann man dann charakteristische Spezifikationen analysieren, die eben Hinweise geben können auf Risse. Und weil eben diese feinen Klangspezifikationen dort uns die Möglichkeit geben, Risse zu identifizieren, kann man eben auch Risse, die vielleicht an der Außenoberfläche der Glocke noch gar nicht sichtbar sind, aber im Inneren der Glocke sich vielleicht schon ausbreiten, können wir solche Risse also schon identifizieren, ohne dass wir den Riss sehen können."
    Der Geschäftsführer des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken Michael Plitzner (l) und der wissenschaftliche Leiter der Einrichtung Andreas Rupp begutachten im Schalllabor den Klöppel einer Kirchenglocke 
    Der Geschäftsführer des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken Michael Plitzner (l) und der wissenschaftliche Leiter der Einrichtung Andreas Rupp begutachten im Schalllabor den Klöppel einer Kirchenglocke (dpa / Karl-Josef Hildenbrand)
    Da Risse sich relativ schnell ausbreiten, können wiederholte Messungen ziemlich zuverlässig darstellen, dass der Klang der Glocke sich dadurch verändert. Bleibt das Schwingverhalten jedoch identisch, ist das ein Zeichen für die Intaktheit der Glocke. Michael Plitzner:
    "Das nennt sich also musikalischer Finderabdruck. Warum - weil eben diese Glocke auch aufgrund der Innschriften, dadurch dass es ein Handwerkstück ist, ist die nicht ganz rund, perfekt und eben, sondern hat immer auch irgendwo eine Macke, eine Kerbe, eine Delle oder irgendwas anderes - all das wirkt sich natürlich auf den Klang aus und dadurch ist der Klang jeder Glocke unverwechselbar."
    Leipziger Glocken sollen durch Sanierung gerettet werden
    Vor den Toren Leipzigs liegt östlich ein kleiner Ort mit dem Namen Panitzsch. Nahe Panitzsch kreuzten sich einst die beiden wichtigsten mittelalterlichen Handelsstraßen, die alte Salzstraße und die Via Regia. Außerdem hat Panitzsch eine kostbare barocke Kirche mit wechselnden Ausstellungen und einem feinen Konzertangebot. Die Kirche ist ein ursprünglich romanischer Bau aus dem 13. Jahrhundert. Diese und der sie umrundende Friedhof liegen erhöht auf einer Endmoräne - und sind an diesem Nachmittag in warmes Sonnenlicht getaucht.
    Ich bin hierhergefahren, weil mir Michael Plitzner in Kempten von den kostbaren, mit wertvollen Ritzzeichnungen, durch einen Riss beschädigten und von ihm untersuchten Panitzscher Kirchenglocken erzählt hatte:
    "Und dort konnten wir feststellen, dass eben diese Glocke mit großer Wahrscheinlichkeit in der Kriegszeit, in der sie vom Turm genommen wurde, geschädigt wurde, dass dieser Riss sich jetzt erst später nach verschiedenen Sanierungsarbeiten geöffnet hat, aber dass durch eine geeignete Umhängung der Glocke und bessere Läutebedingungen - anderer Klöppel rein, anderer Läutewinkel, wird diese Glocke auch mit diesem Riss weiter läuten können. Denn wenn man diesen Riss jetzt reparieren würde, dann würden diese aufwendigen Ritzzeichnungen komplett verschwinden."
    Pfarrer Reinhard Freier und ich klettern also auf den Turm. Und da hängen die drei in ihren Holzjochen im Glockenstuhl nebeneinander - mächtig und schwer. Auf der Flanke der größten Glocke unverkennbar: der Kreuzriss, zart, an der Oberfläche. Pfarrer i. R. Reinhard Freier:
    "Die mittelgroße Glocke, die hier links außen hängt, ist die älteste und stammt aus dem letzten Drittel 13., 14. Jahrhundert, also 1383, und die mittlere Glocke aus eben jener Werkstatt, auch Nikolas Eisenberg in Leipzig, ist von 1459. Und die rechte Glocke hier, also die Glocke drei, ist eine barocke Glocke aus der Gießerei Heinze in Leipzig von 1759."
    Und so klingen sie in Gis, Fis und Cis:
    [Glockenleuten]
    Die Glocken-Untersucher aus Kempten befinden nach dreitägiger Untersuchung die 30 Kilo-Klöppel als deutlich zu schwer für die Glocken, diese werden durch leichtere ersetzt werden. Pfarrer Reinhard Freier:
    "Und dann wird also auch die Aufhängung eine andere sein, denn so wie es jetzt ist, geht es nicht mehr. Die müssen auch aus den Jochen raus, denn die Glocke soll gedreht werden, dass diese Stelle dann generell geschont wird, und aber nicht bloß 15 Grad, sondern mindestens 90, das leuchtet mir eigentlich auch ein."
    Die kostspieligen Umbauarbeiten werden Anfang 2018 in Leipzig vollzogen, Ostern soll alles fertig sein.
    Glockenklang als kulturelle Heimat
    Der Klang von Glocken kann verschiedene Gefühle auslösen. Man assoziiert Freude, Aufregung, Trauer. Und: vielleicht Heimat - oder eine Art von Geborgenheit.
    [Umfrage]: "Heimat / Geborgenheit / Schiller / keine Gefühle / Zuhausesein / Draufwarten / komisch, wenn es nicht läutet"
    Andreas Rupp, der Leiter des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken an der FH Kempten beschreibt es so:
    "Wir können unsere Ohren nicht schließen. Das heißt, der Klang der Glocke erreicht uns, ob bewusst oder unbewusst, und für mich kann ich sagen, dieser Glockenklang ist etwas sehr Angenehmes, auch wie Sie sagen: Beruhigendes, was mich in irgendeiner Weise auch auf den Boden kommen lässt. Was ganz schön ist, ein Glockenklang, wenn man in einer schönen Landschaft ist, der irgendwo von weiter herkommt, das hat eine sehr, sehr friedliche Ausstrahlung, eine sehr beruhigende Ausstrahlung. Und ich denke, das ist auch etwas, was sich über unser Leben dann im Gehirn und im Gehör verdichtet, und damit ist es ein Stück Heimat letztlich auch, ne kulturelle Heimat, die wir sehr unbewusst einfach verinnerlicht haben."