Freitag, 19. April 2024

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Europapolitiker Lagodinsky (Grüne) zu Belarus
Lukaschenko versucht, Mangel der EU-Migrationspolitik auszunutzen

Seit Wochen schleust Belarus gezielt Flüchtlinge nach Litauen - offenbar als Revanche für die EU-Sanktionspolitik. Präsident Lukaschenko missbrauche die Migranten als Druckmittel, sagte der Grünen-Europapolitiker Sergey Lagodinsky im Dlf. Trotzdem hätten sie ein Recht auf ein ordnungsgemäßes Asylverfahren.

Sergey Lagodinsky im Gespräch mit Stefan Heinlein | 06.08.2021
Kurz vor dem ersten Jahrestag der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Belarus und dem Beginn der Proteste der Opposition, ist Diktator Alexander Lukaschenko entschlossen, nicht nur die Demokratiebewegung im eigenen Land mit allen Mitteln im Schach zu halten, sondern sich auch an der EU für ihre Sanktionspolitik zu rächen.

Flüchtlinge werden zum Spielball

Gezielt schleust das Regime seit Wochen Flüchtlinge nach Belarus, um sie dann ins benachbarte Nachbarland Litauen weiterziehen zu lassen. Ein Akt der Aggression, so die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Das Kalkül Lukaschenkos droht aufzugehen. In Litauen führt der Zuzug der Migranten inzwischen zu politischen Turbulenzen. Bürger demonstrieren gegen den Bau von Flüchtlingsunterkünften, es gibt Handgemenge mit der Polizei. Die litauische Regierung reagiert mit Gesetzesverschärfungen: Asylverfahren werden verkürzt, Migranten in Lagern interniert. Und mehr als 300 der zum Spielball gewordenen Flüchtlinge wurden von litauischen Behörden über die Grenze nach Belarus zurückgedrängt. Minsk reagierte mit der Grenzschließung.
Belarus setze illegale Migration als politische Waffe gegen Litauen und die EU ein, sagte Elizabeth Bauer, die Leiterin des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Vilnius, bei Deutschlandfunk Kultur. Sie hat gerade einen Bericht darüber veröffentlicht, wie das belarussische Regime von Alexander Lukaschenko gezielt irakische Migranten über die EU-Grenze nach Litauen schleust. Die Reise von Bagdad über Minsk nach Litauen gebe es für 6000 Euro, für 15.000 Euro bis nach Deutschland.
Der Europaabgeordnete der Grünen, Sergey Lagodinsky, forderte im Dlf mehr Solidarität mit Litauen. Es sei verständlich, dass das baltische EU-Land seine Grenze zu Belarus stärker schützen wolle. Lagodinsky befürwortete auch die Bemühungen der EU, die überwiegend aus dem Irak stammenden Migranten schon in ihrer Heimat an einer Ausreise nach Belarus zu hindern.
Kommentar: Lukaschenko schlägt immer zielloser um sich
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Das Interview im Wortlaut:

Stefan Heinlein: Was ist Ihr Eindruck? Versucht Alexander Lukaschenko, die Europäische Union zu erpressen?
Sergey Lagodinsky: Ja, das ist offensichtlich. Das wurde auch vorbereitet. Schon im Juni wurde das Abkommen aufgekündigt, wonach Belarus verpflichtet ist, die Drittstaatler zurückzunehmen, falls sie keinen Status in der EU bekommen. Lukaschenko hat schon zu Beginn dieser neuerlichen Zuspitzung, nach der Verhängung der letzten Sanktionspakete, gesagt, dass er die Zusammenarbeit mit der EU, was die Bekämpfung des Drogenverkehrs angeht und der Migration, aufkündigt. Es war vorbereitet und das wussten wir. Die litauischen Kollegen haben schon im Juni gewarnt, dass das kommen wird.
Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko bei einer Parade am Unabhängigkeitstag. (2016)
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"Nicht in Panik verfallen, denn das ist genau das, was Lukaschenko will"

Heinlein: Die europäische Innenkommissarin Johansson – ich habe es vorab schon genannt – nennt das Verhalten Lukaschenkos einen Akt der Aggression. Teilen Sie diese recht drastische Wortwahl?
Lagodinsky: Ich finde, wir müssen hier alle ein bisschen nicht in Panik verfallen, denn das ist genau das, was Lukaschenko will. Er hat gespürt – Ihr Kollege hat es auch im Bericht gesagt -, das ist die Achillesverse der Europäischen Union, unsere Migrationspolitik oder der Mangel einer gemeinsamen Migrationspolitik, und das versucht er auszunutzen.
Eine Luftaufnahme zeigt unzählige Demonstranten  am 16. August 2020 in Minsk, Belarus. In der belarussischen Hauptstadt und anderswo im Land gab es täglich Demonstrationen, nachdem Präsident Alexander Lukaschenko den von Kritikern als betrügerisch bezeichneten Wahlsieg vom 9. August verkündet hatte.
Aufstand in Belarus - "Wir haben uns vor diesem Sommer nicht gekannt"Aus Ohnmacht ist Entschlossenheit geworden, Belarus erwachte von heute auf morgen aus dem Dornröschenschlaf. Wie konnte unbemerkt ein so selbstbewusstes Volk heranwachsen?
Erstens müssen wir Solidarität mit dem kleinen baltischen Land zeigen. Wir müssen schauen und auch Verständnis dafür zeigen, finde ich, dass zum Beispiel die Grenze von ihnen befestigt wird. Das war lange Zeit eine grüne Grenze zwischen Litauen und Belarus. Aber es muss auch klar sein, es müssen rechtliche Verfahren und die rechtlichen Positionen der Menschen auch eingehalten werden. In der Ruhe liegt auch hier die Kraft, aber es muss geschlossen und klar gehandelt werden.

"Ruhig bleiben, aber geschlossen und entschlossen handeln"

Heinlein: Keine Panik, sagen Sie. In der Ruhe liegt die Kraft. Aber blicken wir auf die Zahlen: Allein im Juli gab es mehr als 2.000 illegale Grenzübertritte von Belarus nach Litauen. Ab wann wird es kritisch? Ab wann sollte man in Panik verfallen und nicht mehr ruhig bleiben?
Lagodinsky: Ruhig bleiben, aber geschlossen und entschlossen handeln. Das ist das Wichtigste. Es gibt Projektionen, dass bis zu 10.000 Migrantinnen und Migranten – meistens sind es Männer, muss man sagen, wenn man die Bilder sieht – nach Litauen bis Ende des Sommers kommen würden. Aber jetzt haben die litauischen Behörden eingeschritten. Es wurde die Grenze de facto geschlossen – von beiden Seiten, wie wir gehört haben. Insofern ist die Situation etwas mehr unter Kontrolle.
Wichtig ist, dass Deutschland und andere Länder jetzt Solidarität zeigen und zum Beispiel anbieten, diese Menschen aufzuteilen und rechtsstaatliche Verfahren für sie zu garantieren – genau das, woran die EU bisher krankt, dass wir diese Abreden nicht haben. Dann muss man es im Sinne einer Solidarität mit dem kleinen baltischen Staat anbieten, um auf diese Art und Weise die Litauer zu entlasten.

"Asylverfahren für alle Betroffenen"

Heinlein: Sie haben die ungesicherte Grenze, Herr Lagodinsky, angesprochen. Die Grenze zwischen Litauen und Belarus ist fast 700 Kilometer lang. Wie schwer ist es, diese Grenze dicht zu machen, und sollte die Europäische Union die Regierung in Litauen auch unterstützen, etwa mit Stacheldraht, mit Soldaten, mit Zäunen?
Lagodinsky: Die Frontex-Agentur ist auch dabei. Ich finde es auch legitim zu sagen, dass ein Staat die eigene Grenze kontrollieren möchte. Das ist ja auch die EU-Außengrenze. Allerdings ist es uns wichtig, der EU wichtig, auch den NGOs wichtig, dass diese Grenzbefestigung einhergeht mit der Einhaltung der klaren rechtlichen Vorgaben, die es dafür gibt. Das heißt, Asylverfahren für alle Betroffenen, egal ob sie instrumentalisiert werden oder nicht. Menschen haben Menschenrechte, auch wenn sie so wie hier von Lukaschenko missbraucht werden.
Heinlein: Sie haben Frontex, die EU-Grenzschutzagentur angesprochen. Bislang sind etwa 100 Mann in Litauen aktiv. Reicht diese Präsenz aus, oder muss diese Präsenz aufgestockt werden und wenn ja auf welche Zahl?
"Lagodinsky: Das müssen wir mit litauischen Kolleginnen und Kollegen gemeinsam und auch mit Kolleginnen und Kollegen in Brüssel aushandeln und schauen. Das ist für Litauen auch eine neue Situation. Die litauischen Regierungen, muss man sagen, haben diese Grenze immer als eine offene Grenze betrachtet, weil sie wollten oder hatten gewollt, Belarus gewissermaßen in die EU einzubinden, die belarussischen Bürgerinnen und Bürger einzubinden. Jetzt rächt sich leider, muss man sagen, dieser gute Wille. Das ist eine neue Situation und wir müssen schauen, was dafür notwendig ist. Aber wir wollen natürlich auch keine Festung Europas. Hier wird aber eine Situation wirklich missbraucht von einem Machthaber, der praktisch verrückt geworden ist, hier aber ganz klug agiert, muss man sagen, und unsere Schwächen ausnutzt.

"Es kann nicht sein, dass die Fluggesellschaften diese Situation ausnutzen"

Heinlein: Die Flüchtlinge – vorwiegend Männer, haben Sie gesagt – kommen überwiegend aus dem Irak, hat man festgestellt, und werden aus Istanbul oder aus Bagdad direkt nach Belarus geflogen. Muss hier vielleicht die Europäische Union den Hebel ansetzen, diese Flüge verhindern?
Lagodinsky: Ja, verhindern oder regulieren im Einvernehmen mit den Herkunftsländern in diesem Falle, und es gibt in der Tat schon Absprachen mit der irakischen Seite, auch den irakischen Fluggesellschaften. Es kann nicht sein, dass die Fluggesellschaften hier diese Situation ausnutzen, aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen. Aber das wäre ein Teil der Strategie, mit Ländern wie dem Irak oder der Regierung in der Türkei Gespräche aufzunehmen. Das wird auch getan. Mit dem Irak gibt es jetzt auch eine Abmachung, dass bis Ende der Woche keine Flüge oder weniger Flüge stattfinden.

Weitere Sanktionen möglich

Heinlein: Welche anderen Möglichkeiten hat denn Brüssel, auf diese sehr deutliche, diese sehr massive Bedrohung aus Minsk zu reagieren? Das Instrument der Sanktionen ist ja, Herr Lagodinsky, inzwischen schon weitgehend ausgeschöpft.
Lagodinsky: Das würde ich nicht so sehen. Wir haben mehr Möglichkeiten, Sanktionen zu verhängen. Wir müssen auch darüber nachdenken, ob wir doch nicht zu sektoralen Sanktionen zumindest in bestimmten begrenzten Gebieten kommen. Die litauische Regierung spricht zum Beispiel darüber, dass sie Kalidünger, diese Exporte stoppen. Wir können bei der Holz verarbeitenden Industrie ansetzen.
Und es gibt etwas, was das Europäische Parlament schon lange verlangt hat, dass wir über das weltweite SWIFT-System, das Finanzsystem sprechen und darüber reden, inwiefern es möglich wäre, Belarus hier von diesem System abzukoppeln. Das ist nicht einfach, aber das muss als Option zumindest eruiert werden. Die Leute auch um Tichanowskaja herum, um die ehemalige Präsidentschaftskandidatin, haben eine ganze Liste von Möglichkeiten, um mit Sanktionen weiterzuarbeiten. Das ist ein schwieriges Mittel, muss ich auch sagen, aber was bleibt uns sonst noch übrig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.