Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Europäisches Parlament
Ein Jahr "Große Koalition"

Im Europaparlament finden sich Mehrheiten normalerweise zu jedem Thema neu, eine Regierungskoalition gibt es nicht. Um sich gegen die seit der Europawahl 2014 erstarkten links- und rechtsextremen Parteien zu behaupten, fand sich nach der Wahl dennoch eine Art Große Koalition zusammen. Trotzdem ist das Europäische Parlament in dieser Legislaturperiode unberechenbarer geworden.

Von Thomas Otto | 01.07.2015
    Im EU-Parlament in Straßburg stimmten 535 Abgeordnete zu, 127 Parlamentarier sprachen sich dagegen aus, 35 enthielten sich. Die Abstimmungen wurden zwischen den beiden Parlamenten live per Video übertragen.
    Im EU-Parlament Straßburg wurde die zeitgleiche Abstimmung in Kiew live per Video übertragen. (picture alliance / dpa / EPA / PATRICK SEEGER)
    Die großen Gewinner der Europawahl 2014 waren linke, vor allem aber rechte EU-Skeptiker und Rechtsextreme. Die Stimmengewinne links und rechts der Mitte haben es damit schwerer gemacht, Mehrheiten zu bilden. Denn das Europaparlament unterscheidet sich von den meisten anderen Volksvertretungen dadurch, dass es keine Regierungskoalition kennt. Mehrheiten finden sich zu jedem Thema neu, Abgeordnete einer Fraktion stimmen nicht selten gegensätzlich ab.
    Manfred Weber, Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion, hat gleich zu Beginn der Legislaturperiode deshalb folgende Marschrichtung vorgegeben:
    "Europa steht in den nächsten fünf Jahren vor der großen Frage, wie wir den Populismus zurückdrängen in vielen unserer Mitgliedsstaaten, der leider auch im Europäischen Parlament angekommen ist. Der Rechtsextremismus, der Linksextremismus. Und das wird uns nur gelingen, wenn wir seriöse Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit geben. Und diese Antworten können wir nur geben, wenn Sozialisten und die Europäische Volkspartei in einer Großen Koalition zusammenarbeiten."
    Große Koalition stieß von Anfang an auf Widerstand
    Die Große Koalition gegen die Extremisten am linken und rechten Rand - so das politische Mantra Webers. Von Anfang an stieß das auf heftigen Widerstand, nicht nur bei den Parteien außerhalb der politischen Mitte. Auch deutsche Sozialdemokraten wehrten sich gegen diese Idee. Bei der ersten großen Entscheidung des Parlaments, der Abstimmung über die neue EU-Kommission im Oktober, stand sie aber bereits, die GroKo, wie damals der SPD-Abgeordnete Jo Leinen erklärte:
    "Von daher, glaube ich, gibt es in der Tat einen Deal, dass wir eine Juncker-Kommission wollen und jetzt nicht ein Massensterben von Kandidaten veranstaltet haben."
    Konservative und Sozialdemokraten hatten sich darauf geeinigt, mehrere umstrittene Kandidaten des jeweils anderen politischen Lagers für die Posten der EU-Kommissare gegenseitig anzuerkennen.
    Seitdem hat die Große Koalition recht gut funktioniert. Nach Analysen der unabhängigen Onlineplattform Vote-Watch hat die GroKo 80 Prozent der Abstimmungen im Parlament für sich entschieden und damit deutlich mehr als in den beiden vergangenen Legislaturperioden.
    Streit um TTIP
    Und doch kracht es immer wieder im Gebälk. Mit einer linken Mehrheit verwiesen die Sozialdemokraten im November das Fluggastdatenabkommen mit Kanada an den Europäischen Gerichtshof – gegen die Stimmen der Konservativen. Vor allem streiten sich die Fraktionen um die Haltung zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP.
    Eine Empfehlung des Parlaments an die Kommission in Sachen TTIP wurde zwar mit viel Mühe im Handelsausschuss vorbereitet, die Abstimmung im Parlament dann aber abgesagt, wie Anfang Juni der sozialdemokratische Fraktionschef Pittella in der entsprechenden Parlamentssitzung betonte.
    "Es geht gar nicht um die Abstimmung. Die Abstimmung ist verschoben worden mit einer Entscheidung des Parlamentspräsidenten. Der hat wegen der Vielzahl der Änderungsanträge den Bericht in den Ausschuss zurückverwiesen."
    Kritiker werfen dem sozialdemokratischen Parlamentspräsidenten Schulz vor, verhindern zu wollen, dass der Tiefe Bruch der GroKo in Sachen TTIP zu öffentlich wird. In der turbulenten Debatte zielte CSU-Mann Manfred Weber dann auch auf andere Frontlinien ab:
    "Mir macht das Angst, wenn ich seh, wie hier die beiden Extremen im Haus, nämlich die Linksradikalen und die Rechtsradikalen, sich gegenseitig in Rage reden und andererseits die Grünen an der Seite dieser Leute stehen. Mir macht das große Sorge."
    Schwerer Stand für die Grünen
    Als "radikal" brandmarken und Rechts und Links gleichsetzen – ein beliebtes Mittel konservativer Rhetorik. Etwas Wahres ist aber dran: Den Grünen fällt es zwischen diesen Fronten schwer, ihre eigene Position zu finden. Fraktionschefin Rebecca Harms wehrt sich deshalb entschieden:
    "Wenn jetzt jeder an den Pranger gestellt wird, als links- oder rechtsradikal, dann frage ich mich, was wir für eine Zusammenarbeitsbasis in diesem Haus haben."
    Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte - in diesem Fall die Liberalen. In der Mitte des politischen Spektrums haben sie bei Abstimmungen die meisten Optionen eine Koalition in ihrem Sinn zu organisieren. Mit Erfolg: Die meisten Abstimmungen am Parlament haben sie gewonnen.
    Ganz anders die EU-Kritiker rechts der Konservativen. Sie sind zersplittert, seit dem 16. Juni gibt es eine dritte Fraktion: Rechtsextreme und Rechtspopulisten um die Französin Marine Le Pen haben die Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheit" (ENF) gegründet.
    Trotz Großer Koalition: Das Europäische Parlament ist in dieser Legislaturperiode unberechenbarer geworden. Damit könnte auch in Zukunft die Zusammenarbeit mit der Kommission schwieriger werden.