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Europawahl
Karlsruhe kippt Sperrklausel

Bei der Europawahl in drei Monaten können auch die kleinen deutschen Parteien Sitze für ihre Stimmen bekommen. Die jüngst beschlossene Drei-Prozent-Hürde verstoße gegen das Grundgesetz, urteilt das Bundesverfassungsgericht.

26.02.2014
    Jede Sperrklausel sei ein Eingriff in die Chancengleichheit der politischen Parteien, sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung. Außerdem sei die Stimmengleichheit der Wahlberechtigten nicht gegeben. Damit sei die Drei-Prozent-Hürde unvereinbar mit dem Grundgesetz.
    Die Stimme jedes Wählers müsse grundsätzlich die gleiche Erfolgschance und den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben, sagte Voßkuhle über die erst im vergangenen Oktober festgesetzte Hürde. Ausnahmen seien nur durch ähnlich gewichtige Gründe zu rechtfertigen - etwa die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Dies sei nicht zu erkennen. Die Entscheidung sei mit 5:3 Stimmen erfolgt. Das Europäische Parlament sei zwar auf dem Weg, sich als institutioneller Gegenspieler der EU-Kommission zu profilieren, sagte der Gerichtspräsident. Diese Entwicklung könne aber noch nicht mit der Situation im Bundestag verglichen werden, "wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist".
    Gegen die Sperrklausel hatten mehr als 1.000 Bürger und 19 kleinere Parteien geklagt. Die Freien Wähler und die Piratenpartei begrüßten die Entscheidung. Auch wenige Abgeordnete könnten im Europaparlament etwas erreichen, sagte die Spitzenkandidatin der Piratenpartei, Julia Reda, im Fernsehsender Phoenix. Laut Urteil können Parteien nunmehr bereits mit etwa einem Prozent der abgegeben Stimmen einen der 751 Sitze im EU-Parlament erhalten.
    Die Details der Wahlen zum EU-Parlament darf jeder Mitgliedsstaat selbst regeln. In 13 Ländern gibt es keine Sperrklausel.
    "Doppelte Ungerechtigkeit"
    Die Kläger warfen den im Bundestag vertretenen Parteien vor, mit der Sperrklausel eigene Interessen verfolgt zu haben und es den Kleinparteien zu erschweren, geeignete Kandidaten zu bekommen und etwa Spenden einzuwerben. Der Verfassungsrechtler Hans-Herbert von Arnim, der einige klagende Parteien vor Gericht vertritt, spricht von einer "doppelten Ungerechtigkeit": "Die Stimmen, die für solche kleineren Parteien abgegeben worden sind, fallen nicht nur unter den Tisch, sondern kommen auch noch den anderen Parteien, für die sie gar nicht gemeint waren, zugute."
    Porträt des Verfassungsrechtlers und Parteienkritikers Hans-Herbert von Arnim.
    Hans-Herbert von Arnim ist Verfassungsrechtler, Verwaltungsrechtsexperte und Parteienkritiker. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Aus Sicht des Bundestages ist die Klausel notwendig, um eine Zersplitterung im EU-Parlament zu verhindern. Kritiker erwarten, dass Rechtspopulisten ohne Sperrklausel mehr Zulauf erhalten. "Nun müssen wir mit dem Urteil leben und auch damit, dass wir Splitterparteien und radikale Kräfte aus Deutschland im EU-Parlament haben werden", erklärten der Vorsitzende und der Co-Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, Herbert Reul und Markus Ferber. Es gebe in allen großen EU-Ländern aus guten Gründen Sperrklauseln.
    Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits Ende 2011 die bis dahin geltende Fünf-Prozent-Hürde kassiert, weil es die Stimmengleichheit der Wähler und die Rechte kleiner Parteien verletzt sah - das Argument der Zersplitterung oder Lähmung des EU-Parlaments konnten die Karlsruher Richter schon damals nicht erkennen. Schließlich gebe es 162 Parteien, die sich zu Fraktionen zusammenschließen. Der Bundestag stimmte daraufhin mit Ausnahme der Linkspartei für die Drei-Prozent-Hürde.
    Nach Berechnungen des Bundeswahlleiters wären ohne Sperrklausel bei der Europawahl 2009 sieben weitere Parteien aus Deutschland in das Europäische Parlament eingezogen: Freie Wähler, Republikaner, Tierschutzpartei, Familien-Partei, Piraten, Rentner-Partei und die ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei).
    Europawahlen finden seit 1979 alle fünf Jahre statt. Schon damals hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der Fünf-Prozent-Hürde befasst und sie für verfassungskonform erachtet. Dem Gesetzgeber stehe es frei, auf Fehlentwicklungen zu reagieren und Sperrklauseln einzuführen, sobald sich die "rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse" im EU-Parlament geändert haben, sagte Voßkuhle.