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Existenz im Ausnahmezustand

In ihrem großen Erfolgsbuch "Weiter leben" von 1992 hat die 1931 in Wien geborene Autorin Ruth Klüger ihr Überleben zusammen mit ihrer Mutter in Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt geschildert. In "Unterwegs verloren" geht es nun um die Jahrzehnte danach.

Von Angela Gutzeit | 20.10.2008
    In ihrem Buch "Gelesene Fiktionen" hat Ruth Klüger sich intensiv mit dem autobiografischen Schreiben beschäftigt. Die Autobiografie, so ist da zu lesen, ist nach ihrem Verständnis der Geschichtsschreibung näher als der Belletristik - mit der Subjektivität, den Gefühlen und den sehr persönlichen Eindrücken, die dazu gehören. Die Grenzen des Genres Autobiografie zieht Ruth Klüger also sehr eng: das Romanhafte, Anekdotische hat nach ihrer Meinung hier nichts zu suchen. Dagegen erfüllt sich für die Autorin in der "Zeugenaussage" der Zweck des autobiografischen Schreibens.

    Die Zeugenaussage als subjektive Wahrheit. Nun ist das, was ein Mensch erlebt hat und wie er es erlebte, schwer mit Kategorien wie "richtig" oder "falsch" zu beurteilen. Das Interessante für den Leser einer Autobiografie ist deshalb wohl eher, wie Sprache und Gestaltung sich gegenüber den geschilderten Erlebnissen verhalten. In Ruth Klügers Buch "Unterwegs verloren", es ist die Fortsetzung ihrer Autobiografie "Weiter leben", stehen sie in einem Spannungsverhältnis, das einerseits produktiv wirkt, andererseits an eine Selbstdemontage der Autorin grenzt.

    In ihrem großen Erfolgsbuch "Weiter leben" von 1992 hat die 1931 in Wien geborene Autorin ihr Überleben zusammen mit ihrer Mutter in Theresienstadt, Auschwitz und Christianstadt geschildert. Vater und Bruder wurden ermordet. In ihrer provozierenden Nüchternheit ist diese Annäherung an das völlig Sinnlose, Zweckfreie, wie sie die KZs in dem jetzt erschienenen Interviewband mit Renata Schmidtkunz deutete, vielleicht nur noch mit Imre Kertesz' Annäherung an die Lagerwelt vergleichbar. In "Unterwegs verloren" geht es nun um die Jahrzehnte danach. Ruth Klüger immigrierte mit ihrer Mutter in die USA, machte Karriere als Hochschullehrerin in Princeton und Virginia, heiratete, bekam zwei Kinder, ließ sich scheiden. Offensichtlich also ein Leben, dass trotz Lager-Erfahrung und Ehe-Unglück in erfolgreiche Bahnen mündete. Aber Ruth Klüger durchkreuzt diese Annahme gleich zu Beginn. Das Leben, so stimmt sie den Leser ein, ist für sie offensichtlich eine fortdauernde Existenz im Ausnahmezustand:

    Die Möglichkeit, getötet zu werden, haftet nämlich unsereinen nachher auch in Friedenszeiten im Hinterkopf.

    Sichtbares Zeichen dieser Möglichkeit ist für sie die eingebrannte Auschwitz-Nummer im Arm. Ihre Umwelt, ihre amerikanischen Hochschulkollegen, ihre Studenten empfinden die unverhüllte Häftlingsnummer als Provokation. Von einem jüdischen Kollegen, so schreibt sie in ihrem Buch, sei sie sogar als Schande, als Peinlichkeit gewertet worden.

    Das Wegoperieren der Nummer ist schließlich der Versuch einer Selbstbefreiung - auch von Schuldgefühlen gegenüber dem ermordeten Bruder. Gelungen ist dieser Versuch nicht. Rücksichtslos gegen sich selbst und schonungslos gegenüber Kollegen, die sie zum Teil auch beim Namen nennt, sieht Ruth Klüger in jeder Verletzung, jeder Unhöflichkeit, Ignoranz oder Zurücksetzung einen Beweis dafür, als 'minderwertig‘ zu gelten. Ist es nicht der weiter schwärende Antisemitismus, mit dem sie die Stolpersteine, die ihr ständig in den Weg gelegt wurden, zu begründen sucht, dann ist es die Frauenfeindlichkeit. Oft wird auch beides miteinander vermengt, wenn Sie zum Beispiel die "Schande" von Holocaustopfern, "gelitten zu haben" - wie sie schreibt - mit der Verachtung von Vergewaltigungsopfern gleichsetzt. Der sonst so feinsinnigen Formulierungskünstlerin entgleist in diesen - leider so zahlreichen - Passagen völlig die Sprache. So gipfelt beispielsweise ihr Bericht von einem Vorfall beim geselligen Beisammensein mit Kollegen der Princeton University, bei dem sie einem jüdischen Kollegen, der sie diskriminierte, Wein ins Gesicht schüttete, mit der Bemerkung: "Da hat er den Weißwein in die Schnauze bekommen" und "Du hast es ihm gezeigt und einen Auslauf für deine Wut gefunden". Unbemerkt sind ihr diese Verbalattacken allerdings nicht aus der Feder geflossen:

    Ich kann über Probleme mit meinen Kollegen auch nicht mit einem Anflug von Objektivität nachdenken. Ich merke das beim Schreiben: Wenn ich mich ärgere, ist es aus mit der Ausgewogenheit. Triviale Anlässe bauschen sich auf. Wo andere Menschen sicher nur einen Teich sehen, den man durchwaten kann, ist für mein Gehirn eine Sturmwelle da, auf der nur geübte Surfer sich aufrecht erhalten.

    Dafür könnte man noch Verständnis aufbringen. Denn ihre Beobachtungen , was Antisemitismus, Rassismus und Diskrimierung von Frauen in der amerikanischen, deutschen, österreichischen Gesellschaft angeht - Ruth Klüger liefert da viele Beispiele - sind sicherlich nicht aus der Luft gegriffen. So mag man ihr beispielsweise auch noch folgen in ihrer Enttäuschung über den ihrer Meinung nach antisemitischen Roman "Tod eines Kritikers" ihres Freundes und jahrzehntelangen Briefpartners und Förderers Martin Walser. Die Freundschaft fand nach einem offenen Brief Klügers, der hier abgedruckt ist, ihr Ende. Aber Ruth Klüger fehlt leider auch jegliche Souveränität in der rückblickenden Bewertung privatester Dinge ihrer gescheiterten Ehe und der offensichtlich auch problematischen Beziehung zu ihren beiden Söhnen. Ihr - wörtlich: "lebenslanges Ressentiment gegen den Vater ihrer Kinder", den Historiker Tom Angress, bricht sich hier ungezügelt Bahn. Wo nicht die kleinliche Abrechnung wütet, gar die Rache hervortritt, da dominiert die Klage.

    Die Gleichgültigkeit derer, die in Sicherheit leben, ist bekannt, ebenso deren Schuldbewusstsein und der Wunsch, die Welt zu verändern wir gehören dazu, ich gehöre dazu, nur kann ich mich nicht frei machen von dem Gefühl, dass ich von der einen Seite des Abgrunds herkomme, Kinder und Enkel auf der anderen Seite, die wissen nicht einmal, was für Fragen sie stellen könnten.

    Was in diesem zweiten Teil ihrer Autobiografie zu verschwinden droht, das ist sie selbst - zumindest als erfolgreiche Frau, kluge Germanistin und literarisches Talent. Obwohl es in diesem Buch durchaus zwei, drei sehr gelungene Kapitel gibt, die an dieses Talent erinnern. Zum Beispiel wenn sie über Freundschaft zu Frauen schreibt oder über den Tod der Mutter. Da ist sie ganz bei sich selbst.

    Ruth Klüger hatte in den USA der 70er/80er Jahre eine einzigartige Karriere an den bedeutendsten akademischen Instituten des Landes gemacht. Ihre Bücher, Essays und Vorträge, die sich unter anderem mit dem Antisemitismus in der deutschen Literatur, mit dem Verhältnis von Geschichte und Literatur, mit den Frauengestalten in Schnitzlers Dramen oder auch mit dem Thema "Alte Menschen in der Dichtung" beschäftigen, wurden stark beachtet und ausgiebig rezensiert. Von der Entstehung dieser Bücher, von der Wahl der Germanistik "als Droge, die die katastrophale Vergangenheit beschwor", wie sie schreibt, und mit der sie den Hass, die Erinnerung an die Lager bannen wollte - davon ist in "unterwegs verloren" viel zu wenig die Rede. Ruth Klügers Zeugenschaft spricht die Sprache der fortdauernden Verletzung. Das tut dem Buch nicht gut. Aber vielleicht hatte sie einfach keine andere Wahl.

    Ruth Klüger: Unterwegs verloren.
    Zsolnay Verlag. 238 Seiten. 19.90 Euro