Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Evangelische Kern-Ideen
"Freiheit ist hochgradig bedroht"

Vor 500 Jahren gab Martin Luther mit seinen 95 Thesen den Startschuss für die Reformation, die indirekt unsere Welt verändert hat. Deshalb ist der Reformationstag einmalig ein gesamtdeutscher Feiertag. Wie ist das Reformationsjubiläum gelaufen? Wie geht es weiter bei den Protestanten?

Ulrich Körtner und Johann Hinrich Claussen im Gespräch mit Andreas Main | 31.10.2017
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Streitgespräch zwischen Ulrich Körtner, evangelischer Theologe in Wien, und Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD (Hans Hochstäger / Andreas Schoezel)
    Andreas Main: Ich könnte das, was wir hier heute vorhaben, als Streitgespräch bezeichnen - aber das hört sich vielleicht etwas dramatisch an. Denn die beiden Theologen, mit denen ich verabredet bin, sie sind nun mal beide evangelische Theologen. Beide sind habilitiert. Beide haben eine starke Nähe zur Systematischen Theologie, also das, was beim Katholiken als Dogmatik bezeichnet wird. Noch mehr Gemeinsamkeiten von Johann Hinrich Claussen und Ulrich Körtner gibt es: Beide haben Bücher zur Reformation vorgelegt, die mich jeweils beeindruckt haben: Der eine, Claussen, hat vorgelegt: "Reformation. Die 95 wichtigsten Fragen", der andere, Körtner: "Das Evangelium der Freiheit. Potentiale der Reformation." Claussen ist darüber hinaus auch Mitherausgeber des Buchs "Reformation 2017. Eine Bilanz".
    Aber da hören die Gemeinsamkeiten auch auf. Etwas selbstironisch könnte ich sagen: Der eine - also Ulrich Körtner - ist gecastet und eingekauft als der kritische Theologe, der die eine oder andere EKD-Position in Frage stellt, der andere - Johann Hinrich Claussen - als Vertreter der EKD. Aber so simpel und schwarz-weiß ist es natürlich nicht. Ganz nüchtern betrachtet sieht es so aus: Johann Hinrich Claussen ist EKD-Kulturbeauftragter - und Ulrich Körtner ist Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Die beiden sind am Reformationstag natürlich in diesen Minuten im Ornat unterwegs. Deswegen haben wir dieses Gespräch aufgezeichnet. In Hamburg herzlich willkommen, Johann Hinrich Claussen, guten Morgen.
    Johann Hinrich Claussen: Guten Morgen.
    Main: Und in Wien ebenso herzlich willkommen, Ulrich Körtner, hallo.
    Ulrich Körtner: Grüß' Gott und hallo.
    Main: Zunächst an Sie, Herr Körtner, der Sie dafür bekannt sind, Entwicklungen in der evangelischen Kirche kritisch zu begleiten: Was ist gut oder sogar richtig gut gelaufen im Reformationsjubiläum?
    Körtner: Dass man sich über Jahre vorbereitet hat, also diese Reformations-Dekade gemacht hat, das fand ich - ehrlich gesagt - gut. Es gibt manche, die sagen: Nicht mal in Kuba würde man den Gründungsmythos zehn Jahre feiern. Aber das sehe ich anders. Man hat sich Zeit genommen, Themen der Reformation gegenwartsbezogen auf breiter Basis in die allgemeine Debatte einzuspeisen. Das ist mit manchen Themen besser, mit manchen Themen schlechter gelaufen. Aber das Bemühen darum, das habe ich zunächst einmal gut gefunden.
    "Wir haben unsere eigenen Mobilisierungskräfte überschätzt"
    Main: Und an den, der Angestellter des Veranstalters ist, also Johann Hinrich Claussen: Was ist nicht so richtig gut oder sogar richtig schlecht gelaufen?
    Claussen: Also erst einmal mache ich es wie ein guter Politiker und antworte nicht gleich auf die Frage, sondern knüpfe an das an, was Herr Körtner gesagt hat. Was auch gut gewesen ist, ist das, was wir heute tun und was viele andere auch tun: Dass man richtig ordentlich Bilanz zieht. Das ist eigentlich auch ziemlich ungewöhnlich. Meistens wird ja eine Event-Sau durchs Dorf gejagt - und dann geht's zur nächsten Aktion. Aber schon deutlich vor dem Reformationsjubiläumsende am 31. Oktober sind viele dabei, Bilanz zu ziehen und eben abzugleichen: Was ist gut gelaufen, was ist nicht gut gelaufen?
    Um jetzt aber doch auf Ihre Frage zu antworten - ich bin ja kein Politiker -, kann man schon sagen, dass überall dort, wo die Kirche meinte, für sich selbst feiern zu wollen oder das Reformationsjubiläum zu nutzen für kirchliche Selbstdarstellung - das hat nicht funktioniert. Da haben wir zum Teil auch unsere eigenen Mobilisierungskräfte überschätzt. Aber überall dort, wo wir gemeinsam mit anderen - mit staatlichen Institutionen oder mit Kulturaktivisten und Kulturtreibenden etwas gemacht haben - da ist es gut gegangen.
    "Playmobil-Männchen signifikant für Fixierung auf Luther"
    Main: Aus meiner Sicht, aus Sicht des Medien-Menschen: Insgesamt scheint mir es so gelaufen zu sein, dass die Reformation und ihre Folgen nicht zu dem Medien-Aufreger geworden sind. Also gegen Islam-Debatten ist im Moment einfach kein Blumentopf zu gewinnen. Oder sind da Chancen verpasst worden?
    Claussen: Also: Gegen Islam-Debatten kommt nichts an. Das ist sozusagen die diskursive Neutronenbombe unserer Zeit. Aber ich finde, man kann ja trotzdem versuchen, auch auf andere Weise unaufgeregt und doch interessiert Themen in die Öffentlichkeit zu bringen. Und da bin ich gar nicht so unzufrieden. Ich finde, es ist doch schon ganz schön erstaunlich, was an interessanten und interessierten Berichten und Aufsatz-Artikel-Reihen im "Spiegel", in der "Zeit", auch im Deutschlandfunk gelaufen ist. Da haben viele Qualitätsmedien richtig viel gebracht. Und das zeigt, dass es jetzt zwar nicht das große Aufreger-Thema gewesen ist - 'Pro und Contra Reformation', was soll das auch sein? - aber es gibt in Deutschland ein großes Bildungsbedürfnis. Und das zeigt sich in guter Medienberichterstattung, das zeigt sich in sehr, sehr vielen, sehr, sehr guten Sachbüchern für ein breites, interessiertes Publikum. Das ist jetzt natürlich nicht die Masse, es ist ein bildungsbürgerliches Publikum, das man anspricht. Aber da zeigt sich ein reges, differenziertes Bildungsinteresse. Und das finde ich, das ist gut gelaufen.
    Das Bild zeigt eine Martin Luther Playmobilfur, die eine Feder in der linken und die Bibel in der rechten Hand hält.
    Erfolgreicher als Darth Vader: Der Mini-Luther wurde bislang 1.170.300 mal verkauft, so der Hersteller. (Deutschlandradio / Claudia Hennen)
    Körtner: Kleiner kritischer Nachtrag: Die Bücher über Luther, Biografien über Luther, die sind sehr, sehr breit rezipiert worden. Anderes zum Thema Reformation oder auch zu den Inhalten der Reformation ist weit weniger rübergekommen. Und in Deutschland habe ich das dann beobachten können, wie man sich auch bemüht hat, das wirklich auch als ein Reformationsjubiläum und nicht als ein Luther-Jahr zu feiern. Aber mehr und mehr ist es dann doch eben zu einem Luther-Jahr geworden. Das fing auch schon mit dem Logo an, wo in Schwarz-Rot-Gold eben Luther zu sehen war. Und Luther-Playmobil-Männchen und diese Luther-Zwerge von dem Bildhauer Ottmar Hörl sind dafür signifikant, wie sehr sich das Ganze im Großen wie im Kleinen auf Luther fixiert hat.
    Wir haben das übrigens in Österreich wirklich anders angelegt. Da war ein Höhepunkt - und das war richtig gut, Sie müssen sich klar machen, wir sind ja ein Land mit einer Diaspora von höchstens vier Prozent Protestanten, gut 300.000 - die haben ein Fest auf dem Rathausplatz hingekriegt mit 18.000 Leuten. Da ging es aber nicht in erster Linie um Luther, sondern um das Thema Freiheit und Verantwortung. Und heruntergebrochen auf die Themen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.
    "Man kommt um Luther nicht herum"
    Main: Also da muss man auch selbstkritisch sagen: Sind wir nicht alle immer wieder - auch Medien - in diese Luther-Falle getappt? Und eben auch der Veranstalter.
    Körtner: Luther ist natürlich eine wahnsinnig faszinierende Figur - im Guten wie im Schlechten. Also ich meine etwa seine Stellung zu den Juden, der zunehmende Antijudaismus bei ihm - wenn man nicht Antisemitismus sagen will -, das ist natürlich enorm faszinierend und in diesem Jahr hat das natürlich weit mehr Aufmerksamkeit erzielt, als sich zum Beispiel mit Zwingli und Calvin zu beschäftigen.
    Main: Herr Claussen.
    Claussen: Ja, das war natürlich ganz lustig jetzt schon im Rückblick zu sehen, in der anrollenden Bilanz, dass die einen gesagt haben: Also ihr habt alles auf Luther fixiert. Wie konntet ihr nur? Und andere genau das Gegenteil gesagt haben: Ihr habt euch für Luther geschämt! Ihr habt Luther versteckt! Das ist doch euer bestes Zugpferd. Also wenn man beide Kritiken, die gleich laut geäußert werden, zusammennimmt, kann man sagen: Vielleicht ist es nicht ganz so schlecht gelaufen.
    Man kommt um Luther nicht herum. Er ist die faszinierendste, interessanteste Figur, weil er eben auch - und das spürt man heute noch - ein existenzieller Denker, ein existenzialistischer Theologe ist. Also, er ist sozusagen das Zugpferd, er ist vielleicht auch der Türöffner. Und da haben wir versucht, über Luther dann auch ein Licht zu werfen auf Melanchthon und Bugenhagen und Zwingli und Calvin. Und das ist mal besser und mal schlechter gelaufen - je nachdem auch, wie die Aufmerksamkeit des Publikums geartet war.
    Körtner: Ich bringe jetzt so ein bisschen für die deutsche Bilanz den Blick von außen rein. Und ich kann vieles sehr, sehr gut nachvollziehen. Ich bin auch weit davon entfernt, so eine Pauschalkritik zu formulieren, schon gar nicht gehöre ich irgendwo in so eine Mecker-Ecke, wohin manche - mein Name ist da auch gefallen - gestellt worden sind. Das wird, denke ich, auch meinem eigenen Anliegen nicht gerecht, selbst dazu beizutragen, Anliegen der Reformation auch zu vergegenwärtigen. Aber wenn wir über die Zukunft des Protestantismus sprechen und eine Bilanz ziehen, dann ist eigentlich mein Anliegen, weniger zu fragen: Was war jetzt gut, was war schlecht? Das ist auch wichtig.
    Aber ich finde jetzt viel wichtiger zu fragen: Was sind Impulse, die über das Jahr 2017 hinauswirken? Und wie ist es um die Zukunft des Protestantismus, sagen wir in Deutschland, bestellt - in meinem Land, in Österreich, in der Schweiz und überhaupt in Europa? Und was hat dieses Reformationsjubiläum und die Vorbereitung darauf - auch wir in Österreich haben eine Dekade gehabt, allerdings mit anderen Themen als in Deutschland - wo dann tatsächlich wieder von einer Luther-Dekade gesprochen worden ist … Was davon wirkt in die Zukunft hinein, wo wir uns doch alle, auch Sie in Deutschland, auf dramatische Veränderungen - rein demografisch schon - einstellen müssen, was die Zukunft der Kirchen betrifft.
    Main: Bevor wir jetzt einmal wirklich in die Zukunft schauen, wie es Herr Körtner angeregt hat, ziehen wir jetzt mal einen Schlussstrich: Was lässt sich lernen aus dem Reformationsjubiläum 2017 für das Reformationsjubiläum in 100 Jahren, was wir wohl alle drei nicht mehr erleben werden.
    Körtner: Tja. Da ist für mich die offene Frage, wie weit es wirklich gelungen ist, theologische Essentials der Reformation so noch einmal neu zu vergegenwärtigen und auch mit Gegenwartsfragen zu verknüpfen, dass es ein vergleichbares Reformationsjubiläum 2117 auch geben wird.
    Claussen: Ja, da würde ich mal gegenhalten, weil ich nämlich glaube, dass das eine falsche Erwartung ist. Ein Reformationsjubiläum ist keine rein kirchliche Veranstaltung, auch keine rein theologische oder keine rein spirituelle Veranstaltung, sondern es ist vor allem eine kulturelle Veranstaltung. Das muss man, ob man das mag oder nicht, von vornherein wissen und daran seine Erwartungen ausrichten.
    Ich glaube nicht, dass man Glaubensanliegen im engeren Sinne über so ein Vehikel gut transportieren kann. Was man leisten kann - und das ist zum Teil ja auch ganz gut gelungen -, ist, dass man das kulturelle Bewusstsein der Öffentlichkeit aber auch der Kirchenleute selbst dafür öffnet, dass unsere Kultur ganz wesentlich christlich mitgeprägt worden ist und dass man sich damit auseinandersetzen muss. Und umgekehrt für die Kirche selbst, dass wir eben auch eine kulturelle Kraft gewesen sind und darin auch eine Stärke liegt. Ich glaube, das ist eine falsche Erwartung, die nur enttäuscht werden kann, wenn man meint, über ein großes Reformationsjubiläum eine - sozusagen - Erweckung über das Land zu bringen. Das sind zwei ganz unterschiedliche Hinsichten. Und das Glaubensthema, das liegt mir auch am Herzen natürlich, da muss man anders herangehen.
    Main: Könnte man Ihren Konflikt so zusammenfassen, in meinen Worten: Der eine will Massen erreichen, der andere möchte eine Selbstvergewisserung der Christen in ihren Kirchen?
    Körtner: Also das eine und das andere müssen sich ja nicht ausschließen. Und ich bin missverstanden, wenn vielleicht der Eindruck entsteht, ich hätte mir jetzt so eine Art Erweckungs-Bewegung erwartet. Das ist es überhaupt nicht. Sondern was mich wirklich beschäftigt - das erwarte ich in dem Sinne nicht -, sondern was mich wirklich beschäftigt, ist in der Tat das Thema Selbstvergewisserung oder Selbstverständigung. Manche haben diesen Begriff kritisch eingewendet, wenn es um solche Veranstaltungen ging, wo eben mehr die Glaubensthemen angesprochen wurden, und gesagt: Ja, es geht da immer nur um die Selbstverständigung! Ich glaube, dass das ganz zentral ist.
    Und ich will auch einen konkreten Punkt nennen: Herr Claussen, Sie haben eben gesagt: Ja, es ist doch noch mal bewusst geworden - die Kirche war auch eine kulturelle Kraft oder ist eine kulturelle Kraft gewesen. Die Frage ist: Welche Kraft geht von der Kirche kulturell, gesellschaftlich in Zukunft aus? Und es ist mir aufgefallen: Das Thema Kirche als solches ist in den vorbereitenden Dekaden - weder bei uns in Österreich, noch bei Ihnen in Deutschland - ausdrücklich zum Thema gemacht worden. Und ich glaube, dass diese Frage, wozu braucht es nach evangelischem Verständnis Kirche, was macht evangelisches Kirche-Sein aus, im ökumenischen Konzert mit den anderen Kirchen, aber vielleicht auch durchaus profiliert gegenüber anderen - das ist eine ganz, ganz wichtige Frage für die Zukunft, wo eben die Zahl der Kirchenmitglieder immer weiter abnimmt und auch der gesellschaftliche, der politische Einfluss der Kirchen deutlich weiter abnehmen wird. Und da finde ich, ist eben auch das Moment einer Selbstklärung oder einer Selbstverständigung nicht nur legitim, sondern notwendig.
    Eisenach grüßt seine Gäste zum Luther-Jahr 1983, aufgenommen am 04.05.1983. Der Reformator Martin Luther hatte auf der Wartburg bei Eisenach das Neue Testament der Bibel ins Deutsche übersetzt.
    Auch 1983 gab es ein bedeutsames protestantisches Jubiläum - das Luther-Jahr anlässlich des 500. Geburtstags von Martin Luther - es wurde in der Bundesrepublik und der DDR sehr unterschiedlich gefeiert. (dpa-Report/Heinz Wieseler)
    Und es ist natürlich auch oft schon beklagt worden, dass eben die Systematische Theologie, also unser Fach, das Herr Claussen und ich auch vertreten, längst nicht so prominent zu hören war, wie es gerade die Kirchengeschichte war. Nun wären vielleicht viele systematische Bücher nicht so in dem Ausmaß verkauft und gelesen worden, wie es jetzt die einschlägigen Luther-Biografien geschafft haben. Aber wenn man es noch einmal vergleicht mit dem Luther-Jahr - das war ja wirklich ein Luther-Jahr 1983 -, wo noch Leute wie Gerhard Ebeling oder Eberhard Jüngel einen starken, auch öffentlichen Einfluss hatten, fällt doch auf, dass wirklich systematisch-theologische Arbeit längst nicht so geleistet worden ist. Und die halte ich aber für unverzichtbar.
    "500 Jahre nach der Reformation in einer Glaubenskrise"
    Claussen: Das sehe ich ganz genauso. Es ist vieles geleistet worden. Die Exegeten, also die Bibel-Wissenschaftler, haben eine neue Luther-Bibel herausgebracht - das ist eine große Leistung. Viele Kirchengeschichtler haben wirklich tolle Bücher und Beiträge geliefert zum historischen Verständnis. Aber von der ehemaligen Haupt- und Kern- und Herzwissenschaft und -disziplin der evangelischen Theologie, der Systematischen Theologie, ist viel zu wenig gekommen. Das will ich jetzt nicht einzelnen Kollegen meckernd vorhalten, aber ich glaube, dass sich daran auch eine richtige Veränderung zeigt. Die Systematische Theologie als Richtlinien-Disziplin hat einen ganz erheblichen Macht- und Relevanzverlust erlitten. Das ist nicht einzelnen Personen anzulasten, das ist einfach so passiert. Und es gibt, das zeigt sich auch daran, eine große Ratlosigkeit und auch Sprachlosigkeit.
    Wir befinden uns 500 Jahre nach der Reformation mitten in einer - auch - Glaubenskrise. Das kann man so deutlich sagen. Eine große Verunsicherung, das habe ich auch in vielen Veranstaltungen so gespürt: Also einerseits Dankbarkeit und Stolz für das, was die Reformation gebracht hat. Und zugleich eine natürlich ganz andere Unsicherheit, Irritiertheit, ein ganz anderes Angefragt-Sein, als man es noch so bei glaubensfesten Gewissheitsaposteln wie Martin Luther selber gesehen hat. Also diese Differenz zur Reformation, also zum Gewissheitsglauben eines Martin Luther, das ist auch ein ganz großes Thema gewesen. Und das spiegelt sich eben auch darin wieder, dass, ich glaube, ganz viele Kolleginnen und Kollegen der Systematischen Theologie da auch ratlos sind.
    "Ein bisschen links-liberal-sozial geprägt"
    Main: Herr Körtner, Herr Claussen, lassen Sie uns jetzt den Blick nach vorn richten. Wir haben jetzt doch über Theologie und über Glauben gesprochen. Ist das nicht vielleicht eine Konsequenz: Müsste in der evangelischen Kirche vielleicht auch wieder eben öfter über Religion gesprochen werden - und nicht nur über Politik?
    Claussen: Das ist so eine CDU-Erzählung, die mir oft genug um die Ohren kommt, als ob es eine Realität wäre. Ich erlebe unsere kirchliche Wirklichkeit anders. Also wir reden nicht die ganze Zeit auf der Kanzel vom Dosenpfand oder vom Mülltrennen, sondern eben tatsächlich von biblischen Geschichten und biblischen Botschaften.
    Ich glaube aber, dass wir noch einmal eine neue Form finden müssten, auch Beheimatung anzubieten. Faktisch tun wir das ja. Also wenn man sich sozusagen die Arbeit von Kirchengemeinden anguckt, das ist Nachbarschafts- und Heimatpflege, in ganz besonderer Weise.
    Oft genug schämen wir uns ein bisschen dafür, weil wir so ein bisschen links-liberal-sozial geprägt sind und davor eine gewisse Angst haben. Ich finde, dass es wichtig ist, die evangelische Kirche auch als eine Kraft einer qualifizierten Beheimatung dazustellen - das machen wir ja -, aber zugleich auch eine Beheimatung, die geöffnet ist für andere Kulturen, für eine neue Zukunft, und die sich sozusagen aus so einer Grundgewissheit heraus ohne Verbiestertheit oder ohne Aggression den Herausforderungen der Zeit stellt. Dann wird das auch politisch.
    Main: Herr Claussen, jetzt möchte ich mal dagegenhalten. Im Kirchen-Magazin "Chrismon", das der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm herausgibt, sagt er jetzt in der Reformationsausgabe wörtlich: "Wenn die Kirche zu einem Themenabend einlädt "Was kommt nach dem Tod?", dann sind die Säle voll. Machen wir eine Veranstaltung zum Klimawandel, kommen deutlich weniger." Also was mich wundert: dass er sich darüber wundert. Wundert Sie das?
    Claussen: Nö, wundert mich nicht. Es gibt doch eben ein großes Interesse an religiösen Grundfragen.
    Main: Ja und wie bedienen Sie das?
    Claussen: Wie bedienen wir das? Also ich versuche, elementare Bildung anzubieten. Ich versuche - wie viele andere ja auch - diese vollkommen unbekannt gewordenen biblischen Geschichten neu zu erzählen und anzubieten - als Form, mit der man sich diesen großen Fragen, die man ja so in Sätzen gar nicht beantworten kann, zu stellen und innere Bilder zu erzeugen.
    "Eindruck, als hätten abweichende Positionen keinen Platz"
    Main: Die Debatte 'Religion versus Politik' hat Herr Claussen als eine "CDU-Erzählung" bezeichnet. Herr Körtner, wie positionieren Sie sich?
    Körtner: Das ist ein Vorwurf, der tatsächlich immer wieder von einer bestimmten politischen Seite, also CDU, formuliert wird. Aber das, finde ich, ist eine Vereinseitigung des ganzen Problems. Herr Claussen hat gesagt - das gilt ja jetzt nun erst einmal für Deutschland -, dass die Kirchenleitungen und auch die EKD eher einen links-liberales Milieu repräsentieren, weniger das CDU-Milieu - auch wenn CDU-Politiker als bekennende Protestanten sich immer wieder zu Wort melden oder auch in der EKD-Synode und so weiter vertreten sind.
    Ich erlebe eine Verschiebung. Das kann man an bestimmten Themen, etwa wie der Flüchtlings- und Migrationskrise, festmachen: zwischen Kirchenleitung auf der einen Seite und vielen Menschen, die - ob sie nun CDU-Wähler sind oder mal waren - sich in deren Sinne nicht mehr beheimatet fühlen, wie Herr Claussen das gesagt hat. Ich denke, aber das kann ich jetzt nur von außen sagen, da werden die Kirchen, die Kirchenleitung tatsächlich drüber nachdenken müssen, wie sie diese Menschen beheimaten.
    Aber mir geht es vor allen Dingen darum, dass in der öffentlichen Wahrnehmung doch Kirche vor allem dann präsent ist und auch ihre Vertreter sich besonders dann stark positionieren in den Medien, wenn es um die Stellungnahme zu politischen Fragen geht und weniger darum, dass Fragen beantwortet werden wie die: Was ist mein einziger Trost im Leben und im Sterben? Mit dieser Frage fängt der Heidelberger Katechismus an. Und ich glaube, dass wir nicht die falsche Alternative aufmachen dürfen: mehr Glaube, weniger Politik. Das halte ich für ganz abwegig. Christlicher Glaube und das Evangelium hat immer eine politische Dimension.
    Aber was ich für ein Fehlurteil hielte, wäre, wenn man sagt: Es geht da im Grunde im Wesentlichen um Politik, Religion ist immer politisch. Das ist mir zu wenig. Da geht es um mehr. Da geht es um das Gottesverhältnis. Und es geht, glaube ich, darum, dass man eine kirchliche Haltung zum Phänomen des Politischen neu bestimmt und nicht den Eindruck erweckt, der in machen Themenfeldern eben in den letzten Jahren doch immer wieder erzeugt wurde: als ob Kirche zu politischen Fragen eine ganz bestimmte Mehrheitsposition vertritt und das ist die kirchlich richtige. Die wird auch religiös durchaus argumentiert. Aber eben so, dass der Eindruck erweckt wird, dass abweichende Positionen da nicht mehr so ihren Platz hätten. Und über viele Fragen wird eben nicht mehr in der Weise gestritten und gerungen, wie man das vielleicht noch vor einigen Jahrzehnten gemacht hat.
    Claussen: Ich würde gerne widersprechen.
    Körtner: Noch einmal eben: Es geht mir nicht darum zu sagen: Die reden immer nur vom Dosenpfand. Aber die Kernfrage ist, wie diese Formel zu verstehen ist, die auf Richard von Weizsäcker zurückgeht: Kirche wolle nicht Politik machen, sondern Politik möglich machen. Die Formel kann manchmal so gedeutet werden oder der Eindruck ist bei mir auch entstanden, als ob man wirklich glaubt, ohne Kirche sei kein Staat zu machen. Und damit überschätzt man sich. Da würde ich mehr Demut erwarten.
    Claussen: Demut finde ich immer gut. Da knüpfe ich gerne dran an. Auf der anderen Seite habe ich eine andere Wahrnehmung. Ich erlebe den deutschen Protestantismus weitgehend entpolitisiert im Vergleich zu früheren Zeiten, wo die politischen Polarisierungen viel, viel schärfer in der evangelischen Kirche selber zum Tragen kamen. Also wenn ich noch einmal erinnere an die Abrüstungsdebatte und sozusagen die Verteufelung alternativer Sichten. Also wie da auf Kirchentagen umgegangen wurde mit Generälen oder Vertretern einer Aufrüstungspolitik, da gab es noch die alten linken Pastoren, die dann sagten: Wer für Aufrüstung ist, der ist gegen Gottes Wille. Das habe ich, ehrlich gesagt, schon lange nicht mehr gehört. Also so eine politische Polarisierung und Eindeutigkeit kenne ich nicht.
    Teilnehmer des Evangelischen Kirchentages 1987 in einer Demonstration gegen Atomwaffen, Apartheid und für die Freiheit Namibias und Süd-Afrikas.
    Demonstration während des Evangelischen Kirchentages 1987 (Picture Alliance / dpa / Klaus Rose)
    Man muss davon, glaube ich, noch einmal die Öffentlichkeitsarbeit von Kirchenleitenden unterscheiden - das sind natürlich oft Statements. Die werden abgefragt und auch abgedruckt. Und das ist ja ein Wechselspiel. Also die Öffentlichkeitsarbeit hat ein Interesse daran, dass ihre Bischöfe dann auch mal in der Presse vorkommen. Das ist mit Jesus ein bisschen schwierig. Aber es geht natürlich einfacher, wenn man mal ein Statement abgibt zu - keine Ahnung - Ehe für alle oder niemanden oder was auch immer. Und dann gibt es einen klerikalen Anschein, als ob das die evangelische Position wäre. Das ist natürlich völlig abwegig. Da haben wir in der evangelischen Kirche keine letztgültige Entscheidungsinstanz.
    Körtner: Eine kurze Bemerkung dazu: Dass eben auf den Kirchentagen nicht mehr so kontrovers diskutiert wird, das empfinde ich als ein enormes Problem. Darin sehe ich nicht eine Entpolitisierung, sondern eher das Problem: Sie befinden sich da auf den Kirchentagen meist unter Gleichgesinnten, die so eine Art von Echo-Kammer oder eben eine Filterblase bilden. Und alles andere kommt schon gar nicht mehr vor. Es ist dann schon das höchste der Gefühle - das war so der Knaller - mal eine Debatte mit Vertretern der AfD zu haben, wobei der deutsche Katholikentag dem gleich ausgewichen ist und hat die Diskussion gar nicht erst führen wollen.
    Ich glaube, wir brauchen wieder mehr solche wirklich ernsthaften, substantiellen Debatten. Die sollen auch ruhig scharf geführt werden. Aber was wichtig ist: Haben wir eigentlich im engeren Sinne theologische Gründe, für oder gegen eine Position Stellung zu nehmen? Oder sind das immer nur irgendwelche Anhängsel, irgendwelche politischen Positionen, die ich sowieso in der Gesellschaft finde, wo man dann sagen kann: Einmal mehr dasselbe, nur in leicht erhöhtem religiösen Ton, wird mir das jetzt vorgetragen. Also ich empfinde diese vermeintliche Entpolitisierung gar nicht als unpolitisch, aber als eine Verkürzung des Politischen.
    "Es hat sich ein neuer Kirchentypus gebildet"
    Main: Gehen wir mal weg von der vermeintlichen oder tatsächlichen Politisierung oder Entpolitisierung der Kirchen. Wenn das Reformationsjubiläum ein Gradmesser einer theologischen Orientierungskrise war - so habe ich Sie, Herr Körtner, verstanden - welche Auswege sehen Sie?
    Körtner: Also die Orientierungskrise habe ich insofern diagnostiziert, als ich insbesondere auf der lutherischen Seite, also auch beim Lutherischen Weltbund, aus dem Bemühen heraus, um jeden Preis das Jubiläum ökumenisch anzulegen, die eigene Profilbildung vermisst habe. Zum Beispiel: "Vom Konflikt zur Gemeinschaft" - vom Konflikt zum Konsens auf der Ebene Lutherischer Weltbund und römisch-katholische Kirche - dieser Text liest sich dann am Ende eigentlich so: 'Ja, die Reformation, das ist alles eine Folge von traurigen Missverständnissen und man beklagt einmal mehr die Trennung der Kirchen.' Statt zu sagen: 'Sicher hat Luther keine neue Kirche gründen wollen, Calvin hat auch keine neue Kirche gründen wollen. Aber er sah sich dann in der zweiten Generation schon damit konfrontiert, dass es de facto zu einem neuen Kirchentum kam. Es hat sich de facto ein neuer Kirchentypus gebildet.' Und jetzt würde ich mal den früheren Berliner Bürgermeister zitieren und sagen: "Und das ist auch gut so."
    "Nicht katzenpfötig umeinander herumschleichen"
    Main: Und Sie spielen auch an auf den früheren EKD-Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber, der von einer Ökumene der Profile gesprochen hat. Herr Claussen, klarere Positionierung - wäre die hilfreich?
    Claussen: Ich finde es prima und ganz entspannt und - ganz untheologisch - einfach erfreulich, dass das Reformationsjubiläum zwischen Evangelischen und Katholischen friedlich und freundschaftlich abgelaufen ist. Ich finde, das ist einfach erst einmal etwas sehr Sympathisches, Angenehmes und eröffnet neues Sprechen und Diskutieren. Und zugleich muss man dann aber auch nicht katzenpfötig umeinander herumschleichen und jede Form von Debatte und Auseinandersetzung scheuen. Die Reformation steht eben auch dafür, dass es nicht nur um Kontinuitäten geht, sondern eben auch um Brüche, um scharfe Konflikte, um deutliche Differenzen, also um eine richtig angespitzte Vielfalt. Und damit aber entspannt umzugehen, gewaltlos umzugehen und zu schauen, was man daraus für Funken schlagen kann, das, finde ich, ist interessant, dass man einfach ein Grundeinverständnis hat - und dann kann man sich auch gerne mal streiten.
    Main: Was macht den Protestantismus aus? Herr Körtner, wie würden Sie das beantworten?
    Körtner: Mir ist ganz wichtig, dass man sich noch einmal drauf besinnt: evangelisch sein heißt, sich vom Evangelium her zu verstehen und dieses erst einmal als eine Botschaft der Freiheit zu hören und durchzubuchstabieren. Und mit diesem Freiheitsthema ist man einerseits anschlussfähig an Gegenwartsdiskussionen. Aber auf der anderen Seite ist das ein kritischer Begriff, den man auch mit unterschiedlichen, gegensätzlichen Freiheitsverständnissen ins Gespräch bringen muss. Und wo man auch in Konflikte gerät. Und ich glaube, dass gerade jetzt in der Gegenwart es ganz, ganz wichtig ist, dieses Freiheitsthema wieder neu auch zu Bewusstsein zu bringen, wo ganz viel auch über Gerechtigkeit gesprochen wird und über Sicherheit, aber das Thema Freiheit sehr in den Hintergrund tritt.
    Main: Herr Claussen, versuchen Sie doch einmal zu sagen: Was ist der theologische Kern dessen, worum es evangelischen Christen geht?
    Claussen: Also worum es evangelischen Christen im Kern gehen muss, ist, sich selbst vor dem Horizont des Unbedingten, vor Gott, sich so zu verstehen, dass man ein Lebensvertrauen hat, dass man getrost durch das Leben geht und dass man ein ganz anderes Verständnis von Freiheit gewinnt. Da schließe ich mich gerne an Herrn Körtner an. Tut mir leid, da können wir gar nicht so gegeneinander sein.
    Ich finde, wir leben in einer hochgradig liberalisierten Zeit. Freiheit ist fast eine Selbstverständlichkeit geworden und zugleich hochgradig bedroht - einerseits durch äußere Mächte und andererseits durch eine innere Auszehrung. Denn Freiheit ist ja nicht nur einfach das Wegdrücken von Tradition oder alten Autoritäten, sondern Freiheit braucht auch irgendwie eine Form von Gründung und Orientierung, um nicht inhaltlich ausgezehrt zu werden, um dann eben auch widerständig zu sein, wenn Freiheit von ganz anderer Seite her bedroht wird. Das zielt mitten darauf, wie Menschen heute, in einer hochgradig digitalisierten, durchkapitalisierten Effizienzgesellschaft einerseits ganz furchtbar frei sein wollen und andererseits furchtbar gebunden sind. Und da wenig eigene Orientierung haben. Und da finde ich, ist eine christliche Durchdringung des Freiheitsgedankens ganz zentral wichtig.
    Körtner: Dem würde ich zustimmen. Eine liberale Gesellschaft, wie wir sie haben, oder durchliberalisiert, wie sie gesagt haben, bedeutet noch lange nicht, dass die Menschen tatsächlich frei sind. Und der Glaube, dass die Menschen von Haus aus immer schon freie Wesen sind, den halte ich als überzeugter protestantischer Christ für einen Irrglauben. Es ist der Mensch erst frei, wenn er zur Freiheit wirklich befreit wird. Das, was wir häufig für Freiheit halten, ist noch nicht die Freiheit, die uns im Evangelium verheißen ist.
    Main: Die Reformation - eine Bilanz des Jubiläums und ein Blick in die Zukunft des Protestantismus. Darüber sprach ich mit Johann Hinrich Claussen, EKD-Kulturbeauftragter, sowie mit Ulrich Körtner, Ordinarius für Systematische Theologie an der Uni Wien. Danke Ihnen beiden und auf bald.
    Körtner: Vielen Dank!
    Claussen: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.