Mittwoch, 24. April 2024

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Experimentelle Oper
Robert Wilson rekonstruiert Einstein

"Einstein on the Beach" ist anstrengend, nicht zuletzt aufgrund seiner fünfstündigen Spieldauer. Die Aufführung ist heute noch genau so gewagt wie 1976, setzt sie doch eine hohe Aufmerksamkeitsspanne voraus. Doch Robert Wilson gelingt derzeit in Berlin ein verzauberndes Revival.

Von Mascha Drost | 04.03.2014
    Es ist ein Abend über Zeit - über scheinbares Stillstehen, Nicht-Vergehen-Wollen, über Zeit, die gedehnt wird und die natürlich keinen Anfang hat. Einstein on the Beach beginnt nicht, es ist einfach da: kaum wahrnehmbar, aber doch. Leise, tief-dumpfe, kaum wahrzunehmende Synthesizerklänge, am äußersten Bühnenrand zwei Personen, die leise vor sich hin murmeln, den Blick auf das eintrudelnde Publikum gerichtet. Dann der Schock: aus dem leisen Nichts des Synthesizer-Raunens plötzlich Harmonien.
    Und dann beginnt dieses musikalisch-szenisch-tänzerische Gesamtkunstwerk - zu immer gleichen Klängen und Rhythmen vollführen Tänzer die immer gleichen Bewegungen; durchschreiten auf einer Diagonale den Raum, oder stehen mit dem Rücken zum Saal, Arme und Beine folgen einer elegant-zackigen Choreografie, ein bewegtes Bild des Stillstands. Wie in Zeitlupe schiebt sich eine Dampflok auf die Bühne, dieses absurd-kindisch-naive Bild nimmt den Blick für die nächsten Minuten gefangen und gleichzeitig erfährt man die relative Wahrnehmung von Zeit im Raum - während die einen wie hypnotisiert dem Bühnengeschehen - oder Nichtgeschehen folgen, fangen andere an, nervös auf dem Sessel zu rutschen und unauffällig auf die Uhr zu schauen.
    Noch fesselt eine Geigerin im Einsteinkostüm die Aufmerksamkeit - aber als gegen Ende einer Szene die Darsteller auf der Bühne beginnen, hochartifiziell und in fast schon sadistisch-aufreizender Langsamkeit Speisen und Getränke zu sich zu nehmen, hält es einige Zuschauer nicht mehr im Saal.
    Pech für sie - denn es schließt sich eine grandiose Tanzszene an - Figuren, Sprünge und Pirouetten aus dem klassischen Ballett, in endlosen Variationen, eine Choreografie, die sich subtil an die winzigsten musikalischen Veränderungen anschmiegt, jedem Pattern eine andere Tanzfigur zuordnet. Eine unnahbare, kalte Szenerie, weiß gekleidete Tänzer im leeren, hell erleuchteten Raum - und trotzdem wirkt die plötzliche Energie wie ein Aufputschmittel, weckt die Sinne und macht sie wieder aufnahmebereit für die folgende poetisch-nächtliche Episode. Die Dampflok von vorhin - oder von vor zwei Stunden, man weiß es nicht genau - diesmal von hinten, zwei Sänger und zum ersten Mal die Illusion von Oper.
    Stück hat von seiner Modernität und Radikalität nichts eingebüßt
    Man könnte in Trance geraten - wenn man nicht immer wieder aufstehen müsste, um ungeduldige, hungrige, genervte Mitmenschen hindurchzulassen. Ein kurzer Blick nach außen - und siehe da: Von der kontemplativ-vergeistigten Stimmung nichts zu spüren, da werden vergnügt und in munterer Unterhaltung Bier, Wein und Häppchen konsumiert, der eine oder andere kramt nach der Garderobenmarke aber die meisten zieht es nach einer kleinen Flucht in die Wirklichkeit wieder in die fantastische Welt von Wilson und Glass.
    Eine Welt, die vor fast 40 Jahren erschaffen wurde, von ihrer Modernität und Radikalität nichts eingebüßt und, vergleicht man alte Aufnahmen mit der heutigen Produktion, an Schärfe und künstlerischer Perfektion sogar noch gewonnen hat. Die Akkuratesse der Tänzer, die musikalischen Gedächtnisleistungen der Sänger sind einzigartig, genauso wie die unerschöpfliche Fantasie des Robert Wilson. Und auch wenn es ketzerisch klingen mag - Minimalismus ist eher etwas für die Augen, weniger für die Ohren - jedenfalls auf eine Strecke von fast 5 Stunden.
    Ermüdungserscheinungen wurden nicht vom Seh- sondern vom Hörnerv gemeldet, der sich einer Stimulierung nicht einfach kurzzeitig verschließen kann und nach etwas anderem giert als Tonleitern, gebrochenen Dreiklängen und einfachen Kadenzen. Einstein on the Beach ist in dieser Hinsicht ein fast schon prophetisches Werk - denn Robert Wilson inszeniert, verzaubert und fasziniert weltweit, während Philipp Glass der musikalischen Bedeutungslosigkeit anheimgefallen ist. Sollte man sich diesen Kunstmarathon denn nun antun? Unbedingt - allein schon, um die eigene, digital degenerierte Aufmerksamkeitsspanne wiederzubeleben.