Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Experte: WM schiebt Regierung von den Titelseiten

Dass die Regierung unmittelbar vor der WM ein hartes Sparpaket präsentiert, hält der Kommunikationswissenschaftler Reimar Zeh für Zufall und nicht Kalkül. Die Koalition sei im Moment zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um derart strategisch auf ihre Politikdarstellung zu achten.

Reimar Zeh im Gespräch mit Stefan Heinlein | 19.06.2010
    Stefan Heinlein: 0:1 gegen Serbien – nach der Euphorie die Ernüchterung! Die deutsche Elf muss nach der schmerzlichen Niederlage nun wieder um den Einzug in das WM-Achtelfinale bangen. Dabei hatte alles so gut angefangen: Der spielerisch überzeugende Auftritt gegen Australien machte Hoffnungen auf eine Fortsetzung des Sommermärchens vor vier Jahren. Das ganze Land schwebte damals auf einer Welle der Euphorie, Aufschwung und Optimismus, ein neues positives Nationalgefühl, fröhlich und sympathisch. Auch die Politik hofft insgeheim auf Rückenwind aus Südafrika, der WM-Titel würde so manches überdecken, was derzeit schief läuft bei Regierung und Koalition. Reimar Zeh ist Kommunikationswissenschaftler an der Uni Erlangen-Nürnberg und Mitautor eines Buches über das Zusammenspiel zwischen Fußball und Politik. Guten Morgen, Herr Zeh!

    Reimar Zeh: Guten Morgen, Herr Heinlein!

    Heinlein: Niederlage, Platzverweis und dann der verschossene Elfmeter – wird es jetzt noch schwerer für die Kanzlerin?

    Zeh: Das würde ich jetzt noch nicht sagen, weil Deutschland ist noch im Turnier und unter Umständen ist die Niederlage jetzt gar nicht so tragisch für die Politik, weil sie sehr stark die Medien beschäftigt weiterhin. Also die Nationalmannschaft ist weiterhin in den Schlagzeilen, sie ist auf den Titelseiten, sie ist selbst in den Nachrichtensendungen auf der Nummer eins. Das schiebt die Politik nach hinten und das nützt zurzeit noch der Regierung. Natürlich wäre es im Sinne von Merkel, wenn die deutsche Nationalmannschaft sehr erfolgreich wird, das wirkt sich auf die Stimmung auf, aus und das kann ihr gut tun.

    Heinlein: Warum profitiert denn die Regierung von sportlichen Erfolgen, nicht die Opposition?

    Zeh: Weil die Regierung außerhalb der Wahlzeiten mehr im Fokus der Öffentlichkeit steht und so wirkt sich das stärker auf die Regierung aus. Die Stimmung, die sich dann auf das ganze Land ausbreitet, wirkt sich so stärker auf die Bewertung der Regierung aus und weniger stark auf die der Opposition.

    Heinlein: Ist man ...

    Zeh: Wenn Dinge gut laufen, wird das eher der Regierung angelastet, wenn Dinge schlecht laufen, wird das auch eher der Regierung angelastet als der Opposition.

    Heinlein: Also man ist stolz auf die Mannschaft, stolz auf sein Land und damit auch stolz auf die Regierung?

    Zeh: Ja das färbt so ein bisschen ab, genau.

    Heinlein: Muss also die Opposition Serbien dankbar sein und nun Ghana beim entscheidenden Spiel am Mittwoch gegen Deutschland die Daumen drücken?

    Zeh: So weit würde ich nicht gehen. Also ich denke, dass auch bei der SPD die Hoffnung groß ist, dass die Stimmung nicht ganz so schlecht wird. Ich denke, die SPD schielt eher auf das, was in der Bundesversammlung passiert.

    Heinlein: Wenn wir auf die Geschichte blicken, auf die Vergangenheit, ist denn dieser Zusammenhang zwischen Politik und Erfolgen einer Fußballnationalmannschaft tatsächlich belegbar?

    Zeh: Ja es gibt so einen anekdotischen Zusammenhang, dass wenn die Nationalmannschaft die Weltmeisterschaft gewonnen hat, eine amtierende Regierung nie abgewählt wurde. Das ist aber jetzt erst mal kein wirklich systematischer Beleg. Wir haben in Umfragedaten, die uns zur Verfügung gestellt wurden über einen ziemlich langen Zeitraum von 1993 bis 2005, feststellen können, dass wenn die deutsche Nationalmannschaft spielt und gewinnt, sich das statistisch signifikant auf die Wahlabsicht auswirkt. Nicht besonders stark und nicht besonders lange, aber es gibt in der Regel positive Effekte. Also die Stimmung wird gut und das nützt unter dem Strich der Regierung.

    Heinlein: Kann also der Fußball tatsächlich mehr oder weniger Wahlen mitentscheiden?

    Zeh: Auch da wäre ich vorsichtig, weil bei der Wahl natürlich eine ganze Reihe von Faktoren eine Rolle spielen. Im Bundestagswahljahr 2002 hat es sicherlich geholfen, dass die deutsche Nationalmannschaft überraschenderweise sehr weit gekommen ist. Damit hat niemand gerechnet und dieser Finaleinzug wurde ja dann auch, beziehungsweise die Niederlage gegen Brasilien wurde dann auch in den deutschen Straßen gefeiert; das hat die Stimmung ein bisschen verbessert und das hat ganz sicher Rot-Grün damals geholfen. Aber da waren natürlich noch andere Faktoren, die wesentlich stärker waren wie Schröders entschlossenes Gummistiefel-Anziehen in der Oder-Flut oder seine Position gegen den Irakkrieg, gegen den drohenden.

    Heinlein: Entschuldigung, Herr Zeh, Sie haben in Ihrer ersten Antwort gesagt, dass die Regierung durchaus dankbar sein kann in diesen Krisenzeiten über diese Fußball-WM, weil die Medien - wir unter anderem - abgelenkt sind, aber auch die Bürger. Glauben Sie, dass es ein Zufall war, dass die Regierung unmittelbar vor der WM dieses harte Sparpaket präsentiert, vielleicht in der Hoffnung, dass der Bürger dies dann nur ganz am Rande registriert?

    Zeh: Also ich denke, das war in der Tat ein Zufall. Wenn sie es geplant hätten, hätten sie es vielleicht noch, hätten sie noch ein paar Tage gewartet und das erst nach Spielbeginn sozusagen lanciert. Ich denke, die Regierung ist im Moment zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um so strategisch auf doch nicht ganz so zentrale Aspekte der Politikdarstellung zu achten.

    Heinlein: Was würde denn ein frühes Ausscheiden der deutschen Mannschaft für die Stimmung im Lande bedeuten?

    Zeh: Na ja, das kann man sich ausrechnen. Man hat ja gestern schon einen gewissen Vorgeschmack bekommen, es war sehr ruhig in den deutschen Straßen, die Leute sahen alle nicht besonders fröhlich aus und das wird sich durch ein Ausscheiden verstärken. Allerdings wird das nicht lange anhalten, man vergisst diese Niederlagen relativ schnell. Aber es hat natürlich den Nachteil für die Politik, dass sie wieder in den Fokus der Medien und damit auch in den Fokus der Mediennutzer, also der Bürger gerät, und man dann auch genauer hinschaut, was da jetzt alles passiert.

    Heinlein: Aber am Mittwoch beim Spiel gegen Ghana, da spielt die Politik dann gar keine Rolle mehr, da kann die Regierung machen, was sie will?

    Zeh: An dem Tag kann sie jedenfalls machen, was sie will, ja!

    Heinlein: Fußball und Politik, dazu heute Morgen im Deutschlandfunk der Erlanger Kommunikationswissenschaftler Reimar Zeh. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Zeh: Auf Wiederhören, Herr Heinlein!