Donnerstag, 28. März 2024

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Ex-WADA-Chef Richard Pound
"Fans sind ein Element der olympischen Erfahrung"

Die Olympischen Spiele seien ein "absolut fesselnder Wettbewerb" gewesen, sagte Richard Pound, IOC-Mitglied und ehemaliger Vorsitzender der Welt-Anti-Doping-Agentur im Dlf. Er lobte die organisatorischen Fähigkeiten der Japaner. Dass russische Athleten trotz Staatsdopings antreten durften, bezeichnete er als "verpasste Gelegenheit".

Richard Pound im Gespräch mit Matthias Friebe | 08.08.2021
Richard Pound.
Richard Pound ist dienstältestes IOC-Mitglied. (dpa / picture alliance / Sven Hoppe)
Matthias Friebe: Sie haben schon von einem japanischen Wunder gesprochen. Wie kommen Sie darauf?
Richard Pound: In gewissem Sinne gab es so viel Druck gegen die Fortsetzung der Spiele, dass die Gefahr bestand, wie Thomas Bach sagte, dass sie zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wurden. Man blieb aber dabei und ermutigte die Japaner, ihre Bemühungen fortzusetzen. Man stimmte allen von den Japanern vorgeschlagenen Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit zu: keine ausländischen Zuschauer und schließlich gar keine Zuschauer mehr. Es gab so viele Gründe, die gegen die Spiele sprachen, dass es wie ein Wunder war, dass sie am Ende doch noch stattfanden.
Friebe: Warum hören wir am Ende der Spiele sooft Superlative wie "Die besten Spiele aller Zeiten", "Sie übertrafen unsere Erwartungen", "Sie waren ein Wunder". Warum immer diese Superlative?
Pound: Nun, "Die besten Spiele aller Zeiten" war eine Formel, die Juan Antonio Samaranch benutzte, als er Präsident war, und alle Spiele waren die Besten aller Zeiten. Sie wurde sogar so sehr zur Formel, dass Atlanta beleidigt war, als er es 1996 nicht sagte, weil man sie nicht für die besten Spiele aller Zeiten hielt. Deshalb denke ich, dass man jetzt eher nach etwas sucht, das zu den jeweiligen Spielen passt, und deshalb erschien mir das Wunder, das unerwartete positive Ergebnis, die Idee für Japan und Tokio angemessen.

Friebe: Am Ende der Spiele von Tokio. Sind Sie wirklich glücklich über die vergangenen Wochen oder einfach erleichtert, dass die Spiele rum sind?
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Players - Der Sportpodcast (Deutschlandradio)
Pound: Beides. Es ist eine Erleichterung, dass es gelungen ist, die Spiele auch ohne Zuschauer zu beenden. Außerdem waren die Spiele so gut organisiert, dass Japan in der Lage war, nur wenige Monate vor den eigentlichen Spielen aufzuhören und alles für ein Jahr auf Eis zu legen. Und ich weiß nicht, ob es ein anderes Land auf der Welt gibt, dass das geschafft hätte. Die organisatorischen Fähigkeiten in Japan sind schon bemerkenswert. Wir haben einen Paradigmenwechsel erwartet, der auf Tokio 1964 aufbaut. Sie sind zu jung dafür, aber es hat damals der Welt die Augen für das neue Japan geöffnet, mit Hightech, Präzisionsoptik, Zeitmessung und allem, was dazu gehört. Es war eine neue Ära für die Olympischen Spiele, und das konnten wir im Jahr 2020 fortsetzen. Es ist bedauerlich, dass sie nicht die Möglichkeit hatten, dies in Echtzeit zu demonstrieren. Aber das alles inmitten einer Pandemie, die es seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr gegeben hat, auf die Beine zu stellen und durchzuziehen, ist wirklich bemerkenswert.
Friebe: Weil Sie es sagen: Sie durften sowohl 1964 als auch jetzt die Spiele erleben. Was hat sich seitdem verändert?
Pound: Sie wissen, dass die Organisation von Olympischen Spielen ist ein ständiges "Work in Progress". Man lernt jedes Mal etwas über die Organisation, und in vielerlei Hinsicht ist es wichtig, Fehler zu vermeiden und nicht die Fehler zu machen, die andere Organisationskomitees gemacht haben. Dies wurde im Voraus gut geplant, so dass es für jede neu errichtete Anlage eine Nachnutzung und eine Vision gibt. Sie wissen, dass es Eigentümer und Programme für die Nutzung der Einrichtungen im nächsten halben Jahrhundert gibt. Das ist, denke ich, ein Beispiel für wirklich gute Planung. So etwas haben wir zum Beispiel in Rio nicht gesehen, das ist schon ein ziemlicher Unterschied, ein bemerkenswerter Unterschied.
Bildnummer: 07156397  Datum: 10.01.2011  Copyright: imago/AFLOSPORT
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Japans Breitensport hat ein Nachwuchsproblem
Die erfolgreichen japanischen Athleten lassen Anderes vermuten: Aber im olympischen Gastgeberland hat der Stellenwert des Nachwuchssports über die letzten Jahre nachgelassen.
Friebe: Ist es heute schwieriger, ein guter Ausrichter für die Spiele zu sein?
Pound: Ja und nein. Ich meine, die Organisation der reinen Wettbewerbe, das ist nichts Neues. In gewissem Sinne ist es wie das Fleisch in einem Hamburger, Man muss nur die 28 Sportarten in 17 Tagen unterbringen, um das alles zu schaffen. Aber die Einrichtungen waren rechtzeitig fertig, und sie waren erstklassig. Es war wirklich schade, dass die Zuschauer nicht dabei sein und diese Sportanlagen erleben konnten. Aber wissen Sie, wenn man die Wahl hat zwischen Spielen ohne Zuschauer oder gar keinen Spielen, dann fällt die Entscheidung nicht schwer. Ich denke, dass einige Sportler von den Zuschauern profitieren, während für andere die Zuschauer eine Ablenkung sein können. Eine perfekte Lösung gibt es nicht. Aber ich denke, der Kompromiss, den wir eingehen mussten, um die Spiele stattfinden zu lassen, war es wert. Die Wettkämpfe waren fantastisch, wie Sie wahrscheinlich auch gesehen haben.
Friebe: IOC-Präsident Thomas Bach sagte, er habe Spiele ohne Seele erwartet, aber dem war nicht so. Heißt das, wir brauchen keine Fans mehr?
Pound: Nein, ich denke, dass die Fans in vielerlei Hinsicht sehr wichtig sind. Auch wenn man die meisten Veranstaltungen im Fernsehen besser sehen kann als auf einem Sitzplatz im Stadion, denke ich, dass es wichtig ist, Zuschauer zu haben, wenn man kann. Hätten die Spiele 2020 stattgefunden, wären fast alle meine Kinder und ihre Familien gekommen, um die Spiele zu sehen und anschließend Japan zu besuchen. Fans sind ein Element der olympischen Erfahrung, das meiner Meinung nach wichtig ist und das wir auch in Zukunft haben wollen. Diese Fragen werden wir uns in sechs Monaten in Peking stellen. Wird es in Peking Zuschauer geben?
Friebe: Wird es in Peking Zuschauer geben?
Pound: Wir sind im gleichen Erdteil, in dem diese Pandemie ihren Anfang nahm. Es wird also darauf ankommen, ob die Chinesen in der Lage sind, die Ausbrüche unter Kontrolle zu bringen oder nicht. Letztendlich muss man die Sicherheit der eigenen Bevölkerung und der Besucher über das Spektakel der Spiele stellen. Möglicherweise müssen sie die gleiche Entscheidung treffen wie Tokio. Wenn die Gesundheitsbehörden sagen, dass es zu gefährlich ist, Zuschauer unter freiem Himmel zu haben, wird das IOC wird sicherlich den Entscheidungen folgen, und wir stehen, wie Sie wahrscheinlich wissen, mit der Weltgesundheitsorganisation und anderen Experten in Kontakt, um sicherzustellen, dass wir das Richtige tun.
Die belarussische Sprinterin Kristina Timanowskaja bei einem Wettkampf.
In Belarus kann sie sich nicht mehr sicher fühlen
Der Fall um die Leichtathletin Kristina Tsimanouskaja zeigt erneut, unter welchem Druck Athleten in Belarus stehen. Viele hätten mittlerweile Angst, sagte der Vorsitzende der belarussischen Sport-Solidaritätsstiftung Apeikin.
Friebe: Sie klingen aber insgesamt glücklich, dass es wirklich gute Spiele waren in Tokio…
Pound: Am Ende, wenn die Eröffnungsfeierlichkeiten beginnen, entscheiden nicht die Organisatoren, ob die Spiele erfolgreich sind oder nicht. Es sind die Athleten, und ich denke, die Wettkämpfe, die wir gesehen haben, waren absolut großartig. Es hilft auch, dass das Gastgeberland ebenfalls sehr gute Olympische Spiele hatte, denn das ermutigt die Öffentlichkeit. Aber das Niveau der Wettkämpfe war bemerkenswert. Ich denke, eines der Zeichen der Pandemie ist, dass es viel weniger Weltrekorde und sogar olympische Rekorde als in der Vergangenheit gab, weil die Vorbereitung für viele Athleten in der ganzen Welt unterbrochen war. Aber wie gesagt, das Ergebnis war ein absolut fesselnder Wettbewerb.
Friebe: Wenn Sie die Weltrekorde ansprechen, in der Leichtathletik, im Schwimmen und im Radsport gab es ja trotzdem einige. Wie sehen Sie das als früherer WADA-Präsident – schauen Sie das ohne Argwohn?
Pound: Ich denke, dass wir im Laufe der Jahre leider zugelassen haben, dass Doping in einer Reihe von Sportarten Einzug gehalten hat. Aber es gibt keinen Sport ohne Risiko. Aber wir machen Boden gut, und ich hoffe, dass wir mit der Zeit an einen Punkt gelangen, an dem nicht mehr gedopt wird. Weil sich erstens alle als Teil der Spielregeln darauf geeinigt haben, es nicht zu tun. Und zweitens, weil es gefährlich ist. Als ich Präsident der WADA war, habe ich immer gesagt, dass wir den Kampf gegen Doping gewinnen, wenn 99,9 Prozent der Athleten nicht dopen, entweder wegen der Gefahr oder wegen ihres Versprechens oder weil sie Angst haben, erwischt zu werden. Es ist mir egal, warum sie nicht dopen, solange sie es nicht tun. Wir sagen, wir können euch eine vernünftige Zusicherung geben, dass wir jeden erwischen, der dopt. Und ich denke, es wird immer Soziopathen geben, denen die Regeln egal sind und die bereit sind, zu betrügen, um zu gewinnen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Athleten, die fair spielen, darauf vertrauen können, dass wir jeden erwischen, der betrügt.
Friebe: Aber das werden wir ja erst in ein paar Jahren werden. Wenn wir an London 2012 denken, da gibt es schon eine Menge Medaillen, die den Besitzer gewechselt haben…
Pound: In einer idealen Welt steht man auf dem Podium und bekommt seine Medaille bei der Siegerehrung. Die abschreckende Wirkung besteht darin, dass wir jetzt zehn Jahre zurückgehen können, weil unsere Wissenschaft besser wird. Was viele vergessen: Ein wichtiger Punkt beim Doping ist, dass jemand anderes weiß, dass man gedopt hat. Sie können dich nicht ewig schützen, und so kannst du erwischt werden. Und ehrlich gesagt, wenn man an einen Sportler denkt, der am Tag des Wettkampfs disqualifiziert wird, ist das bedauerlich und so weiter. Aber später, man heiratet und bekommt Kinder, und plötzlich stellt sich heraus, dass alles gelogen war. Das hat verheerende Auswirkungen auf jeden, der zehn Jahre später entdeckt wird.
3D-Illustration einer DNA-Doppelhelix.
Warnschuss an die Doper
Sind die neuen Fabelweltrekorde bei den Olympischen Spielen in Tokio auch auf die neueste Entwicklung im Doping zurückzuführen? In Tokio laufen erste Tests auf Gendopingmethoden.
Friebe: Wenn wir über Doping sprechen. Eigentlich sollte Russland ja gesperrt sein. Jetzt war das ROC-Team am Start, über 60 Medaillen. War dann ja alles wie immer oder?
Pound: Die WADA hatte eine vierjährige Sperre vorgeschlagen. Dagegen wurde vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS Berufung eingelegt, das die Sanktion dann um etwa die Hälfte reduzierte. Das liegt außerhalb der Kontrolle der WADA und des IOC. Ich persönlich war von dieser Reduzierung enttäuscht. Aber man gewinnt nicht immer alle Gerichtsverfahren, in die man verwickelt wird. Wie auch immer, ich denke, sie haben einen Preis bezahlt.
Friebe: Sie wissen, wir leben in einer Welt der Bilder. Die Bilder bestimmen die Geschichte. Wir haben ein russisches Team, rot-weiß-blaue Trikots, das Einzige was fehlt ist die Flagge und die Hymne. Was ist das für ein Zeichen?
Pound: Es ist sicher ein gemischtes Signal. Manchmal wissen nur die Insider, was wirklich passiert ist. Die Russen selbst waren absolut reuelos, aggressiv reuelos. Ich denke, das ist eine Schande. Ich denke auch, dass, sollte noch einmal ein anderes Land in die gleiche Situation geraten, die Strafe wahrscheinlich nicht reduziert wird. Ich denke, wenn das CAS die Sache noch einmal aufrollen müsste, könnte es zu einem anderen Ergebnis kommen, und ich glaube, dass man diese Abschreckung wirklich braucht, um der Sache eine Botschaft zu geben, wie wichtig man als Land ist. Wenn ihr betrügt, werdet ihr ausgeschlossen.
Friebe: Aber Russland ist zu mächtig…
Pound: Nun, das ist so. Und deshalb war es eine verpasste Gelegenheit. Ich meine, wenn es mein Land oder vielleicht sogar Ihres gewesen wäre, hätte das wahrscheinlich andere Konsequenzen gehabt, als wenn man es mit einer Supermacht zu tun hat.
Friebe: Lassen Sie uns über Russlands Nachbarn Belarus sprechen. Konnte das IOC diese Entwicklungen mit dem Fall Timanowskaja nicht kommen sehen?
Friebe: Ich bin nicht nah genug dran. Als ich im Exekutivausschuss war, hätte ich an der Diskussion teilgenommen. Jetzt erfahre ich durch Leute wie Sie und die Medien, was vor sich geht. Aber die Spannungen bei der Rückkehr in das eigene Land, aus welchen Gründen auch immer sind seit vielen Jahren Teil der Olympischen Spiele. Viele Athleten versuchen, die Ausreise aus ihrem eigenen Land zu nutzen, um ihre Staatsbürgerschaft zu wechseln. Es ist schwer, sich in jemanden hineinzuversetzen, der bereit ist, seine Staatsbürgerschaft aufzugeben und nicht in sein Heimatland zurückzukehren. Aber wenn man nicht in ihren Schuhen gelaufen ist, weiß ich nicht, was die wahren Beweggründe sind.
Sprinterin Kristina Timanowskaja in Warschau nimmt an einer Pressekonferenz teil und zeigt ein T-Shirt mit dem Slogan "I Just Want to Run".
Regimefeind wider Willen
Erstmals seit ihrer spektakulären Flucht aus Tokio hat die belarussische Leichtathletin Kristina Timanowskaja die Details der Ereignisse aus ihrer Sicht geschildert.
Friebe: Herr Pound, wir beide haben vor einem Jahr ausführlich die Änderungen der Regel 50 der IOC-Charta diskutiert. Da hat sich das IOC lange mit schwer getan. Hat es jetzt am Ende weh getan, jetzt doch gewisse Proteste zu erlauben?
Pound: Nein. Und ich denke, das wurde irgendwie falsch dargestellt, als würde es die Rechte der Sportler verletzen, ihre Meinung zu haben und sie zu äußern. Wir haben immer gesagt: Es steht Ihnen frei, zu tun, was Sie wollen, aber mit gesundem Menschenverstand und im Einklang mit den Gesetzen des Landes, in dem Sie es tun. Wir sagen nur, dass das Spielfeld nicht der Anlass für Proteste sein sollte. Und zum Spielfeld gehört auch die Siegerehrung, bei der die Welt sieht, wie das Ergebnis des Wettbewerbs war. Das sollte kein Anlass für politische Proteste irgendwelcher Art sein. Aber in Pressekonferenzen, in Interviews und so weiter haben wir immer gesagt, dass es den Athleten völlig frei steht, ihre Meinung zu äußern. Während des Wettkampfs werden Sie wahrscheinlich nichts unternehmen. Wenn Sie vor dem Wettkampf demonstrieren, würde ich ehrlich gesagt denken, dass Sie kein ernsthafter Sportler sind, denn wenn Sie in einem olympischen Finale stehen, sollten Sie sich auf das konzentrieren, was Sie gleich tun werden. Und danach kann man, ehrlich gesagt, zehn Minuten warten, bis die Siegerehrung vorbei ist, und dann seine Meinung äußern. Ich denke, das ist eine Frage der Höflichkeit gegenüber den Konkurrenten.
Friebe: Korrigieren Sie, wenn ich falsch liege. Es gab in Tokio nur einen Fall eines Protests bei einer Siegerehrung, die Kugelstoßerin Raven Saunders. Ist das eine Ermutigung noch weiter zu gehen und weitere Protest-Möglichkeiten zu erlauben?
Pound: Die Philosophie des IOC ist es, alle Teilnehmer der 206 Länder zusammenzubringen, dass sie friedlich im olympischen Dorf leben, die Rechte aller respektieren. Das ist das, was wir schaffen wollen. Es ist nicht unsere Aufgabe, Proteste zu organisieren und zu fördern. Jeder weiß, dass die Welt nicht perfekt ist, und ob man nun gegen die Menschenrechte oder gegen Fluorid im Wasser protestiert. Niemand weiß wirklich, wogegen man protestiert, und das ist auch nicht der Grund, warum wir hier sind. Wir sind hier, um zu zeigen, dass es für 206 Länder möglich ist, zusammen zu sein und fair, offen und in gutem Geist miteinander sportlich zu konkurrieren. Darum geht es uns. Wir müssen nicht sagen, dass die Welt nicht perfekt ist, denn das weiß bereits jeder.
Die italienische Schwimmerin Federica Pellegrini.
Wahl eines zahnlosen Tigers?
Die Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees hat vier neue Mitglieder. Doch es gibt Kritik an der Vertretung.
Friebe: Es gab auch den Fall der deutschen Hockey-Spielerinnen, die während des Spiels mit einer Regenbogenbinde antreten durften, mit Erlaubnis des IOC. Ist das ein Präzedenzfall, dass manches im Wettkampf doch erlaubt ist?
Pound: Vielleicht. All diese Dinge sind noch im Entstehen begriffen. Ich meine, wenn man ein universelles Prinzip bekräftigt, protestiert man nicht gegen jemand anderen. Das ist vielleicht eine andere Form der freien Meinungsäußerung, als wenn man sagt: Ich mag Land X oder Sportler Y nicht. Das stört mich nicht so sehr wie zu sagen, ich hasse jeden aus einem bestimmten Land.
Friebe: Am Ende dieses Gesprächs: wie sieht sich das IOC am Ende der Spiele 2020 selbst? Was ist Ihr Selbstbild?
Pound: Am ehesten sind wir Ermöglicher. Wir ermöglichen, dass dieses Ereignis der Olympischen Spiele stattfinden kann. Wir schreiben vor, dass sich dabei alle an die Regeln halten, einander und die Rechte anderer respektieren. Das ist es, was wir bekräftigen, und wir haben versucht zu zeigen, dass dies auch in einer sehr vielfältigen Welt mit Spannungen überall möglich ist. Das ist es, worum es uns geht. Es ist möglich zu zeigen, dass vor allem junge Menschen lernen, einander zu respektieren. Wenn du ein Sportler bist, egal aus welchem Land du kommst, sagen wir mal, du läufst die 100 Meter in 9,9 Sekunden und jemand aus einem anderen Land macht das Gleiche. Dann hat man einen gewissen Respekt voreinander, weil man weiß, was man für seine 9,9 tun musste. Man teilt die Erfahrung und kann sich gegenseitig dafür respektieren. Selbst wenn man dann im Rennen versucht, die 9,9 des anderen mit aller Kraft zu schlagen. Aber die Botschaft ist, dass es möglich ist, diese Oase des friedlichen Wettbewerbs alle vier Jahre zu haben. Ich habe immer gedacht, wenn bei den Olympischen Spielen etwas schief geht, dann steht die öffentliche Enttäuschung manchmal in keinem Verhältnis dazu. Viele sind enttäuscht, weil etwas, das funktionieren sollte, nicht funktioniert hat.
Friebe: Ich frage auch deshalb, Sie sind das dienstälteste IOC-Mitglied und kennen viele Jahre der Geschichte. Manchmal wirken Sie auf mich, als wollten sie sich als die kleine Sportorganisation geben, die mit Politik und alldem nichts zu tun hat und nichts ändern kann und auf der anderen Seite hört man aber viel über die ganz großen Themen. Solidarität, Frieden, Inspiration…
Pound: Ich denke, wir müssen uns zweier Dinge klar werden. Das eine ist, wofür wir stehen und was wir glauben, dass der Sport tun kann: den Zustand der Menschen im Allgemeinen verbessern, sowohl im Leistungssport als auch in der körperlichen Betätigung insgesamt. Das sind alles ehrgeizige Ziele, die wir haben, und wir können darüber sprechen und versuchen, in kleinem Rahmen zu zeigen, dass wir tatsächlich daran glauben. Aber wir sind maximal 115 Personen aus 70 oder 80 Ländern. Wir treffen uns einmal im Jahr, vielleicht zweimal im Jahr, wenn man in einer Kommission ist, also gibt es eine Begrenzung dessen, was man tun kann. Und das ist die andere Sache, wir müssen in einer Welt bestehen, die politisch und wirtschaftlich stark gespalten ist. Man muss also realistisch einschätzen, was man tun kann und auch, was man nicht tun kann.