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Experimentierfreudig und provozierend

Bilderbücher sind für Kinder und erzählen fröhliche Geschichten? Nicht unbedingt. Immer mehr Illustratoren und Autoren greifen Themen wie Missbrauch, Krieg und Selbstmord auf und lassen Comic- und Graphic Novel-Stile in ihre Bilder einfließen.

Von Sylvia Schwab | 27.07.2013
    Was ist ein Bilderbuch? Eigentlich ganz einfach: ein Buch mit vielen Bildern und wenig Text.
    Und was ist ein gutes Bilderbuch?

    "Ein gutes Bilderbuch muss vor allem Kinder erreichen, und da muss man sich Gedanken machen, wie es die erreicht…"

    "In erster Linie ist es wichtig, dass das Kind - egal welchen Alters - berührt wird von dem Buch. Sei es vom Thema oder der Ästhetik, das heißt, ein gutes Bilderbuch - in Anführungsstrichen - sollte eine kindliche Perspektive einnehmen."

    Bilderbücher sind Kinderbücher, Bücher für die ganz Kleinen, die noch nicht lesen können. Bücher mit wenig oder gar keinem Text und dafür umso sprechenderen Bildern. Marcus Weber, Bilderbuch-Verleger in Frankfurt, und Prof. Jens Thiele, emeritierter Leiter der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur an der Universität Oldenburg, sind da ganz einig. Gute Bilderbücher berühren ihre kleinen Betrachter, bieten ihnen eine Identifikationsfigur an und erzählen eine geschlossene kleine Geschichte - zu der unbedingt ein Happy End gehört. In den Augen von Dr. Pauline Liesen vom Bilderbuchmuseum in Troisdorf ist ein gutes Bilderbuch außerdem…

    "...ein Buch, das Bilder und Text verbindet. Für mich spielt der Text im Bilderbuch auch eine Rolle. Dass der Text Luft lässt für die eigene Fantasie, die Kreativität, das Gedankenspiel. Dass das Bild dazu diesen Text zum Teil widerspiegelt, aufnimmt, aber darüber hinaus eigene Facetten eröffnet, sodass sich Bild und Text ergänzen und stärken, aber jeder darüber hinaus noch mal Freiräume schafft."

    Man könnte meinen, es sei relativ unstrittig, wie ein gutes Bilderbuch aussehen könnte. Und: als sei die aktuelle Bilderbuchlandschaft einigermaßen übersichtlich und einheitlich. Doch das Gegenteil ist der Fall! Schaut man sich in der Bilderbuchecke einer gut sortierten Buchhandlung um, findet man dort vollkommen unterschiedliche Formate, Adressaten, Geschichten und Gestaltungsarten. Neben Nadja Buddes witzigen Tierbüchern stehen die fantastischen Zeichnungen eines Einar Turkowski. Neben Sabine Willharms verrückten Buchstabenspielen die großartigen Gemälde eines Ted Kooser. Neben Tomi Ungerers unheimlichen Geschichten die computeranimierten Szenen eines Peter Schössow. Im gleichen Regal stehen aber auch Roberto Innocentis verstörendes Bilderbuch "Das Mädchen in Rot" oder Henning Wagenbreths schrille Illustrationen zu Stevensons Ballade "Der Pirat und der Apotheker".

    Frech ist Robin, radikal,
    dreist, wie des Teufels General.
    Ben raubt nicht, nein, klaut lieber leise,
    ist gemein auf feine Weise.


    Keine Frage: Viele dieser Bilderbücher sind eindeutig nicht - oder nur am Rande - für Kinder. Und schon gar nicht für die ganz Kleinen! Das Bilderbuch ist zwar schon seit den Siebziger-/Achtzigerjahren nicht mehr nur farbig, fröhlich, nett und naiv. Seit Maurice Sendaks "Wo die wilden Kerle wohnen", das 1967 in Deutschland erschien, hat es eine kontinuierliche Wendung zum Widerborstigen und auch psychologisch Komplexen genommen.

    An dem Abend, an dem Max seinen Wolfspelz trug und nur Unfug im Kopf hatte, schalt seine Mutter ihn "Wilder Kerl!" - "Ich fress dich auf", sagte Max, und da musste er ohne Essen ins Bett.

    Doch so vielseitig wie heute war das Bilderbuch noch nie! So experimentierfreudig, faszinierend, herausfordernd, manchmal auch provozierend - wie kein anderes literarisches Genre!

    " Das ist was Neues. Das ist nach meiner Meinung durch die Postmoderne – hat sich durch die Postmoderne entwickelt. Die Entgrenzung aller Gattungen, aller visuellen Gattungen und Künste. Da ist das Bilderbuch in das Fahrwasser dieser Entwicklung geraten und hat sich geöffnet zum Comic hin, zum Film hin, zum Theater hin. Und damit sind neue Adressatengruppen ins Blickfeld gekommen und damit sind natürlich auch Probleme entstanden für dieses Medium, das sich eigentlich bisher an eine jüngere Kindergruppe gerichtet hat."

    Jens Thiele ist Bilderbuch-Spezialist im doppelten Sinn. Als Professor an der Universität Oldenburg hat er über Jahrzehnte die Entwicklung des internationalen Bilderbuchs beobachtet und kritisch begleitet. Zugleich ist er selbst Bilderbuch-Macher. Seine Bücher sind hervorragende Beispiele für ein neues Verständnis von dem, was ein Bilderbuch heute sein kann: Sein "Jo im roten Kleid", 2004 im Peter-Hammer-Verlag erschienen - ist so etwas wie ein Dialog zwischen einem großen und einem kleinen Jungen. Der ältere erzählt, was er machen würde, wenn er heute ein Junge wäre:

    Ja, ich würde mir das schönste Kleid meiner Mutter anziehen, das rote mit dem tiefen Ausschnitt.

    Mann, du machst mir Spaß! Und was würdest du dann machen, wenn du das rote Kleid deiner Mutter angezogen hättest?

    Ich würde mich vor den Spiegel stellen und mich bewundern. Na ja, vielleicht mit dir einen kleinen Boxkampf veranstalten…


    "Jo im roten Kleid" ist die Geschichte eines Coming-out. Behutsam kommt sie daher, die mögliche Homosexualität des jungen Mannes wird nicht direkt benannt, sie erscheint nur im Bild des roten Kleides und steht für viele Formen des Außenseitertums. Jens Thiele hat Jo mit Scherenschnitten und Collagen in eine Welt gesetzt, die ihn wütend verfolgt, ihm aber auch mit liebevoller Bewunderung begegnet. Am Ende kann Jo sich zu seinen Neigungen bekennen.

    "Ich selber habe mich auf die Collage eingelassen, etwa in meinem ersten Bilderbuch "Jo im roten Kleid". Nicht weil ich die Collage an sich so interessant finde, ich glaube, mir ist es so gegangen wie einer ganzen Reihe von gegenwärtigen Illustratoren: Ich habe für das Thema, in diesem Fall die Identitätssuche eines jugendlichen Helden, nach der adäquaten ästhetischen Form gesucht. Und die Collage mit ihren Schnitten und Rissen, mit ihren Brüchen und ihren nicht kompatiblen Teilen erschien mir für diesen Konflikt, in dem sich der Held befindet, dieser Identitätskonflikt, die Suche nach sich selbst, eigentlich die geeignetste Form. Ich wollte zeigen, schon äußerlich, dass er eine gebrochene Person ist, eine Person, die noch nicht fertig ist."

    Und wenn dich einer dabei erwischen würde? - Keine Sorge, ich würde warten, bis alle aus dem Haus sind. Dann würde ich Prinzessin spielen oder Filmstar. Ja, ich würde mir einen Film ausdenken, in dem ich die Hauptrolle spiele. Mein Name wäre Jo. Und ich wäre sehr schön.

    Eines ist allerdings klar: Ein Bilderbuch im traditionellen Sinn ist dies nicht. Auch wenn "Jo im roten Kleid" vom Verlag für Kinder ab 6 empfohlen ist, darf man doch daran zweifeln, dass Sechsjährige die Geschichte - zumindest in ihrer ganzen hintergründigen Dramatik - verstehen. Und damit kommt man zu einem zentralen Punkt des neuen Bilderbuchs: Es wendet sich nicht - oder nicht nur - an die ganz Kleinen, sondern auch an die größeren Kinder, an Jugendliche und oft auch an Erwachsene. Pauline Liesen:

    "Es gibt auch viele Bilderbücher, die schon so viel Hintergrundwissen erwarten, dass, wenn man sich nicht genau damit beschäftigt oder im thematischen Zusammenhang drin steckt - dass man lange überlegen und gucken muss, bis man das Konzept beziehungsweise den Inhalt einer Geschichte versteht. Ich weiß nur, dass ich mich intensiv mit Stella Dreis’ Märchenwimmelbilderbuch beschäftigt habe und auch wirklich von Seite zu Seite geschlagen habe. Die Bilder waren überzeugend und überraschend, neu, anders, aber trotzdem habe ich lange überlegt, was will sie mir damit sagen?"

    Pünktlich zum 200-jährigen Grimm-Jubiläum erschien im vergangenen Herbst Stella Dreis’ Bilderbuch "Grimms Märchenreise". Kein Wimmelbilderbuch im üblichen Sinn, in dem Kinder Dinge und Figuren suchen und benennen lernen. Stella Dreis entwickelt malerisch ein kompliziertes Geflecht aus den Motiven von sieben Märchen der Brüder Grimm und entfaltet diese auf zauberhafte, ja opulente Weise. Aber - sie gibt dem Betrachter keinen Hinweis, keinen roten Faden, keinen Text mit. Er irrt - beglückt oder auch verwirrt - durch ein kunstvolles Labyrinth.

    "Also, ich war ja so naiv und hab auf der ersten Doppelseite gedacht, welches Märchen handelt sie denn hier ab? Aber so ist es nicht! Sondern alle Märchen beginnen gleichzeitig, setzen sich über die folgenden Seiten dann auch fort und enden dann auch gleichzeitig. Wobei sie nicht nur ein Motiv eines Märchens auf einer Doppelseite zeigt, sondern mitunter auch mehrere Motive eines Märchens auf einer Doppelseite."

    Man muss, um sich zurechtzufinden, alle sieben Märchen zuerst einmal in den Bildern erkennen und dann unbedingt nachlesen. Stella Dreis stellt damit die traditionelle Märchenillustration auf den Kopf: Ihre Bilder wiederholen oder ergänzen die Handlung nicht, sie selbst erzählen die Geschichten. Ganz allein - der Text ist nurmehr Beiwerk.

    "Man muss ja von den Illustratoren ausgehen. Und die sitzen in ihrer Kammer und zeichnen und machen und suchen nach Ideen. Dann fallen ihnen Dinge ein - da sie ja auch nicht immer ans Kind denken wollen, das kann man ja auch verstehen - und wenn sie dann auch noch Verlage haben, die das zulassen und sich begeistern für ihre Art der Illustration, das braucht es ja, dann haben diese Bücher ihre Berechtigung, ganz klar. Sie sind sicherlich, wenn es engagierte Eltern gibt, auf die sich diese Begeisterung überträgt, können die diese Begeisterung auch wieder auf Kinder übertragen. Dann sitzt man da und schaut in diese winzigen Bilder…. Und sucht und guckt und es kann wunderschön sein, aber es braucht eben auch diese Vermittler."

    Markus Weber, Verleger des Moritz-Verlages in Frankfurt, bringt es auf den Punkt: Das "neue Bilderbuch", wie wir es einmal nennen wollen, hat sich ein großes Terrain neuer Möglichkeiten erobert. Es packt komplexe Themen an und experimentiert mit ungewöhnlichen Gestaltungsmitteln. Aber es ist gerade darum häufig auch nicht mehr das, was man "kindgerecht" nennt. Auf der anderen Seite: Stellt man die Frage danach, was "kindgerecht" überhaupt ist, muss man feststellen, dass auch die Bilderbücher von früher nicht alle "kindgerecht" waren.

    Weh! Jetzt geht es klipp und klapp
    Mit der Scher die Daumen ab,
    Mit der großen scharfen Scher!
    Hei! Da schreit der Konrad sehr.


    "Wenn man da an die Märchen-Bilderbücher aus dem 19. Jahrhundert denkt oder an den "Struwwelpeter", da finde ich das auch nicht nett. Und ich finde es auch nicht niedlich und nicht schön und die geben mir auch keine positive Lösung aus der Situation. Wenn ich als Daumenlutscher die Daumen abgeschnitten bekomme und diese Strafe bleibt mit diesem Ende auch so stehen, da muss ich sagen, da leuchtet mein Auge auch nicht! Warum darf das nicht auch ins 20./21. Jahrhundert transportiert werden?"

    In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Bilderbuch fast alle Tabu-Themen erobert, die früher für es galten: Angst und Schrecken, häusliche Gewalt und Scheidung, Tod und Trauer, den Krieg und auch den Holocaust. 1986 erschien in Deutschland zum Beispiel Roberto Innocentis großartiges Buch "Rosa Weiss" über ein Mädchen, das Menschen im KZ hilft und selbst erschossen wird. Es löste eine rege Diskussion darüber aus, ob eine fiktive Geschichte über die Shoah im Bilderbuch erlaubt sei und wie man Kindern davon erzählen kann. Damals war das Buch ab fünf Jahren empfohlen.

    In den Holzhäusern hinter dem Stacheldraht waren immer mehr Kinder. Sie sahen eingefallen und hungrig aus. Viele von ihnen trugen einen hellen gelben Stern auf den Kleidern.

    " Aber daran, an dieser Diskussion, hat sich gezeigt, dass es möglich ist, Kindern etwas von der Vergangenheit zu erzählen. Von einer Vergangenheit, in der anderen Kindern Leid angetan wurde. Aber es muss eben bei diesen Themen, diesen schwierigen politischen Themen, eine symbolische Form gefunden werden. Ich kann nicht einen Abbildrealismus anwenden, ich kann nicht direkt schreiben, was passiert ist, ich benötige sozusagen, wie im Märchen, eine symbolische Form im Bild wie im Text. Dass das Kind die innere Botschaft, die eigentliche Botschaft versteht. Und nicht überfordert wird mit den Fakten und dem Realismus, der damit verbunden ist."

    Selbst frühere No-Go-Themen wie Missbrauch oder Selbstmord können angedeutet werden - die Frage ist nur wie. Oder der Krieg, der Kindern von heute in den Medien wahrscheinlich viel häufiger begegnet und sie möglicherweise mehr beschäftigt als die Generation ihrer Eltern. "Ein roter Schuh" von Karin Gruß und Tobias Kreitschi aus dem Boje-Verlag, empfohlen für Kinder ab 6, erzählt vom Krieg im Gazastreifen - stellvertretend für alle Kriege. Ein Kriegsreporter fotografiert einen schwer verletzten Jungen auf einer Bahre.

    Auf dem Display sah man den roten Schuh ganz deutlich im Vordergrund. Wo war der andere geblieben?

    "Man kann sich natürlich gut vorstellen, was ist passiert, was ist geschehen…und er kriegt davon Albträume, wird sich bewusst, wie schrecklich die Situation ist und im Krankenhaus wird er so verstört, dass er ein Fantasiebild hat, wie dieser Junge plötzlich aufsteht, mit gesunden Füßen seinen Ball in die Hand nimmt und zum Sport geht."

    Vom pädagogischen Impetus hat sich das Bilderbuch seit den Siebziger-/Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts weitgehend befreit. Wo man ihn doch noch spürt, ist man als erwachsener Leser verstimmt. Dafür hat in den vergangenen zwanzig Jahren ein hoher künstlerischer Anspruch Einzug gehalten. Es wird nicht mehr nur gemalt oder aquarelliert, gedruckt oder gezeichnet. Das Bilderbuch integriert die Strukturen von Comic und Graphic Novel, arbeitet mit Mitteln des Films und der Fotografie. Es entwickelt - wie Peter Schössow - Szenen nur noch am Computer oder überschreitet - wie Sabine Willharm - die Grenzen zwischen Wort und Bild. Ein neues Selbstbewusstsein ist spürbar: Aus Illustratoren wurden Bilderbuchkünstler. Häufig gestalten sie beides, Bild und Text, wie ein Gesamtkunstwerk. Interessant ist übrigens, dass es überwiegend männliche Künstler sind, die sich auf das neue Terrain wagen.

    Der Chinese Chen zum Beispiel, der heute in Paris lebt. Ein "Meister seines Fachs" - wie Markus Weber vom Moritz-Verlag meint:

    "… weil er etwas schafft, was wenige schaffen: Es gelingt ihm, Geschichten zu erzählen, die tief berühren, und die wahnsinnig emotional sind. Die die Möglichkeit geben, sich mit jemandem zu identifizieren, und das Ganze aus einer fremden Kultur stammend, aber oftmals doch mit Elementen versehen, die wir gut kennen. Das sind große Geschichten, die er uns erzählt."

    Tief im Urwald klagt voll Kummer eine Tigermutter um ihre Kinder. Jäger waren gekommen und hatten sie getötet. Sie konnte nichts dagegen tun. Seitdem streicht sie ständig um die Dörfer, das Herz schwer von Hass und Verzweiflung.
    Und eines Abends greift sie an.
    Sie zerstört Hütten, reißt Menschen und Tiere.
    Die Nacht ist erfüllt vom Wehgeschrei der Menschen.


    "Oder der "Tigerprinz", der einen wirklich vom Sockel haut, wenn man bis zur letzten Seite kommt. Weil die ersten zwei Seiten sind schon so deprimierend, dass man meint, das kann man doch niemandem zumuten, so ein Bilderbuch. Da ist ja Horror! Eine Tigerin überfällt die Dörfer, die Menschen fliehen, wie soll denn das noch gut ausgehen? Es geht aber gut aus! Es geht sogar sehr gut aus."

    Und erst die Bilder zu dieser archaischen Geschichte! Sie sind so gewaltig im Ausdruck, so mächtig in den Farben, so bedrohlich auch, dass sich unwillkürlich die Frage stellt, ob dies ein Buch für Kinder ist. Doch je länger man liest und blättert, desto deutlicher spürt man auch die Wärme, die Behutsamkeit und die Innigkeit, die Chen in Text und Bilder legt. Er erzählt die alte Geschichte von dem Kind, das von wilden Tieren aufgezogen wird. Sie ist so beängstigend und dramatisch, so märchenhaft und zart zugleich wie auch andere Bilderbücher des Künstlers: "Han Gan und das Wunderpferd" zum Beispiel oder "An Großvaters Hand".

    Nicht nur aus China kommen hervorragende Bilderbücher, auch aus Polen oder den USA. Wobei auch eine Tendenz zu beobachten ist, die den traditionellen Begriff "Bilder-Buch" wortwörtlich nimmt und Bücher ganz ohne oder fast ohne Text präsentiert. Chris van Allsburgs rätselhaftes "Die Geheimnisse des Harris Burdick" ist so ein Buch, eine willkürlich wirkende Sammlung von Bleistiftzeichnungen, die in der Manier alter Fotos perfekt eine fantastische Welt erschaffen. Pro Doppelseite gibt es ein Bild, eine romantische Überschrift und einen magischen Untertitel:

    AN EINEM ANDEREN ORT; ZU EINER ANDEREN ZEIT
    Falls es eine Antwort gab, würde er sie dort finden.


    Oder Einar Turkowskis ebenfalls gezeichnetes Bilderbuch "Als die Häuser heimwärts schwebten". Auch Turkowski erzählt keine fortlaufende Geschichte, sondern zeichnet gegensätzliche Begriffspaare.

    "Traum und Wirklichkeit". "Lärm und Stille".

    Das Prinzip klingt kompliziert, erschließt sich beim Betrachten aber sofort. Wobei alle Bilder irritierend sind, viele voller Witz und manche auch sehr eindrucksvoll. "Wurzel und Spross" zeigt zum Beispiel einzelne Häuser oder Häusergruppen. Die steigen - wie Luftballons an langen Schnüren gehalten - schwerelos in den Himmel, ziehen luftig-leicht in die Wolken.
    Wer ist hier Wurzel, wer Spross? Turkowskis feinst schraffierte Schwarz-Weiß-Bilder sind ganz präzise und realistisch im Detail, aber absurd oder auch grotesk im großen Bildzusammenhang. Sie irritieren und unterhalten zugleich. Jens Thiele:
    "Durch die Internationalisierung des Bilderbuchs jetzt kommen ja Illustratoren auf den deutschen Markt, die vorher gar nicht da waren und die auch eben das Düstere, Fremde hereinbringen. Aber das sind eigentlich Adoleszenz-Themen. Das muss man einfach sehen! Kein fünfjähriges Kind sucht das Düstere, das Verrätselte oder Verunsichernde."

    Jede Nacht beobachte ich die Heckenschützen, die man hier Traumkiller nennt. Träume sind verboten, man muss sie verbergen. Manche Katzen tragen sie unter der Zunge, stets bereit, sie zu verschlucken.

    Carl Norac und Stéphane Poulin haben mit "Im Land der verlorenen Erinnerung" - 2011 bei Jacoby & Stuart erschienen - ein Bilder-Buch geschaffen, das eine albtraumartige Geschichte in ebenso beängstigende Bilder umsetzt. Eine Geschichte über Terror und Diktatur, Einsamkeit und den Glauben an eine bessere Welt. Zwar wendet sich das Buch an größere Jugendliche oder Erwachsene, nimmt aber doch Traditionen der Kinderliteratur auf: Tiere stehen im Mittelpunkt des Geschehens, außerdem erinnert die Gestaltung vieler Seiten, so düster und geheimnisvoll die Bilder auch sind, an das Layout von Comics.

    Es gibt aber auch Katzen und Kater, die ihre Träume singen oder zeichnen. Sie sind so kühn, ihre Träume zu wirklichem Leben erwecken zu wollen…

    Mit dem Überschreiten aller Themen-, Gestaltungs- und Genregrenzen und mit der Öffnung für alle Generationen bietet das Bilderbuch heute seinen Machern einen riesigen Spielraum. Für seine Leser und Betrachter kann es damit zur spannenden Herausforderung werden.
    Für den Buchhandel ist das allerdings auch ein Problem:

    "Ich denke, der Buchmarkt hat es versäumt, darauf differenziert zu reagieren. Wenn man den Kunden in den Buchläden vermitteln würde, was sich getan hat, wie sich der Markt geöffnet hat, welche Chancen das auch beinhaltet für verschiedene Altersgruppen, dann wären wir auch einen Schritt weiter. Vielleicht ist es auch notwendig, einen neuen Begriff zu finden, der die Erwachsenen-Bilderbücher anders benennt."

    Denn: Besucher in einer Buchhandlung reiben sich mit Sicherheit erstaunt die Augen, wenn sie Roberto Innocentis KZ-Geschichte "Rosa Weiss" neben Janoschs zarten Aquarellen stehen sehen. Oder das schaurig-düstere "Im Land der verlorenen Erinnerung" neben den farbenfrohen Klassikern von Eric Carle. Ein neues Genre braucht einen neuen Namen - und damit auch einen eigenen Stand-Ort im Regalsystem der Buchhandlungen: "E-Bilderbuch" bietet sich an in Anlehnung an das "E-Buch" - das Erwachsenen-Buch - und das E-Book. Oder eben: "Das neue Bilderbuch".

    Denn eines ist klar: Bilderbücher - die ja naturgemäß deutlich teurer sind in der Herstellung als jeder Roman, die aber auch bei bester Ausstattung meist nicht mehr als fünfzehn Euro kosten - Bilderbücher müssen in Buchhandlungen eindeutig eingeordnet und mit bester Beratung verkauft werden. Sonst erreichen sie die, für die sie gemacht wurden, nicht. Die Kinder nicht, und die Erwachsenen auch nicht. Und - um Bruno Bettelheims Diktum umzuformulieren - "Kinder brauchen Bilderbücher". Bilderbücher sind der Einstieg ins Lesen. Wenn sie gut sind, fordern, fördern und berühren sie. Und sie können mitwachsen, wie viele neue Bilderbücher zeigen. Bis ins Erwachsenenalter.

    Jedes Jahr besuchte Wen von nun an die Tigerin, die ihn stets ungeduldig vor der Höhle erwartete. Eines Tages brachte er einen kleinen Jungen mit. "Dies ist mein Erstgeborener. Bitte behalt ihn bei dir, bis er alles gelernt hat, was ein Tiger können und wissen muss. Dann wird aus ihm, dessen bin ich mir sicher, ein guter König."


    Besprochene Bücher:

    1. Chen Jianghong: Der Tigerprinz
    (Moritz Verlag)
    2. Stella Dreis: Grimms Märchenreise
    (Thienemann Verlag)
    3. Aaron Frisch/Roberto Innocenti: Das Mädchen in Rot
    (Gerstenberg Verlag)
    4. Karin Gruß/Tobias Krejtschi: Ein roter Schuh
    (Boje Verlag)
    5. Heinrich Hoffmann: Der Struwwelpeter
    (Schwager & Steinlein)
    6. Roberto Innocenti: Rosa Weiss
    (Alibaba Verlag)
    7. Roberto Innocenti: Rosa Weiss
    (Alibaba Verlag)
    8. Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen
    (Diogenes)
    9. R.L. Stevenson/Henning Wagenbreth: Der Pirat und der Apotheker
    (Peter Hammer Verlag)
    10. Jens Thiele: Jo im roten Kleid
    (Peter Hammer Verlag)
    11. Einar Turkowski: Als die Häuser heimwärts schwebten
    (mixtvision)
    12. Chris van Allsburg: Die Geheimnisse des Harris Burdick
    (Carlsen Verlag)