Die Münchner Philharmoniker beim Musikfest Berlin 2019

Meditation und Chaos

Die Münchner Philharmoniker
Sowohl mit als auch ohne Dirigent überzeugend: die Münchner Philharmoniker und ihr Chef Valery Gergiev © Musikfest Berlin / Andrea Huber
Moderation: Mascha Drost · 13.09.2019
Der Dirigent kommt zu spät, das Orchester spielt schon. Oder ist diese Ansammlung von einzelnen Musikern gar kein Orchester? Mit Alfred Schnittkes 1. Sinfonie stellen die Münchner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Valery Gergiev Grundsatzfragen, mit Anton Bruckners 6. Sinfonie sorgen sie für klangvolle Stille.
In dem ewigen Auf und Ab, das die staatliche Kulturpolitik den sowjetischen Komponisten zumutete, waren die 1970er Jahre eine Phase der konservativen Rückbesinnung. Und das in einer Zeit des Generationenwechsels, in welcher der Großmeister Dmitri Schostakowitsch den Stab an die Jüngeren weiterreichte, etwa an Sofia Gubaidulina und Alfred Schnittke.
Schnittke bezog sich in seiner Ersten Sinfonie denn auch mit einer versteckten Huldigung auf Schostakowitsch, wie er überhaupt die Musikgeschichte in sein Werk hineinkomponiert hat, etwa den Trauermarsch von Frédéric Chopin oder die "Abschieds-Sinfonie" von Joseph Haydn. Das 1972 vollendete Werk hatte es schwer, in der Sowjetunion aufgeführt werden, doch der mutige Dirigent Gennadij Roschdestwensky setzte sich durch, wenngleich er 1974 mit der abgelegenen Stadt Gorki als Ort der Uraufführung Vorlieb nehmen musste.

Konfrontation von "E" und "U"

Tatsächlich hat Schnittkes Erste (der acht weitere Sinfonien folgen sollten) auch heute nichts von ihrer verstörenden Kraft eingebüßt, obwohl sie auch unterhaltsame Momente hat: "Die Erste Sinfonie nahm alles auf, was ich damals zur Musikform, zum Zusammenwirken verschiedener Stile und Genres, zur Gegenüberstellung von E- und U-Musik sagen wollte. Alles, was ich nach der Ersten Sinfonie schrieb, war in gewisser Weise ihre Fortführung", erinnerte sich der Komponist später.
Der russische Dirigent Valery Gergiev
Zeremonienmeister zwischen Sinfonie und Happening: der russische Dirigent Valery Gergiev© Musikfest Berlin / Alberto Venzago
Das spektakuläre, rund einstündige Werk beginnt mit dem führungslosen Spiel einzelner Musiker, die nach und nach auf die Bühne kommen. Erst nach etlichen Minuten ist der große Klangkörper vollständig, das Orchester im herkömmlichen Sinne handlungsfähig, und erst dann kann der Dirigent in dieses Happening ordnend eingreifen.

Bruckner in Bayern

Als ebenso kraftvoll wie verstörend wurden im 19. Jahrhundert auch die Sinfonien Anton Bruckners empfunden, die mit ihren Klangballungen, ihrer schieren Ausdehnung und den jenseits aller musikalischen Entwicklung stehenden Chorälen die Zeitgenossen verwirrten. Vergleichsweise knapp und konzise erscheint die Sechste Sinfonie, deren besonderer Charakter dazu geführt hat, dass sie heute nicht allzu oft gespielt wird.
Valery Gergiev hat dieses Werk nach Berlin zum Musikfest mitgebracht und kann damit die Kunst der Münchner Philharmoniker von ihrer schönsten Seite zeigen, denn das Orchester der bayerischen Metropole galt seit jeher als eine erste Adresse für Bruckner.
Aufzeichnung vom 10.09.2019 aus der Philharmonie Berlin
Alfred Schnittke
Sinfonie Nr. 1
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 6 A-Dur

Münchner Philharmoniker
Leitung: Valery Gergiev

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