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Existenz am Rande der Leblosigkeit

Reflexionen zwischen Sein und Schein, Literatur und Leben und delirierende Lust-Erotik-Gewalt-Schübe durchziehen das neue Buch von Ernst-Wilhelm Händler. In "Die Frau des Schriftstellers" schreckt der Autor auch vor echtem Kitsch nicht zurück.

Von Florian Felix Weyh | 01.10.2006
    Ein Mann, ein zweiter Mann, eine Frau und noch eine Frau, deren Zwillingsschwester nämlich. Zwei Männer mit zwei Frauen, diese Rechnung geht meistens auf. Tut sie aber nicht, denn der, dem die eine Frau - und die Frau des einen - zeitweilig zugewandt ist, hat an der Zwillingsschwester kein Interesse; der erste Mann auch nicht. Also rangeln zwei Platzhirsche um die Gunst desselben Weibes. Weil so etwas meist nicht gut ausgeht, tröstet sich der Erzähler, von dem wir die komplizierte Liebeskonstellation übermittelt bekommen, später mit einer neuen Geliebten. Oder hieße es besser: Gespielin?

    Zu den vier Elementarkräften im Universum, Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache Wechselwirkung muss eine fünfte hinzugenommen werden: Sex mit Beatrice.

    Diese dritte hinzugekommene Frau mischt das Trio freilich nur indirekt auf, indem sie eine Schleuse öffnet, die die Gegenwart von den Fesseln der Erinnerung befreit:

    Beatrice, du konstruierst mich neu, in deinem Lastenheft kommen keine Geburt und kein Tod mehr vor.

    In der Gegenwart- hier und jetzt schreibt ein Mann ein Buch. Dieses Buch handelt von ihm und seinem schärfsten Konkurrenten Pototsching. Der Schreiber hat ein lustvolles Liebesleben mit Beatrice und eine lustleidvolle Erinnerung an Laura. Doch nicht nur die Vergangenheit quält ihn, sondern auch die Frage nach der Moral jeglichen Berichtens. Die Wahrheit, über die er schreiben will, ist mit Falltüren gespickt. Wer lief in wessen Intrige hinein? Wer war Handelnder, wer Manipulierter? Ja, ist nicht alle Realität nur ausgedachte Konzeption?

    Beatrice mit ihrer Körperlichkeit erdet den Berichterstatter, indem sie ihm zeigt, dass er überhaupt existiert. Keineswegs selbstverständlich in einer Konstellation aus drei Schreibenden - dem Protagonisten, seinem Konkurrenten Pototsching und der begehrten Laura -, deren wichtigstes Ziel es ist, das Leben im Schreiben auszulöschen. Denn Schreiben geht vor Leben, Fiktion sticht Realität. Oder etwa nicht?

    Es zahlt sich aus, erkannt oder unerkannt in das Leben anderer einzudringen und daraus mit Gewalt Romane und Erzählungen zu machen, aus lebendigen Menschen gewaltsam Roman- und Erzählungsfiguren. Das Schreiben nach dem Leben durchdringt alle Bücher, je nach Konstitution und Temperament benutzt der Schriftsteller das Schreiben nach dem Leben als Werkzeug, oder er erliegt ihm. Schreibt jemand über jemand anderen, der nicht schreibt, kann sich der andere nicht zur Wehr setzen. Schreiben alle beide, stellt es einen unschätzbaren Vorteil dar, als erster geschrieben zu haben. Der zweite kann schon nicht mehr frei bestimmen, was und wie er schreibt, er muss sich ja gegen den ersten wehren.

    Bei näherer Betrachtung wirkt das wie ein Zeugnis wahnhaften Denkens, typisch für einen Menschenschlag, der sich selbst nur im Spiegel anderer erlebt - vielmehr im Spiegel der Produkte anderer. Schriftsteller, sagt man, sind solche wahnhaften Gesellen. Sie sehen sich und ihr Werk stets in ein Referenzmuster eingewoben, in dem fremde Autoren über Wert und Unwert der eigenen Existenz mitentscheiden. Wenn der ärgste Konkurrent dann noch ein Bestsellerautor ist wie Pototsching, muss man zwangsläufig schlecht über ihn reden:

    Pototsching konstruiert funktionsfähige Scheinmaschinen. Die Sprache imitiert primitive technische Spielereien ohne jegliche technologische Perfektion. Er versucht, mit Sprache Sprache aufzuspießen, mit Sprache Sprache zu entlarven und zu entstellen, um dem Leser ein Gefühl der Überlegenheit zu verschaffen. Der Roman als hoch entwickeltes Gerät im Dienste eines primitiven Instinkts, als Werkzeug triebhafter Gewalt.

    Dieser Pototsching nun hat ein Problem. Beim Fußball verletzt er sich die rechte Hand - die Schreibhand, ausgerechnet. Ein halbes Jahr muss er mindestens pausieren, zu lange für seinen Verleger Guggeis, denn Pototschings Bestseller sind für den wirtschaftlichen Erfolg des Hauses unverzichtbar. Was tun? Erstens könnte Laura, die Freundin Pototschings, seine behelfsweise mit der linken Hand gekrakelten Notizen entziffern und in den Computer eintippen. Zweitens könnte sie, unlängst selbst mit einem Roman an die Öffentlichkeit getreten, das Buch stellvertretend zu Ende schreiben.

    Beides scheitert daran, dass Laura und Pototsching seit kurzem getrennter Wege gehen. Ein Bote zwischen den Parteien ist nötig, und den soll unser Ich-Erzähler spielen. Ausgerechnet er, der für Pototschings Literatur so wenig übrig hat? Ja, denn bei Laura genießt er hohes Ansehen, hat er doch ihren Erstlingsroman - ohne Kenntnis der Person - in einer Rezension über den grünen Klee gelobt. Als Belohnung für den simplen Botendienst wartet der Wechsel zum renommierten Guggeis-Verlag, bei Verdopplung seiner gewohnten Vorschüsse. Ob sich Guggeis da nicht verrechnet hat? Unter pekuniären Aspekten verläuft die Begegnung mit Laura in Berlin nicht gerade erfolgreich, lähmt sie doch den schriftstellerischen Elan des Protagonisten erheblich:

    "Bevor ich Laura begegnete, hatte ich nie daran gedacht, etwas anders zu tun als zu schreiben, etwas anderes zu sein als Schriftsteller. Das Nicht-Schreiben stellte die Anomalie dar, präsent nur als Idee des Writer's block, es markierte eine Grenzlinie, der ich mich nur von einer Seite nähern wollte. Laura erkannte das Schreiben als Tauschpartner des Lebens an. Nachdem ich Laura begegnet war, dachte ich zum ersten Mal daran, das Schreiben dem Leben zurückzugeben."

    In einfachen Worten: Er verfällt der geheimnisvollen Frau mit den beiden unterschiedlich farbigen Augen. Eine Amor fou, wie sie nur zwischen Buchdeckeln vorkommt. Und er rennt in eine Intrige hinein, die seine Identität gründlich unterhöhlt. Tatsächlich nämlich soll er Pototschings Manuskript zu Ende schreiben, und dass der Bestsellerautor ihn zur Ex-Freundin schickt, hat äußerst niederträchtige Gründe. Nur anfangs sieht Pototsching wie der Verlierer aus:

    Ein Schriftsteller begeht Selbstmord als Schriftsteller, wenn er einem anderen Schriftsteller offenbart, dass er ohne ihn nicht in der Lage ist, aus seinem Manuskript ein Buch zu machen. Pototsching forderte mich heraus, indem er als Schriftsteller Selbstmord begehen wollte. Ich konnte der symbolischen Verpflichtung nicht entgehen. Ich musste mir anhören, wie er aus seinem Manuskript vorlas. Sein Selbstmord würde im riesigen Kreis der Literatur nur einen unendlich kleinen Punkt bilden, aber seine Sehnsucht nach dem Tod würde ein Vakuum mit enormer Sogwirkung erzeugen.

    Um diesen Punkt herum sollte sich die Literatur verdichten, in einen Wundstarrkrampf fallen, sich selbst blockieren und an ihrer Vollkommenheit zugrunde gehen. Denn Pototsching hasste die Literatur. Vielleicht hatte Pototsching Laura geliebt, aber nur so lange, wie sie nicht Schriftstellerin gewesen war. Als Schriftstellerin musste er sie hassen, und er musste mich hassen. In meiner Person war die Literatur Erfolg versprechend angreifbar, in meiner Allianz von Schreiben und Nicht-Leben fand er sie personifiziert.


    Dieser Selbstmord ist in Wahrheit ein geplanter, glücklicherweise nur metaphorischer Totschlag, denn als der Protagonist das unvollendete Manuskript zu lesen beginnt, traut er seinen Augen kaum: Es ist seine Kindheit in einem österreichischen Dorf, die da archaisierend und in deutlicher Anlehnung an Thomas Bernhard beschrieben wird. Pototsching hat ihn komplett enteignet und fordert ihn nun auch noch auf, den gestohlenen Stoff in seinem, Pototschings Stil zu vollenden.

    Eine schlimmere Demütigung ist kaum denkbar. Warum tut er das? Viele hundert Seiten später erfahren wir es: Laura verliebte sich in den Protagonisten, noch bevor dieser überhaupt von ihrer Existenz wissen konnte. In einer Talkshow sieht sie ihn sprechen und agieren, und flugs wird sie von Amors Pfeil getroffen. Als Pototsching das begreift, bestimmt Vernichtungswut sein Handeln. Der doppelte Konkurrent im Schreib- wie im Liebesleben soll vollkommen niedergerungen werden. Doch zum Schluss - nach etlichen Finten aller Beteiligten - verpufft der Spuk im Nichts:

    Pototsching hat das Manuskript doch noch zu Ende geschrieben. Meine Kindheit ist komplett. Das Manuskript liegt bei Guggeis. Pototsching will nicht mehr, dass das Manuskript veröffentlicht wird. Er hat ein neues Buch geschrieben. Alle Verträge sind unterzeichnet, Pototsching stehen keinerlei rechtliche Möglichkeiten zu Gebot, die Veröffentlichung des Manuskripts noch zu verhindern. Es kann nicht in meinem Interesse liegen, dass das Buch über meine Kindheit erscheint. Ich soll Guggeis überreden, das Manuskript zurückzugeben und dafür das neue Buch zu machen. Ich brauche nur zu sagen, dass ich die Veröffentlichung des Manuskripts als eine Verletzung meiner Persönlichkeitssphäre ansehe.

    Verlassen wir an dieser Stelle die Ebene der Nacherzählung, denn Handlung, gar Spannung spielt im neuen Roman "Die Frau des Schriftstellers" von Ernst-Wilhelm Händler eine untergeordnete Rolle. Bei Licht besehen erweist sich die Personenkonstellation als äußerst gängig und taugte eher zur Vorlage einer Vorabendserie - wenn sich die denn mit dem Leben von Schriftstellern abgäbe. Der Roman hingegen ist unanständig anspruchsvoll.

    Unanständig, weil er den Leser fortwährend beansprucht, ohne ihn gleich oder später zu entlohnen. Er führt ihn über Irrwege aus konstruktiven Schleifen, über Felder mit seriellen Kompositionen hinweg, deren beinahe schon parodistisch wirkender Höhepunkt aus mehrere Seiten binären Codes besteht. Ohne Demut vor dem Text - oder besser noch: durch einige Semester strukturalistisch angehauchten Literaturwissenschaftsstudiums gewappnet - wird man kaum Zugang zu einem Romanprojekt finden, das die Nabelschau der zeitgenössischen Belletristik um ungeahnte Dimensionen erweitert.

    Nur darum geht es auf 640 Seiten: Reflexionen zwischen Sein und Schein, Literatur und Leben, Schreiben und Wahrheit, Verzeichnen und Verzerren. Weder delirierende Lust-Erotik-Gewalt-Schübe, noch die Literaturbetriebssatire über den Verleger Guggeis (alias Siegfried Unseld) ändern etwas daran, dass einen normalen Buchleser, der sich nicht täglich mit der Formulierung von Welt abplagt, dieses Sujet schlicht nichts angeht, weswegen ihn auch die formalen Hochseilakte wahrscheinlich kaum zu beeindrucken vermögen. Händler hält ein hoch- wie hohltönendes Privatissimum über Formen und Besessenheit des Schreibens ab und schenkt dem Leser nur in homöopathischen Dosen seine Aufmerksamkeit:

    Der Leser ist Bestandteil des Begriffs der Literatur: Wenn einer schreibt und nur sich selbst als Leser hat, dann ist das keine Literatur, sondern eine Geisteskrankheit.

    Wohl wahr, doch spricht das der satirisch überzeichnete Verleger Guggeis aus, dem manch bedenkenswerte Überlegung zur realen Seite der Literatur - Vermarktung und Verkauf nämlich - in den Mund gelegt wird, gegen die das vorliegende Buch dann mit Bedacht verstößt. Für seine Unabhängigkeit ist der Unternehmer und Romancier Ernst-Wilhelm Händler bekannt. Anders als die Berufsschriftstellerkollegen ringsum kann er es sich materiell leisten, nicht-marktkonforme Literatur zu schreiben und seit Jahren sein Projekt einer "Grammatik der vollkommenen Klarheit" zu verfolgen; einer Grammatik freilich, für deren Verständnis erst die passende Sprachgruppe geboren werden muss.

    Mit den Mitteln der doch schon reichlich angejahrten Avantgarde, die ihr Heil im Collagen- und Schichtungsprinzip sucht und damit der Wirklichkeit tiefere Erkenntnisse abringen will, bricht er das lineare Erzählen auf. Beschert das nennenswerte Ergebnisse? Ist Händler, der hier zunächst nur breit daherkommt, wirklich der tiefe Autor, als den ihn das Feuilleton bei Themen außerhalb des engen Literaturbetriebshorizonts seit Jahren wahrnimmt? Hören wir zu, wie er Landschaft beschreibt:

    "Die bayerische Landschaft leugnet den Kitsch nicht, sie verdammt ihn nicht, vielmehr lässt sie den Kitsch gegen den Kitsch kämpfen. Dabei benutzt sie vor allem solche Kitschelemente, die früher eine sakrale Bedeutung besaßen, um die Wiederauferstehung eines Geheimnisses nahe zu legen, von dem man glaubte, es gebe es nicht mehr. Die Jakobsleiter in den Himmel ist in Bayern das Netz der Wanderwege. Man kommt nicht umhin, die bayerische Natur auch zu bewundern, sie muss schon sehr luzid bleiben, um mit der Ambivalenz ihrer Bestandteile umgehen zu können, die immer im gleichen Ausmaß berauschend und unbefriedigend sind, faszinieren und abstoßen."

    Auch das zählt zur Reflexionsprosa, wenngleich darin ein perspektivischer Fehler auffällt. Ob Landschaft als kitschig empfunden wird, hängt vom jeweiligen Beobachter und seiner ästhetischen Vorerfahrung ab. Landschaft per se steht in keinerlei Verbindung zum Kitsch, sie kann ihn weder verkörpern noch leugnen, sondern unterliegt passiv den Zuschreibungen ihrer Betrachter. Bei Händler wirkt der verrutschte Absatz freilich wie ein Philosophem, obwohl die Subjektivierung von Natur und Landschaft in diesem Fall die Grenze zur Stilblüte überschreitet.

    Vor echtem Kitsch, den Niederungen der Trivialkultur, schreckt der Autor dagegen nicht zurück, wenn er etwa den Protagonisten über eine Begegnung mit dem verstorbenen Schlagersänger Rex Gildo sinnieren und dessen Lied "Memories" Holperzeile für Holperzeile zitieren lässt. Brüche gehören seit Anbeginn zum Prinzip der Avantgardeliteratur, sie sollen den Blick öffnen - doch wofür?

    Was bringt die seitenlange Aufzählung aller lateinischen Namen von Phobien, die in der Psychiatrie geläufig sind mehr als nur eine halbe Sekunde Belustigung? Der Einbruch nach unten ins Kellergeschoß der Beliebigkeit ist bei dieser "Grammatik der vollkommenen Klarheit" häufiger als der Durchbruch nach oben, hin zu unerwarteten Erkenntnissen. Dabei ist Händler sehr wohl ein kluger Mann. Nur schlägt er allzu selten aus seine Klugheit Funken.

    Das Beobachten und das Erklären kamen auf die Welt wie zwei Zwillinge, das Beobachten sollte der Erstgeborene sein, aber das Erklären wurde vorzeitig geboren, das Beobachten hatte sich voll entwickelt, das Erklären war zu kurz im Mutterleib, es siechte dahin. Für jeden Menschen gibt es einen Satz, der ihn heilen kann, und einen anderen Satz, der ihn vernichten kann. Kein Mensch kann für einen anderen Menschen beide Sätze sagen.

    Du bist die Ausnahme. Du bist dazu fähig, für Menschen, ich weiß nicht, ob für alle Menschen, aber bestimmt für die Menschen, an denen du Anteil nimmst, sowohl den Satz, der heilt, als auch den Satz, der vernichtet, zu sagen. Du kannst es für mich, natürlich kannst du es für Pototsching. Du bist dazu fähig, weil du aus Beobachten und Erklären bestehst. Das Beobachten sagt den Satz, der heilt, das Erklären den Satz, der vernichtet.

    Tatsächlich verkörpern Beobachten und Erklären das tragende Prinzip ernster Literatur, und die Suche nach den beiden antagonistischen Sätzen, die heilen oder zerstören können, treibt Dichter seit Jahrtausenden um. Dieser spannende Gedanke, hier aufgefunden in einem Textfragment der Schriftstellerin Laura, muss aber lange warten, bis er wieder aufgenommen und schließlich wenigstens zur Hälfte eingelöst wird. Zwanzig Seiten vor Schluss des Buches lesen wir:

    Tausendmal will ich den Satz schreiben: Das Kind soll leben. Das soll der Satz sein, der heilt. Und der Satz, der vernichtet?

    Das Kind? Ja, in all die ausgedachte Fiktionalität, den Zirkus neurotisch gekränkter Erwachsenenseelen bricht das vitale Leben ein. Laura ist vom Protagonisten schwanger, der dies freilich auch wieder nur indirekt erfährt, weil er indiskreterweise an Lauras Computer die detaillierte Beschreibung einer Abtreibung liest. Erdachte Prosa oder vorweggenommene Wirklichkeit? Die vernichtenden Sätze jedenfalls kommen aus dem Mund der künftigen Mutter, Nicht-Mutter, Mutterschaftsverweigerin:

    Weggeben kommt für mich nicht in Frage. Ich kann das Kind nicht Monate in mir tragen, es ist ein Teil von mir, es kommt raus, ich sehe es noch kurz und tschüs, dann ist es fort und für den Rest des Lebens weiß ich nicht, wie es ihm geht. So weiß ich wenigstens, dass es tot ist. Warum geben wir ihm nicht einen Namen? Warum sprechen wir nicht mit ihm? Wir können ihm sagen, dass er einfach im unpassenden Moment zu uns kommt, dass er noch etwas warten muss und dass er vielleicht später wiederkommen kann.

    Wir nennen ihn Geronimo, ist das nicht ein toller Name? Geronimo muss jetzt einfach zurück und eine Weile warten, bis wir für ihn bereit sind. Wir wünschen ihm ein Paradies, in dem er ganz alleine lebt, er wartet dort, bis er später gerufen wird und kommen darf. Wir sollten uns vorstellen, dass seine Seele zurück in die Schüssel geht, irgendwo gibt es eine große Schüssel, und da sind alle Seelen drin. Ich bin mir sicher, wenn ich später ein Kind haben werde, wird genau diese Seele zu mir zurückkehren. Diese Seele ist dazu bestimmt, mein Kind zu werden, aber der Moment stimmt einfach nicht.


    Hier bricht tatsächlich einmal harte Realität in Ernst-Wilhelm Händlers verschlungenes und damit vor allen Realitäten flüchtendes Schreiben ein. Diese überaus geläufige Exkulpierungssuada unserer hedonistischen Welt, die wohlgeformten Gründe aufzuzählen vermag, um sich ungeliebten Lebensaufgaben zu entziehen, dabei aber auf jeden Fall eine reine Weste behalten will, hat der Autor seinen Zeitgenossen gut abgelauscht. Doch besitzt er auch eine Haltung dazu? Der letzte Satz des Romans belässt alles im Vagen:

    Ich werde stillhalten, Laura wird zum Arzt gehen. Damit ich ein Buch über alles schreiben kann.

    Zwar handelt "Die Frau des Schriftstellers" davon, wie sich literarische Projekte am Leben versündigen, doch da die Literatur unterm Strich als überlegen charakterisiert wird, bleibt die grundsätzliche Frage nach der Moral ihrer Herrschaft ungestellt. Wie viele Opfer darf Literatur fordern, damit unaufhörlich Buch um Buch geschrieben wird?

    Rechtfertigt die Geburt eines Romans den Verrat von Menschen und Lebensentwürfen, gar Abtreibung und Tod? Der Protagonist, eine verzweifelte Existenz am Rande der Leblosigkeit, findet nach der missglückten Laura-Liebe immerhin in die Arme seiner Beatrice. Doch die schickt ihm alsbald nur noch E-Mails mit psychiatrischen Diagnosen: Besser er bleibe seiner fiktionalen Welt verhaftet, scheinen diese unisono zu sagen, als dass er mit realen Menschen in Kontakt trete. Er ist nämlich unerträglich - so unerträglich wie das Buch, das er schreibt.