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Evakuierung Ost-Aleppos
"Die Menschen wissen, dass sie in den sicheren Tod fahren könnten"

Bassam Abdullah von der oppositionellen Syrischen Nationalen Koalition bezweifelt den Erfolg der Evakuierungsmission in Ost-Aleppo. Die Menschen hätten keinerlei Vertrauen in das Assad-Regime, sagte er im DLF. In der Stadt seien 25.000 Söldner unterwegs, Scharfschützen töteten Zivilisten. Deshalb hätten viele Menschen Angst, ihre Wohnungen zu verlassen.

15.12.2016
    Menschen stehen abwartend vor einem Geländewagen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
    Bewohner Ost-Aleppos warten auf den Beginn der Evakuierung ihrer Viertel, unter anderem mit Hilfe des Roten Kreuzes. (AFP)
    "Die Menschen wissen, dass sie von der Angst vor dem Tod in den sicheren Tod fahren könnten", so Bassam Abdullah. Dass die Menschen auf wenigen Quadratkilometern eingekesselt würden, müsse unbedingt verhindert werden, denn sonst werde man ein schlimmes Massaker gegen die Bevölkerung in Aleppo erleben.
    Die Rebellen hätten schon vor Monaten ihre Bereitschaft erklärt, Aleppo zu verlassen, betonte Abdullah. Doch niemand könne ihnen garantieren, dass sie nicht auch in der Region Idlib verfolgt würden. "Russland und Assad wollen keine friedliche Evakuierung in Aleppo", zeigte sich der Oppositionsvertreter überzeugt.
    Die Revoltion gegen Assad werde weitergehen, erklärte er. Hilfe erwarte man von der UNO, aber auch von der Türkei und Deutschland. Die Bundesregierung müsse die Evakuierungsaktion aktiv mit beobachten, beispielsweise durch Luftüberwachung.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Keine Kämpfe mehr in Ost-Aleppo melden die Nachrichtenagenturen und auch Russland erklärt die Kämpfe für beendet. Seit der Nacht gilt offenbar eine neue Waffenruhe, sagen die Rebellen. Auch Zivilisten sollen die letzten Viertel, die noch von Rebellen gehalten wurden, verlassen. Am Telefon ist jetzt Bassam Abdullah. Er ist Botschafter der syrischen nationalen Koalition, einem Bündnis aus verschiedenen Parteien und Bewegungen. Sie ist unter anderem auch von Deutschland als legitime Vertretung des syrischen Volkes anerkannt. Guten Tag, Herr Abdullah.
    Bassam Abdullah: Guten Tag, Frau Kaess.
    "2.000 Verletzte wurden erschossen"
    Kaess: Herr Abdullah, was wissen Sie über die Situation in Ost-Aleppo im Moment?
    Abdullah: Ich habe vor einer halben Stunde eine Videonachricht bekommen von einem Mann von uns in Ost-Aleppo. Der berichtet, dass es tatsächlich etwas Ruhe heute Früh gibt und dass auch dieser Verletzten-Konvoi, dieser Krankenwagen-Konvoi versucht, den Punkt Ravuce zu passieren. Allerdings fehlt uns und auch den Menschen dort jedes Vertrauen in das syrische Regime und auch seine Verbündeten dort, die Söldner, die gegen Syrer dort kämpfen und die Zivilisten dort in Aleppo töten. Gestern sollten mehr als 2.000 Verletzte mit diesem Konvoi evakuiert werden nach einem türkisch-russischen Plan. Und die wurden dort genau an diesem Punkt, den sie jetzt erreicht haben, erschossen. Es gibt Scharfschützen. Da weiß man nicht, wo sie genau sitzen und stehen, und die jagen die Menschen. Und die haben auch natürlich versucht, diesen Konvoi zu stoppen. Für uns ist das ein Zeichen, dass dieses Regime und seine Verbündeten nur so viele Menschen und Zivilisten wie möglich töten will, alles Rache für deren Aufstand gegen das Regime. In Aleppo kämpfen über 25.000 schiitische Söldner dort auf Assads Seite, gegen die Freie Syrische Armee, gegen die syrisch-islamischen Milizen und auch gegen die syrische Zivilbevölkerung dort.
    "Das Vertrauen in das Assad-Regime gibt es schon längst nicht mehr"
    Kaess: Herr Abdullah, was Sie jetzt gerade schildern, diese Tatsache, die auch, glaube ich, ganz verständlich ist, dass Sie kein Vertrauen haben in die syrische Regierung, die sagt, wir bürgen jetzt für die Sicherheit der dort Abziehenden. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite sehen wir Bilder von Menschen, die tatsächlich diese Stadtteile verlassen. Wer ist das?
    Abdullah: Es gab Menschen, die die Stadtteile verlassen konnten, aber alles unter Bedrohung vom Assad-Regime. Das Vertrauen in das Assad-Regime gibt es schon längst nicht mehr. Wir verhandeln eigentlich über diese Situation mit Russland, was den Luftraum von Aleppo kontrolliert. Aber mit diesen Milizen auf dem Boden, da gibt es ja keine Kontrolle. Die Einzigen, die sie kontrolliert, ist ja Iran. Iran kontrolliert Hisbollah, Iran kontrolliert Harakat al-Musawar und über Iran scheint es scheinbar keine Kontrolle zu geben. Russland trägt dafür trotzdem die Verantwortung. Ich habe auch heute Bilder aus Ost-Aleppo gesehen, dass die Russen jetzt diese Planung umsetzen, die sie auch mit den anderen Partnern vereinbart haben, mit Drohnen den Luftraum zu überwachen, um zu sehen, wer wirklich für so was zuständig ist. Das ist ein guter Schritt, aber es ist überhaupt nicht ausreichend, um den Menschen wirklich eine Sicherheit zu geben, Ost-Aleppo zu verlassen, ohne in Gefahr zu kommen.
    Kaess: Dann, Herr Abdullah, wenn ich Sie richtig verstehe, gehen Sie davon aus, dass es Menschen gibt, die Ost-Aleppo aus Angst nicht verlassen werden, auch Ost-Aleppo in den nächsten Tagen nicht komplett evakuiert werden wird?
    Abdullah: Definitiv! Es gibt ja verschiedene Meldungen und die Leute verbreiten auch Videos, die zum großen Teil schrecklich sind. Das sind ja die schlimmsten Kriegsverbrechen, die man in diesem Jahrhundert gesehen hat. Es gibt Menschen, die werden verhaftet an Stützpunkten und die werden gezwungen, Waffen zu tragen und fürs Assad-Regime zu kämpfen. Welche, die Assad im Fernsehen loben, kriegen etwas zum Essen und vielleicht würden sie frei gelassen. Und die Menschen wissen schon, dass sie von einer Angst vor dem Tod in Ost-Aleppo in den sicheren Tod fahren könnten, und daher verlässt auch keiner seine Wohnung. Das ist das Schrecklichste, was aus Aleppo kommt. Über 150.000 Menschen werden auf ungefähr zwei oder drei Quadratkilometer eingekesselt. Wenn das nicht verhindert wird, wenn für die keine sicheren Korridore geschaffen werden, dann werden wir alle die schlimmsten Kriegsverbrechen und Massakern gegen syrische Bevölkerung dort von Aleppo erleben.
    "Diese drei Parteien wollen keine politische Lösung"
    Kaess: Herr Abdullah, gibt es auf der anderen Seite oder haben Sie auch Informationen über Rebellen, die tatsächlich abziehen und in die Provinz Idlib gehen oder gebracht werden, so wie das jetzt eigentlich von syrischer Seite aus gesagt wird, vom syrischen Regime?
    Abdullah: Alle Rebellen haben schon vor einem Monat ihre Bereitschaft erklärt, Aleppo zu verlassen, wenn man die Garantie geben könnte, deren Leben und das Leben ihrer Familie und auch die Zivilisten in Aleppo zu garantieren. Diese Garantien gab es leider nicht, weder von der russischen Seite, noch von der amerikanischen Seite. Daher blieb den Menschen nichts anderes übrig, außer in Aleppo zu bleiben und sich selbst zu verteidigen mit den Mitteln, die sie haben. Das ist etwas, was leider nicht geholfen hat gegenüber der Kriegsmaschinerie von Russland aus der Luft und auch von den Kriegsverbrechen und von diesen schiitischen Milizen auf dem Boden. Die Menschen, die Rebellen waren bereit, Aleppo zu verlassen, aber in friedlicher Art und Weise und um zu gewährleisten, dass die Zivilbevölkerung nicht getötet wird. Das wollte Russland nicht, wollte Iran nicht und wollte Assad nicht. Diese drei Parteien wollen keine politische Lösung, kein politisches Abkommen in Aleppo. Für die ist nur eins wichtig: Die Menschen dort, die gegen Russland gestanden sind, die gegen das Assad-Regime aufgestanden sind, so schnell wie möglich zu bestrafen, und das darf nicht passieren.
    Kaess: Noch einmal kurz meine Nachfrage. Sie haben keine Informationen darüber, dass es Rebellen und Angehörige gibt, die in diesem Moment nach Idlib entweder fliehen können, oder dorthin gebracht werden?
    Abdullah: Sie meinen die Zivilbevölkerung, die dorthin gebracht werden soll?
    "Die syrische Revolution wird nicht aufhören"
    Abdullah: Ja, oder auch Rebellen und ihre Angehörigen.
    Abdullah: Das Abkommen steht schon seit mindestens einem Monat, wie ich gesagt habe, und das Problem ist, die Menschen können nicht garantieren oder man könnte für sie nicht garantieren, dass sie nicht dort in Idlib auch verfolgt werden, bestraft werden und getötet werden. Und das war das Problem, weil das Vertrauen an Russland ist seitdem vorbei. Man spricht über Abkommen und in den letzten Minuten wird alles dann geändert. Das sieht man auch im Sicherheitsrat. Man spricht einen Tag davor für ein Abkommen, um die zivile Bevölkerung in Syrien zu schützen, zu retten, und dann kommen die Russen und am Ende setzen sie das Veto ein gegen Waffenstillstand in Syrien.
    Kaess: Welches Szenario sehen Sie denn voraus für die nächsten Tage, dass bald wieder gekämpft wird in Ost-Aleppo?
    Abdullah: Die syrische Revolution wird nicht aufhören. Was jetzt die Russen und das Assad-Regime in Aleppo getan haben, wird unsere Revolution gegen dieses Regime und seine Verbündeten noch mehr stärken und richtig machen.
    Kaess: Danach sieht es aber im Moment doch überhaupt nicht aus, Herr Abdullah. Die Rebellen sind doch in Aleppo eindeutig unterlegen.
    Abdullah: Aleppo ist eine Stadt, ein Teil von Syrien und es ist auch ein wichtiger Teil. Aber das heißt lange nicht, dass die Revolution gegen das Assad-Regime beendet wird. So ein Präsident, der sich freut, seine Bevölkerung zu töten mit den Söldnern aus anderen Ländern, das ist kein Präsident, und es ist auch absurd zu denken, dass so ein Regime, so ein Präsident ein Teil der syrischen Zukunft werden kann. Daher wird die syrische Revolution weitergehen. Die Opposition steht und die wird auch stärker und wir werden von unseren Fehlern viel lernen, aber die Revolution wird weitergehen und wir werden weiter kämpfen für ein freies Syrien, um das für alle Syrer dann zu schaffen.
    "Wir wollen auch von Deutschland eine aktive Mitarbeit"
    Kaess: Den Punkt haben Sie gemacht. - Wir haben kaum mehr Zeit. Ich möchte noch eine Frage stellen. Was würden Sie sich wünschen für die nächsten Tage, für die Situation in Aleppo? Wer soll die Menschen schützen, die UNO?
    Abdullah: Ja, die UNO wäre ein guter Partner. Aber vor allem wollen wir auch von der Türkei Hilfe, wollen wir auch von Deutschland eine aktive Mitarbeit, aktive Mitbeobachtung dieser ganzen Evakuierung dort in der Region.
    Kaess: In welcher Form?
    Abdullah: Dass man vielleicht aus der Luft etwas überwacht. Die Anti-ISIS-Koalition ist ja da, die können auch über Aleppo fliegen und können auch Russland unter deutlichen Druck setzen, um das zu vermitteln beziehungsweise in einer vertraulichen Art und Weise überwachen zu lassen.
    Kaess: Sagt Bassam Abdullah, Botschafter der syrischen nationalen Koalition, einem Bündnis verschiedener Parteien und Bewegungen. Danke schön für Ihre Zeit heute Mittag, Herr Abdullah.
    Abdullah: Danke auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.