Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Existenzielle Erfahrungen

Mit "Der Anthologist" hat man ein Werk über Lyrik in Händen. Genauer gesagt, einen Roman, der davon berichtet, wie ein etwas verkrachter Dichter sich damit quält, die vierzig Seiten Einleitung zu einer Anthologie zu schreiben. Nicholson Baker hat ein lyrisches Feuerwerk geschaffen.

Von Michael Schmitt | 07.03.2010
    Nicholson Baker war und ist für Überraschungen gut. Dem verdankt sich die Resonanz seiner frühen Romane, beispielsweise "Vox" oder "Fermate", genauso wie das Aufsehen und der Verkaufserfolg, den er 2008 / 2009 mit seiner alternativen Geschichte des Zweiten Weltkriegs, mit "Menschenrauch" erzielt hat.

    Es scheint zudem, dass die Kontraste zwischen den Büchern, die er nacheinander veröffentlicht, immer größer werden. Dass sie zwar alle immer wieder auf dem gleichen leicht manischen wirkenden, aber verspielten Beharren auf mikroskopisch kleinen Einzelheiten, auf dem Blick auf materielle Details beruhen, dass ihre Themen aber immer mehr differieren. Dass sie immer weiter ausholen, um Terrain abzustecken – ins Privat-Intime einerseits, ins Gesellschaftlich-Politische andererseits.

    "Double Fold" ("Der Eckenknick") war eine energische Attacke auf den Umgang von amerikanischen Bibliotheken mit den Büchern, die sie eigentlich zu hüten und zu horten haben. "Eine Schachtel Streichhölzer" setzte sich aus dreiunddreißig minimalistischen Betrachtungen eines Familienvaters mittleren Alters beim morgendlichen Feuermachen zusammen – in Maine, in einem abgelegenen Haus, zwischen vier und fünf Uhr morgens. Darauf folgte "Checkpoint", ein Dialogroman, in dem vor allem darüber debattiert wird, ob man den damaligen amerikanischen Präsidenten George W. Bush vielleicht ermorden sollte. Das verursachte 2004 einen veritablen Skandal, weil das Buch natürlich missverstanden wurde. Und dann kam eben auch noch "Menschenrauch", eine Collage von Zitaten aus Politiker-, Zeitzeugen- und Historikermund, die belegen will, welch entscheidenden Anteil die USA am Ausbruch und an der Ausweitung des Zweiten Weltkriegs gehabt haben.

    Mit "Der Anthologist" hat man nun ein Werk über Lyrik in Händen; genauer gesagt, einen Roman, der davon berichtet, wie ein etwas verkrachter Dichter sich damit quält, die vierzig Seiten Einleitung zu einer Anthologie zu schreiben, die er vor allem zusammenstellen will, um zu zeigen, dass der Reim und die gebundene Form entgegen allen Entwicklungen der Moderne, die höchste Stufe poetischen Sprechens ist.

    Dieser Lyriker heißt Paul Chowder, weist wie fast alle Helden in den Büchern Nicholson Bakers eine gewissen Ähnlichkeit mit dem Schriftsteller auf – und sollte natürlich genau deshalb nicht mit ihm in Eins gesetzt werden. Und genauso selbstverständlich ist dieser Paul Chowder einmal mehr ein etwas schrulliger Charakter, der bei der Arbeit an seiner Anthologie noch einige weitere sehr private Thesen zur Formgeschichte der angelsächsischen Lyrik verfolgt - und sich in der Scheune seiner Farm, die er geerbt hat, zudem damit quält, dass es um seine dichterische wie private Existenz nicht zum Besten steht.

    Die Zeiten, in denen seine Gedichte in den bekannteren Journalen gedruckt wurden, scheinen vorbei zu sein; er ist pleite und seine Freundin hat ihn verlassen, weil es mit seiner Arbeit nicht vorwärts geht. Der Verdacht liegt nahe, dass das Ungenügen an sich selbst eine entscheidende Triebfeder im geistesgeschichtlichen Kampf gegen die Moderne ist, gegen Ezra Pound und gegen Marinetti, die besonders nachdrücklich angegriffen und abgeurteilt werden. Ein "Konservativer" aber ist Chowder deshalb beileibe nicht – und er ist auch keiner, der sich gegen die Segnungen der Technik sträubt. Er "tummelt sich bei i-Tunes", er kauft via Internet; und er hat - vor allem das - selbst immer nur freie Lyrik gedichtet. Sein Interesse am Reim hat etwas sentimentalische Züge; man darf vermuten: Er braucht einen Halt, und sei es auch nur in der Poetologie.

    Auch antriebslos ist er nicht, obwohl ihm das geplante Vorwort nicht aus der Feder rinnen will. Denn alles, was ihm durch den Kopf geht, bezieht sich auf Gedichte, und alle Gedichte, die er hört oder liest, beziehen sich zurück auf sein Leben, er steht also eigentlich ständig unter Strom, er kommt nur, in einem ganz pragmatischen Sinne, nicht damit "zu Potte". Denn er leidet an seiner mutmaßlichen Mittelmäßigkeit, und er hat, wenn er sich mit den Großen der Poesie vergleicht, auch eine Theorie, warum es so um ihn steht, wie es um ihn steht:

    "Wenn ich diese Dichterleben so betrachte, dann weiß ich , was mit mir nicht stimmt. Sie waren zu anderen Opfern bereit, als ich es bin. Sie waren zerquält, sie waren verkorkst.
    Ich bin nur ein bisschen verkorkst. Ich leide gerade so weit, dass ich gelegentlich schlecht schlafe, und ich beantworte meine E-mails nicht so gewissenhaft, wie ich es tun sollte. Mich überkommt oft eine große Seelenmattigkeit, wenn ich per E-mail aufgefordert werde, etwas zu tun. Und dann habe ich nicht unerhebliche Kreditkartenschulden. Nur ist das noch lange keine echte Selbstquälerei. Mal ehrlich, von außen betrachtet – sagen wir aus dreißig Metern Entfernung --, bin ich ein durch und durch konventioneller Typ. Ich gerate beim Autofahren nie über den Seitenstreifen. Mein leben wird selten von Krisen geschüttelt. Im Augenblick fühlt es sich zwar an wie Krise, weil mich Rosslyn nach acht Jahren verlassen hat und ich empfindlich leide, aber mein Kriseln ist nichts gegen die Krisen, die Ted Roethke und Louise Bogan durchgemacht haben, James Wright oder Tennyson oder Elisabeth Barrett Browning mit ihrem Laudanum. Von Poe ganz zu schweigen."

    Was in einer solchen kurzen Passage vielleicht wie Namedropping anmutet, entwickelt sich auf die volle Länge des Romans, über 255 Seiten, schnell zu einer umfassenden und unwiderstehlichen Schulung lyrischer Sensibiltät. "Der Anthologist" ist ein eigenwilliger Kerl, und man darf ihm nicht alles glauben, was er verficht, aber eines muss man ihm lassen: Er kennt die Dichter, er kann Bögen schlagen vom Barock bis zum Country Song, und weiter bis zu Pop und Rock der Gegenwart. Er lebt voll und ganz für seine Sache, auch wenn sie nicht vorangeht. Er überlässt sich dem Klang von Worten und spielt damit, egal um was es geht. Er kann knackig pointieren und dann wieder einfühlsam beschreiben, wie Gedichte wirken, wenn man sich ihnen überlässt. Er kolportiert Anekdoten und Affären, über diejenigen, die er verehrt – und ahnt von diesen, so gut wie er es von sich selbst weiß, wie die Verse, die sie schmieden, mit ihrem Alltag zusammenhängen ....

    "Lyrik ist die kunstvolle Verfeinerung des Schluchzens."

    Schreibt er also hin; und auch:

    "Das Reimen von Reimen ist eine hochwirksame Selbsttherapie."

    Manche dieser Weisheiten beruhen womöglich vor allem auf Paul Chowders Projektionen und nicht nur auf literaturgeschichtlichen Einsichten – aber sie überzeugen, weil Chowder selbst in seiner Wunderlichkeit überzeugt, und weil er sie so sprachmächtig vorbringt.

    "Die wahre Dichterdepression ist eine Leichenstarre des Leids. Sie ist eine Vollkörperfehlfunktion. Man verlässt das Zimmer nicht mehr. Louise Bogan hat es in zwei kurze Zeilen gefasst. Damals, anno was weiß ich, irgendwann in den Dreißigern. Sie stehen in dem Gedicht, das der "New Yorker" "Einsame Betrachtung, mitgebracht von einem Ritt durch die Hölle" betitelt hat. Die Zeilen gehen so: "Nachts hört man nur / die Träne im Ohr" sie liegt auf dem Rücken, sie weint. Die Augen stehen voller Tränen, sie laufen über, rinnen ihr seitlich herum in die Ohren. Das ist so physisch, direkt, interessant. Das Weinen geht sozusagen direkt ins Hören über. Die Trauer wird hörbar: als Gedicht. So läuft das bei wirklich guten Dichtern. Weinen und Singen sind eins."

    "Man braucht die Kunst, um das Leben zu lieben", heißt es an einer anderen Stelle – und damit ist klar, dass dieser Roman von existenziellen Erfahrungen handelt und nicht von "Bildung" im eher sterilen traditionellen Sinne. Darin liegt seine überwältigende Kraft. Dieser "Anthologist" wühlt sich durch Berge von Gedichten und fremden Anthologien und sucht dabei letztlich nur nach Versen, deren Intensität sich durch sein eigenes oder fremdes Empfinden bestätigen lassen. Er sitzt nicht an einer Kompilation der wichtigsten Gedichte aller Zeiten, er ist keiner, der einem Leser überhaupt erst einmal klar machen will, dass es sich lohnt, Gedichte zu lesen, obwohl sie so schwer zugänglich erscheinen. Mit all dem hält er sich nicht auf – vermutlich interessiert es ihn auch gar nicht. Er will kein Lyrik-Verführer im pädagogischen Sinne sein – wenn etwas an seinen Einlassungen verführerisch wirkt, dann die Besessenheit, mit der er sich auf alles stürzt, was mit Sprache, mit Klang und hochverdichtetem Ausdruck und Rhythmus zusammenhängt.

    Die Gedichte sind ihm alles, weil er sonst nicht viel hat. Er ist allein, die Kreditkartenschulden drücken ihn, einen Lehrauftrag möchte er lieber nicht annehmen, weil er das Unterrichten nicht mag und zudem der Ansicht ist, im Bunde mit W. H. Auden und anderen, dass in Creative-Writing-Seminaren nichts Wesentliches entstehen kann. "Tipps" aber glaubt er geben zu können – für die, die auf vergleichbaren Pfaden unterwegs sind, die selber schreiben und reimen möchten. Und auch das kommt dann betont un-akademisch daher:

    "Einen guten Tipp habe ich jedenfalls schon mal für Sie: Schreiben Sie Gedichte ab. Das hat absolut oberste Priorität. Lernen Sie sie meinetwegen auswendig, aber schreiben Sie sie vor allen Dingen ab. Besorgen Sie sich Notizbuch und Stift und schreiben Sie sie ab. Es wird Sie erschüttern, wie hilfreich das ist. Schon in ihrem nächsten Gedicht erzielen Sie sofortige Wirkung, das verspreche ich Ihnen.

    Ein weiterer Tipp lautet: Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie es. Heben Sie es sich keinesfalls auf. Denken Sie nicht: Ich nehme erst einmal Anlauf auf die Wahrheit, um die es mir wirklich geht. Denken Sie nicht: Dieses Gedicht packe ich mal ganz raffiniert an, ich beginne mit dieser Wahrheit hier drüben, tummle mich ein bisschen dort hinten, um dann in der Ecke da mit etwas lila Knetmasse zu spielen und erst ganz am Schluss zur Wahrheit zu kommen. Nein, die Wahrheit muss gleich auf den Tisch. Sie aufzusparen funktioniert nicht. Beginnen Sie stets mit dem, was Sie wirklich sagen wollen, denn das sagen wird Sie zur nächsten Zeile führen und der übernächsten und der überübernächsten. Umbauen können Sie im Nachhinein immer noch, wenn Sie unbedingt wollen."

    Hier spricht der Sprachhandwerker, der er vor allen Dingen ist. Hier spricht der Mann, der zum Geldverdienen bei einer Nachbarin einen Holzfußboden verlegt und dann das Hämmern beim Einschlagen der Nägel mit dem Rhythmus der Lyrik assoziiert. Dichter, erklärt er, sind meist schlechte Prosa-Schreiber aber oft die Verfasser von guten Briefen. Ein Gedicht zu schreiben, sei etwas ganz anderes als erzählende Prosa zu entwickeln. Spätestens dann fällt dem Leser ein, dass dieser Unterschied derzeit auch in dem Spielfilm "Howl" eine Rolle spielt, der den Prozess behandelt, der geführt wurde, um Allen Ginsbergs Gedicht gleichen Titels zu verbieten: Wenn man ein Gedicht, dass beispielsweise ein Staatsanwalt nicht versteht, in Prosa wirklich schlüssig erklären könnte, dann wäre es kein Gedicht ...

    Wenn Paul Chowder seine Arbeit am Text erklärt, dann hört sich das anders an – und meint genau das gleiche:

    "Für mich ist das Schreiben von Gedichten so wie die Komposition eines kleinen Salats. Das heißt, es kommt mir gar nicht vor wie Schreiben. Es ist nicht zu vergleichen mit einer Buchbesprechung oder einem Essay, wo alles hübsch der Reihe nach geht. Beim Gedicht dagegen ist man immer schon mittendrin: mal dort beim Schluss, dann hier am Anfang, mit allen Augen überall. Dabei blickt man stets auf ein und dasselbe Blatt.

    Möglicherweise schreiben Sie jedoch gar nicht auf Papier, möglicherweise gehen sie nach dem Abendessen und nach ein paar Bier wie A. E. Housman noch ein Stück spazieren und Schreiben im Kopf, zum Vierertakt ihrer Schritte: "Weiß liegt im Mond der lange Weg.

    Wenn das entstehende Gedicht lang ist, werden Sie natürlich doch noch Papier brauchen, aber lange Gedichte zählen nicht. Ich entdecke nur in den wenigsten tatsächlich Gutes; alle könnte man noch von den holzigen Teilen befreien, bis nur die saftig grünen Spargelspitzen übrig blieben." '"

    Die Ironie dabei ist – und das prägt den Charakter der Hauptfigur und verleiht dem Roman nahezu Satz für Satz einen spielerischen Vorbehalt gegen allzu ernsthaft klingenden Thesen -, dass Chowder letztlich beim Verseschmieden immer nur "Prosa in Zeitlupe", also freie Verse ohne Reim geschrieben hat, das er sich bei vollem Bewusstsein mit seiner Anthologie selbst widerspricht. Das ist ein bisschen schizophren. Und belastet ihn genauso wie die Tatsache, dass er seine Ex-Freundin Rosslyn unendlich schmerzlich vermisst, dass seine Gedanken, die ohnehin vom Hölzchen aufs Stöckchen treiben, immer auch zu Rosslyn zurückfinden, zu kleinen Erinnerungen, zu vorsichtigen Anläufen, sie zurückzugewinnen.

    Er verficht zum Beispiel sehr eindringlich, dass nicht der "jambische Pentameter" die Basis der angelsächsischen Lyrik ist, sondern der vierhebige Vers, der bis in die Balladen der populären Musik weiterwirkt. Er spekuliert darüber, wie sich das weitgehend weiße Blatt, auf dem in einer Zeitschrift ein Gedicht abgedruckt, die Wirkung dieses Gedicht hervorruft. Er entwirft, angelehnt an einen älteren Aufsatz von Derek Attridge eine Theorie der Pause am Ende des Verses, die beim Bestimmen des Versmaßes mitgedacht werden muss; er sprudelt geradezu über von Gelehrsamkeit. Aber selbst seine gewichtigsten Argumente für den Reim als zentralem lyrischem Element haben zwar anthropologischen Zuschnitt, entbehren aber nicht einer gewissen, recht individuellen Zuspitzung, die zurückverweist auf einen etwas isolierten Mann in einer ausgebauten Scheune.

    ""Gereimte Gedichte rufen uns somit in Erinnerung, dass wir sie immer schon im Kopf hatten. Lange bevor sie etwas Bestimmtes bedeuteten, hatten sie ein Form-, ein Formulierungsmuster. Zwar spucken "rauschen" und "plauschen" meilenweit voneinander entfernt in unseren Köpfen herum, weil sie auf ganz verschiedene Denkfelder verweisen, aber für unsere Zungen gehen sie gewissermaßen auf Zahnfühlung. So funktionieren Gedichte. Gedichte korrelieren Klänge, wie wir es im Vorsprachenalter getan haben, nämlich anhand des austauschbaren Anfangsphonems. Sie erinnern uns daran, dass die Art, wie wir Sprache ganz zu Begin gelernt haben, und zwar ganz von selbst, indem wir heraushörten, was gleich und was verschieden war, das dieses Vorgehen wichtig bleibt. Wir hören Gedichte und sie gefallen uns. Sie ziehen uns zurück an den Beginn der Sprache. Der Reim hat uns sprechen gelernt."

    Reimen sei die Vermeidung seelischer Qualen durch die selbst induzierte Sucht nach dem, was als Nächstes geschieht, erklärt er. Und setzt fort:

    ''"Man steckt die nächste Zeile an der Glut der vorigen an.""

    Reimen sei daher …

    " … die Genie-Version des Kreuzworträtsels – wenn es gelingt."

    Und W. H. Auden sei daher nicht zufällig ein zwanghafter Kreuzworträtsellöser, ein Reimer und Depressiver, ein Raucher und ein Trinker gewesen.

    Nicholson Bakers Roman ist ein unerschöpflicher Quell solcher Einsichten und Spekulationen und Verweise, die souverän zwischen den Jahrhunderten hin und her Verknüpfungen schaffen, jenseits aller Literaturgeschichte. Er steht allen Dichtern auf Augenhöhe gegenüber – und weil er dazu auch ein Quell zahlloser Zitate sein muss und will, stellt er enorme Anforderungen an die Übersetzung.

    Paul Chowder lässt sich natürlich auch selbst über dieses prinzipielle Problem aus – weil aber die Übersetzung dieses Romans über den Dichter Paul Chowder womöglich ein noch größeres Problem sein würde, hat der deutsche Stamm-Verlag von Nicholson Baker, der Rowohlt –Verlag, davon abgesehen, dieses Buch so wie seine früheren Werke übertragen zu lassen und ins Programm zu nehmen. Darüber ist schon ein bisschen in der Öffentlichkeit geredet worden. Erinnern darf man bei dieser Gelegenheit zudem daran, dass der Rowohlt-Verlag sich vor ein paar Jahren auch schon mit der Übersetzung von "Eckenknick" ziemlich viel Zeit gelassen hat.

    C. H. Beck war mutiger und hat mit Matthias Göritz und Uda Strätling gleich zwei Übersetzer an der Übertragung arbeiten lassen, die sich nicht zum ersten Mal gemeinsam an die Übertragung von Lyrik gewagt haben. Matthias Göritz hat Lyrik und Prosa veröffentlicht. Uda Strätling hat unter anderem Briefe von Emily Dickinson und Adam Haslett übersetzt. Und beiden wird man gerne zugestehen, dass sie den ein wenig derben, mal hemdsärmeligen, mal überschwänglichen Duktus des Originals gut getroffen haben, dass die deutsche Version gegenüber der amerikanischen nicht unnötig breit geraten ist, dass Lakonie und viele Pointen bewahrt worden sind. Die Anforderungen lassen sich ermessen, wenn man bedenkt, dass das Englische und Amerikanische viel mehr Reimworte anbieten als das Deutsche. Paul Chowder kann im Original also seine Thesen sehr viel souveräner belegen als das in der Übersetzung möglich ist. Trotzdem bleibt Bakers lyrisches Feuerwerk weitgehend erhalten, und nur selten beschleichen einen Zweifel, ob der Ton des Originals adäquat getroffen worden ist. Und es geht dabei nicht unbedingt um die Übertragungen von Versen.

    Wenn es im Original etwa heißt: "Tthis spume of poetry that's blowing out of the sulphurous flue-holes of the earth. Just masses of poetry", dann machen Matthias Göritz und Uda Strätling daraus überraschenderweise "die Exhalationen der Poesie aus den schwefligen Fumarolen überall auf der Erde. Schwaden von Poesie (...)". Das wirkt zumindest maniriert und sprengt eigentlich den Rahmen eines Textes, der ansonsten explizit auf alle Gestelztheit verzichtet. So ein Satz bricht die Geschlossenheit der Übersetzung sogar für den, der gar nicht in die amerikanische Fassung hineinschaut. Es ginge vielleicht einfacher, indem nur von " Schwaden von Poesie" oder von "schwefligen Löchern/Kratern" gesprochen werden würde. Denn Paul Chowder braucht keine "Exhalationen", und "Fumarolen" wohl genauso wenig.

    Ist das kleinlich? – vermutlich ja. Es soll auch nicht überbewertet werden. Aber es gibt eben ein paar solcher Stellen, wo das Umsetzen eines laxen Amerikanisch in ein nicht minder laxes Deutsch kleine inhaltliche Kollateralschäden hervorruft: beispielsweise auch als Chowder im Internet Musik und Software einkauft – Sinead O'Connor bei Youtube beispielsweise -- und dabei viel Geld ausgibt für Dinge, die zwar auch mit seinem Thema zusammenhängen, aber seine Einleitung nicht voranbringen. Das kommentiert er selbst mit "(...) So I was moving forward, in a sense." Die deutsche Fassung macht daraus: "Es ging durchaus alles zügig." Das klingt aber eher so, als ginge es nur um den Zeitfaktor und nicht gleichzeitig auch darum, dass Chowder sich ständig selber ablenkt. Und dass er das auch genau weiß. Hier wäre ein Formulierung, die dieser Skepsis sich selbst gegenüber Rechnung trägt, wohl eher am Platz, vielleicht im Stil von: "Es ging also durchaus voran ..."

    Noch einmal: Das ist marginal gemessen an dem Verdienst, diesen Roman umgehend übertragen zu haben. Ihn zu lesen ist ein großes Vergnügen, denn man wird belehrt, ohne es zu merken – und man darf sich dazu versteigen und sagen: Es gelingt Nicholson Baker in diesem Buch, nahezu alles, was er über Lyrik selber zu sagen hat, in Handlung umzusetzen. Also aus Theorie Erzählung zu machen. So ähnlich hat er im Fall von "Menschenrauch" aus einer Fülle von historischen Belegen zum Verlauf des Zweiten Weltkriegs einen wild gemischten Chor von Stimmen gemacht, wie ihn kein Historiker akzeptieren würde - dessen Argumentation man sich aber dennoch nur schwer entziehen kann. In "Der Anthologist" spielt er hemmungslos sogar noch mit der Tatsache, dass Dichter sich selber und ihr Werk am liebsten nicht erklären möchten ... beispielsweise wenn Paul Chowder eine Begegnung mit einem berühmten Vorgänger in Marseille in einem Waschsalon fantasiert:

    ""Ich stehe also in diesem Waschsalon, belade eine Maschine, sehe hoch, und da fällt mir ein Typ auf, ein eher schmächtiger Typ.

    Ich sage: Ed Poe? Und er: Mhm. Dann mustert er mich. Und sagt: Paul? Paul Chowder? Und ich sage: Ja! Ed, wie geht's? Lange her. Er nickt. Ich sage: Wie ich sehe, legst Du Unterhosen zusammen.
    Er sagt: Ja, so ist es. War mal wieder fällig. Und Du?

    Ich sage, dass auch ich Wäsche zu waschen hätte. Und wenn man Wäsche waschen müsste, gebe es wahrscheinlich kaum einen besseren Ort als diesen. Marseille, Frankreich. Oder "Frons" wie wir sagen.

    Ich sage also: Darf man fragen, wie es mit dem Versgeschäft so läuft?

    Er sagt: Nicht schlecht, nicht schlecht. Ich habe ein Gedicht geschrieben, und es hat mir sogar etwas Geld eingebracht, wurde in der Zeitung abgedruckt.

    Ich sage: Großartig. Wie heißt es denn?

    Und er sagt: "Der Rabe".

    Ich sage: Mann, Ed. "Der Rabe"! Klasse Titel. Wovon handelt es?
    Da sagt er: Es geht um einen Mann, der Besuch von einem Raben bekommt.

    Worauf ich sage: Das klingt aber vielversprechend. Wofür steht der Rabe? Tod, Schicksal, das Grauen, Lauschangriffe der Regierung – so in der Art? Da sieht er mich einfach nur an. Er denkt gar nicht daran, mir sein Gedicht zu erklären. Das kann ich verstehen. Also sage ich: Na dann. Pass auf Dich auf. Ich schnappe mir meinen Wäschesack. Ich sage: War schön Dich zu sehen. Bleib munter. Und er sagt: Du auch, hat mich gefreut. Wir winken uns zu. Alles Gute. Wiedersehen. Hüte Dich vor pendelnden Halbmondklingen.

    Wie das ausgeht? Das wird nicht verraten.
    Paul Chowder hat viel zu gewinnen und nur wenig zu verlieren. Er wird in die Schweiz reisen, um an einem Symposium teilzunehmen und zu weinen beginnen, als er den Zuhörern von einem Podium herab seine Poetologie erläutert. Im Flugzeug auf dem Rückweg wird er in einem kreativen Schub sondergleichen nicht weniger als 23 Gedichte schreiben. Er wird auch die überfällige Einleitung für die Anthologie abgeben, aber der Lektor wird sofort für Kürzungen plädieren. Für einen Mann, der in einer Scheune sitzt und sich schon freut, wenn eine vorübergehende Nachbarin nur mal zurückwinkt, wird ihm vieles zustoßen. Der Sommer wird vorübergehen, es wird Herbst werden – und alles, wirklich alles wird für ihn klingen wie ein Gedicht.