Donnerstag, 18. April 2024

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EZB-Anleihenprogramm
Leinen: EZB holt Kohlen aus dem Feuer

Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen hält den geplanten Anleihekauf der Europäischen Zentralbank für erlaubt. Er sei von den EU-Verträgen gedeckt, sagte Leinen im DLF. Die EZB habe auch die Aufgabe, für Preisstabilität zu sorgen - das tue sie mit dem Programm, indem sie versuche, eine Deflation zu verhindern. Außer Deutschland begrüße der Rest Europas den EZB-Plan.

Jo Leinen im Gespräch mit Christoph Heinemann | 23.01.2015
    Jo Leinen, Europaabgeordneter der SPD-Saar
    Jo Leinen, Europaabgeordneter der SPD-Saar (imago / Becker & Bredel)
    Jo Leinen sagte im Deutschlandfunk, die Europäische Zentralbank (EZB) habe die Aufgabe, Währungspolitik zu betreiben und für Preisstabilität zu sorgen: "Und genau das hat sie gemacht." Es sei allgemein anerkanntes Ziel, die Inflation bei um die zwei Prozent zu halten. Letztes Jahr sei sie auf 0,2 Prozent runtergesackt. Es bestehe die Gefahr einer Abwärtsspirale und einer Deflation in diesem Jahr, sagte Leinen. Der geplante Anleihekauf sei daher "im Rahmen des Mandats einer Zentralbank".
    Aufgabe der EZB sei es auch, den Staaten bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu helfen. In Deutschland werde der Vertrag von Lissabon missinterpretiert. Der Rest Europas sehe es so, dass die Zentralbank helfen müsse, dass die Wirtschaft auf die Beine komme.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Lob und Zustimmung im südlichen Teil Europas. Diejenigen, die hierzulande die jüngste Entscheidung der Europäischen Zentralbank befürworten, müsste man fast unter Artenschutz stellen, denn mit unterschiedlichen Begründungen hagelt die Kritik auf Mario Draghi. Tenor: Der massenhafte Ankauf von Staatsanleihen bildet ein unkalkulierbares Risiko. Die Sorge, die Reformanstrengungen in einigen Partnerländern könnten erlahmen und durch billiges Geld und den niedrigen Euro-Wechselkurs könnte die Wirtschaft wichtige Innovationen und eine stets notwendige Überprüfung der Produktivität verschlafen. Für die Börse ist der EZB-Präsident heute "Super Mario". Der Deutsche Aktienindex klettert.
    Am Telefon ist jetzt der SPD-Europapolitiker Jo Leinen. Guten Tag!
    Jo Leinen: Guten Tag, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Leinen, ist ab jetzt jedes Mittel erlaubt, um der Wirtschaft Beine zu machen?
    Leinen: Die Europäische Zentralbank hat nach wie vor die Aufgabe, Währungspolitik zu machen und innerhalb der Währungspolitik für Preisstabilität zu sorgen, und genau das hat sie gemacht. Es war ein allgemein anerkanntes Ziel, die Inflation um die zwei Prozent zu halten. Im letzten Jahr, vor allen Dingen im Dezember, ist sie auf 0,2 Prozent runtergesackt, und die Gefahr war ja eine Abwärtsspirale, dass es dieses Jahr wirklich eine Deflation gibt. Also ich glaube, das ist im Rahmen des Mandats der Zentralbank.
    Leinen: Verträge werden in Deutschland missinterpretiert
    Heinemann: Das bezweifeln allerdings nicht wenige. Sie sagen, das ist längst keine Geldpolitik mehr, das ist längst Wirtschafts- und Finanzpolitik.
    Leinen: Vorrangiges Ziel der Zentralbank ist die Preisstabilität, aber auch die Hilfe bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Ich glaube, in Deutschland wird das missinterpretiert, was der Lissabon-Vertrag sagt, und der Rest Europas sieht das so, dass natürlich eine Zentralbank auch helfen muss, dass die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt, und das ist in Europa ja mehr als nötig.
    Heinemann: Das steht in den Verträgen drin, dass die Europäische Zentralbank der Wirtschaft helfen muss, um wieder auf die Beine zu kommen?
    Leinen: Es steht in den Verträgen, vorrangige Aufgabe ist die Preisstabilität, aber auch die Unterstützung der Wirtschaftspolitik in der Euro-Zone, und in der Tat muss man sagen, dass die Zentralbank für die Regierungen die Kohlen aus dem Feuer holt, weil wir ja offensichtlich - und das sieht ja jeder - Defizite haben in einzelnen Euro-Ländern, aber auch insgesamt in der Euro-Zone. Wir haben ja eine Schieflage, dass es eine föderale europäische Währungspolitik gibt, aber dann eine jeweils nationale Wirtschafts- und Finanzpolitik, und diese Schieflage, die muss dann leider die Zentralbank mit ihren Maßnahmen kompensieren.
    Heinemann: Herr Leinen, steht in den Verträgen auch drin, Abmarsch Richtung gemeinschaftliche Schuldenhaftung?
    Leinen: Ja, wir haben das Verbot, dass die Zentralbank Staaten finanziert.
    Heinemann: Genau das tut sie jetzt.
    Leinen: Das ist übrigens ja eine Forderung, die heute Herr Gysi erhoben hat. Das wäre eklatant gegen die Verträge. Aber innerhalb des Bankensystems, innerhalb des Zentralbanksystems gibt es ja diese Aufs und Abs und diese Tagessalden, die auch aus Deutschland beklagt werden. Also, ich glaube, man muss sich verabschieden, dass wir eine Währungsunion haben können, wo nicht innerhalb des Bankensystems, des Zentralbanksystems die Länder sich gegenseitig helfen, und das ist die Aufgabe der Europäischen Zentralbank.
    "Wir sind in einem Verbund"
    Heinemann: Herr Leinen, zu Gregor Gysis Ehrenrettung: Er hat heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk gesagt, man müsse natürlich vorher die Verträge ändern. Das weiß er auch. - Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt heute, was Draghi da macht, das ist quasi die Einführung von Eurobonds durch die Hintertür.
    Leinen: Das sehe ich nicht so. Eurobonds ist ja die direkte Haftung eines Landes für die Schulden eines anderen Landes. Die Zentralbank hat ja das Risiko auch für Deutschland auf 20 Prozent begrenzt. Die Zentralbanken der anderen Länder müssen ja ihre eigenen Staatsanleihen kaufen...
    Heinemann: Zum Teil!
    Leinen: ...und für 20 Prozent sind das dann Anleihen anderer Art, für die alle haften. Man muss sich allerdings auch von der Illusion verabschieden, die in Deutschland jetzt seit 20 Jahren grassiert, dass eine Währungsunion ein Getrenntsystem ist, wo jedes Land nur für sich arbeitet und agiert. Wir müssen uns von dieser Lebenslüge einfach verabschieden. Wir sind in einem Verbund, und letztendlich bezahlen wir ja mittlerweile auch schon durch die Hintertür, nämlich durch die niedrigen Zinsen die Sparer, die Rentner, alle zahlen ja schon mit, weil die Konjunktur und die Wirtschaft in Europa einfach nicht anspringt.
    Heinemann: Herr Leinen, Sie haben jetzt zurecht mehrfach die Verträge erwähnt. Aber genau das steht doch in den Verträgen drin, dass eben nicht gemeinsam für Schulden gehaftet werden soll.
    Leinen: Es steht drin, dass kein Land entschuldet werden kann von anderen Ländern. Die Frage ist ja hier, ob die Wirklichkeit, ob die Realität nicht diese Fiktion des Maastricht-Vertrages von 1991/92 schon überholt hat. Ich meine, wir haben ja durch den Rettungsschirm, durch andere Rettungsprogramme haben wir ja schon die Vergemeinschaftung der Schulden. Es ist einfach eine andere Realität eingetreten. Und ich meine, es hilft ja der Politik nichts, sich an Illusionen zu klammern. Es müssen ja Lösungen her. Und auch Deutschland nützt es nichts, immer wieder zu behaupten, man darf den anderen Ländern nicht helfen. Wir sind eine Exportnation, auch unsere Wirtschaft hängt davon ab, dass auch in Südeuropa, dass auch dort Investitionen und Wachstum herrscht, und insofern, glaube ich, ist die Politik aufgerufen, nach Lösungen zu suchen. Da die Regierungen dazu nicht in der Lage sind, vor allen Dingen auch durch die Blockade aus Deutschland, kommt immer wieder die Europäische Zentralbank als letzter Rettungsanker ins Spiel.
    Leinen fordert Dreiklang für Reformen
    Heinemann: Stichwort Lösungen. Werden Reformen jetzt auf die lange Bank geschoben?
    Leinen: Es muss den Dreiklang geben: Stabilisierung der Staatsfinanzen. Dafür haben wir den Stabilitätspakt. Der muss nach wie vor beachtet werden. Dann Strukturreformen. Da ist einiges passiert, noch nicht genug. Ich höre, dass heute Herr Renzi [der italienische Ministerpräsident], der französische Wirtschaftsminister, alle bekennen sich ja zu Reformen, und manches kommt halt nicht schnell genug voran. Aber drittens in dem Dreiklang brauchen wir auch Investitionen. Von Sparen allein gibt es weder Arbeitsplätze noch wirtschaftlichen Aufschwung. Das ist ja die Erkenntnis der letzten Jahre, man schaue nur in die USA oder nach Großbritannien. Beide hatten dieselbe Bankenkrise 2009, beide haben auch mit ihrer Zentralbank Geld in den Markt gepumpt, und die USA haben jetzt drei Prozent Wachstum und Europa dümpelt bei null bis ein Prozent. Also wir müssen einfach aus dem Tal der Tränen rauskommen, und die Zentralbank kann zwar nicht ein Allheilmittel sein, aber sie ist ein Mittel.
    Heinemann: Papier ist geduldig - Stichwort Reformen noch mal. Wieso sollten sich Regierungen jetzt daran machen - das ist unpopulär - wenn Mario Draghi es ihnen so einfach macht?
    Leinen: Die Regierungen sind nicht aus der Verpflichtung für Reformen entlassen. Dafür haben wir auch Vereinbarungen. Ich denke, dass Frau Merkel und andere in Europa, die Niederländer, die Nordeuropäer, schon darauf drängen, dass die Hausaufgaben auch in den Mittelmeerländern gemacht werden. Man sieht, dass dort andere Kulturen, andere Hürden herrschen. So ein strukturelles Reformprogramm der Wirtschaft, der Gesellschaft, der Arbeitsmärkte, der Sozialsicherungssysteme, das dauert Jahre, das ist nicht per Knopfdruck zu haben. Aber das Ziel ist bestimmt und der Weg dorthin muss einfach gegangen werden. Ich glaube nicht, dass sich ein Land verweigern kann, diese Reformen einfach zu unterlassen.
    Heinemann: Herr Leinen, Mario Draghi und der EZB-Zentralbankrat sind nicht demokratisch legitimiert. Sie sind nicht vom Souverän gewählt. Welche Möglichkeiten bestehen für Bürgerinnen und Bürger, die ihr Erspartes solchen Leuten, solchen Risiken nicht aussetzen möchten, die solche Leute an der Spitze der obersten Geldverwaltung gern los werden möchten?
    Leinen: Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank war ja das Credo und das Mantra der deutschen Europapolitik.
    Leinen: Banken werden gerettet und Bürger müssen bezahlen
    Heinemann: Und daran wird gerade gezweifelt.
    Leinen: Wir haben das ja gewollt, und ich glaube auch, dass es nach wie vor richtig ist. Die Zentralbank macht ihre Aufgabe. Was auch mir nicht gefällt als Sozialdemokrat, dass letztendlich die Banken gerettet werden und die Bürger dafür bezahlen. Das ist wirklich etwas, was uns allen nicht gefällt und was man kritisieren muss. Aber die Banken sitzen auf faulen Papieren, sie geben keine Kredite, vor allen Dingen nicht an kleine und mittlere Unternehmen in vielen Ländern, und aus dieser Lage heraus muss sich Europa befreien, und da hat die Zentralbank Mittel, die sie einsetzen kann, und dieser Anleihekauf ist vielleicht sogar ihr letztes Mittel, was sie noch zur Verfügung hat. Der Ball liegt jetzt im Feld der Politik, im Feld der Regierungen, auch ein größeres Investitionsprogramm anzuschieben und dann den eigenen Worten Taten folgen zu lassen, dass wirklich die Reformen auch gemacht werden.
    Heinemann: Und die Unabhängigkeit, die Sie gerade angesprochen haben, die sieht jetzt so aus: Ein Italiener macht Politik für Italien?
    Leinen: Es macht kein Italiener Politik, sondern der Zentralbankrat, und wie man hört, haben die mit großer Mehrheit, wenn nicht sogar einstimmig entschieden. Natürlich haben die heftige Debatten. Das wäre ja auch verwunderlich, wenn es das nicht gäbe bei den unterschiedlichen Interessen. Aber auf deutsches Drängen hin, sage ich mal, ist ja dieses Anleiheprogramm so geschmiedet worden, dass die Risiken sehr begrenzt sind, dass die Staaten ihre eigenen Anleihen kaufen müssen, also weiterhin für ihre eigenen Schulden in Höhe von 80 Prozent haften, und auch das wird ja heftig kritisiert in anderen Ländern Europas. Man muss mal in andere Länder schauen, die sagen, schon wieder wird die Euro-Zone gespalten in die, die reich sind, und in die, die arm sind. Und wer A sagt zu der Euro-Zone, der muss auch B sagen zu einer Gemeinschaftspolitik, dass wir nicht nur in guten Zeiten, sondern auch in schlechten Zeiten beieinander stehen.
    Heinemann: Fragt sich, wie lange die Mehrheit hierzulande noch A sagen wird. Ökonomen sagen, unsere Pferde müssen nicht saufen, die haben genug Wasser, sie haben auch genug schon getrunken. Können Sie verstehen, wenn die Euro-Skepsis wächst?
    Leinen: Ja natürlich! Das ist schwer zu verdauen. Wer ein Sparbuch hat und jetzt keine Zinsen mehr bekommt, wer eine Versicherung abgeschlossen hat, eine Lebensversicherung, und nichts mehr bekommt, der ärgert sich, der ist vielleicht auch wütend. Aber ich sage mal, volkswirtschaftlich hat Deutschland durch die Euro-Zone und ironischerweise auch durch die Euro-Krise gewonnen. Wir sind stärker denn je. Unser Land wird als ein Idealstaat angesehen von vielen. Viele beneiden Deutschland für das, was wir heute vorweisen können. Und man darf nicht vergessen, dass wir dann auch eine Verantwortung haben, diese Krise zu überwinden und zum Teil auch damit für die Überwindung der Krise einzustehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.