Dienstag, 23. April 2024

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Ex-Radprofi Dieter Wiedemann
Der Stasi mit dem Rennrad davongefahren

Sein Traum: Einmal bei der Tour de France mitfahren. Doch das war für den Ausnahme-DDR-Athlet Dieter Wiedemann in den 60er-Jahren unmöglich. Aufhalten ließ sich der Profi-Radsportler davon jedoch nicht. 1964 gelingt ihm die Flucht - und drei Jahre später wurde sein Traum Wirklichkeit.

Von Norbert Steiche | 04.07.2017
    Ein Rennradfahrer vor dem Logo der Tour de France (8.7.)
    Für viele Radfahrer die große Faszination: die Tour de France. Auch für DDR-Profi Dieter Wiedemann (AFP PHOTO/KENZO TRIBOUILLARD)
    Der 4. Juli 1964. Einen Tag vor dem Ausscheidungsrennen in Gießen, um die letzte gesamtdeutsche Rennrad-Olympiamannschaft für die Spiele in Tokio zu bilden. Dieter Wiedemann will eine Zukunft im Westen, endlich wieder an Rad-Weltmeisterschaften teilnehmen, von denen DDR Radsportler durch einen Nato-Beschluss nach dem Mauerbau 1961 ausgeschlossen sind. Und er will einmal – das ist sein Traum - bei der Tour de France mitfahren.
    "Ich selbst hatte ja auch ein Leben. Und das Leben war eben für mich - trotz der Vergünstigungen als Spitzensportler in der DDR - nicht mehr lebenswert."
    Die DDR-Radsportler stehen unter Dauerbeobachtung. Im Bus aus dem Osten sitzen - neben 17 Athleten, Mechanikern und Trainern - 30 Stasileute. Dieter Wiedemann gelingt es dennoch, heimlich ein Telegramm an seine spätere Frau Silvia zu schicken. Die lebt noch bei ihren Eltern in Mitterteich in der Oberpfalz.
    "Nachdem wir in unserem Hotel gegessen hatten, bin ich rüber zum Bahnhof und hab ein Telegramm geschickt. Rein ins Blaue. Hab da nur drauf geschrieben: Samstag, 14 Uhr, Bahnhof Gießen."
    Aus Brieffreundschaft wird Liebe
    Vier Jahre vorher hatten sich die beiden in Chemnitz kennengelernt. Sie schreiben sich viele Briefe. Nur ein einziges Mal sehen sie sich noch und aus der Brieffreundschaft wird Liebe.
    Anfang Juli 1964. Die Tage in Gießen sind straff durchorganisiert. Nur zwei Stunden vor dem Renntag haben die Athleten für sich. Der Grund: Die Funktionäre aus Ost und West sitzen da genau beieinander
    "Ich hatte gesehen: Unser Hotel war unweit des Bahnhofes in Gießen. Da bin ich zu Fuß, schlendernd, immer so vor ein Geschäft, ein paar Meter gegangen, wieder stehengeblieben, als würde ich mir die Geschäfte anschauen, bin ich da bis zum Bahnhof gegangen. Und da waren dann meine späteren Schwiegereltern, und Silvia war da. Und dann haben wir uns kurz besprochen. Ich hab gesagt: O.K: Ich geh noch mal kurz zurück und hole meinen Pass und meine persönlichen Utensilien und mein Fahrrad und sag dem Mechaniker, ich will noch eine kurze Trainingsausfahrt machen. Und das hab ich auch getan. Das war der Abschied von der Mannschaft."
    Alles klappt
    Alles klappt, genau so, wie es sich Dieter Wiedemann ausgemalt hat.
    "Da war der Puls schon ziemlich hoch. Sachen zusammengepackt, runter in die Tiefgarage, zum Mechaniker, zum Winkler Erich, und ich sag: Gib mir mal mein Rad, ne Stunde fahr ich noch."
    Kurz darauf kommt Dieter Wiedemann zum vereinbarten Treffpunkt. Hier stehen schon seine spätere Frau Silvia und ihre Eltern. Er zerlegt in Windeseile sein Rennrad, packt es in den Kofferraum und die vier verlassen Gießen.
    Von den Medien unbemerkt
    Die Medien erfahren von der Flucht nichts. Im Gegenteil. Silvia versteckt den DDR Elite-Rennradfahrer über Wochen in ihrem Elternhaus in Mitterteich. Der Grund dafür ist: Das Paar vermutet, dass die Stasi verdeckt im Bundesgebiet nach dem Republikflüchtling sucht. Die beiden haben Angst, dass Dieter von Stasi-Agenten entführt und zurück in die DDR gebracht werden könnte.
    "Der wollte mich am Abend immer am Geschäft abholen. Ich hab ihm dann verboten zu bekommen. Hab gesagt: Du bleibst zu Hause bei meinen Eltern, da bist Du in Sicherheit. Ich hab da keine Lust, dass die ganze Arbeit umsonst war und dass du da wieder abgefangen wirst. Die Angst war da schon da am Anfang."
    Ein Jahr später startet Dieter Wiedemann für die Bundesrepublik Deutschland bei der Rad-WM in Spanien. 1967 - nun vor 50 Jahren - fährt er die Tour de France.
    "Die Tour de France, das war der Höhepunkt, dass man sich seinen Lebenstraum erfüllen konnte."
    In Schweinfurt bekommt der Radsportler dann seinen ersten Job. Zum Training fährt er am Wochenende die rund 200 Kilometer zu seiner späteren Frau nach Mitterteich. Dann heiraten die beiden und ziehen nach Euerbach bei Schweinfurt. Jahre noch versucht, die Stasi Dieter Wiedemann zurückzuholen.
    "Bis 1974 haben die daran gearbeitet, dass ich in die DDR zurückkehre. Dass ich Agent werde, abgeworben werde oder Kidnapping, ich weiß nicht, was in deren Köpfen alles vorgefallen ist."
    Konsequenzen für die Familie
    Seine Flucht hat für seinen Vater und seinen Bruder heftige Konsequenzen. Sein Bruder wollte sich für die Olympischen Spiele 1968 in Mexiko qualifizieren und fliegt sofort aus dem Kader. Genauso sein Vater. Der war schon als Radmechaniker für die Spiele in Mexiko vorgesehen.
    "Und am Ende hat der Sportklub gegenüber der Stasi durchgesetzt: Die schmeißen wir alle beide raus."
    1988 - ein Jahr vor dem Fall der Mauer - kommt Dieters Bruder in den Westen. Die Beziehung zwischen den Brüdern aber zerbricht.
    "Für mich war es schmerzlich, dass es so gekommen ist, aber umgedreht hatte ich selber ja auch ein Leben."