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Fachdisziplin Familienwissenschaften
Elternrolle und Kindheit im gesellschaftlichen Wandel

Lange schon wollten Fachleute den neuen Anforderungen an Familien im Berufsleben, in Bildung und Erziehung mit einer eigenständigen Fachdisziplin "Kindheits- und Familienwissenschaften" zu begegnen. An der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften hat man 2013 begonnen, diese Idee umzusetzen. Was leisten die "Angewandte Familienwissenschaften"?

Von Ursula Storost | 12.02.2015
    "Die Familie ist es, die unser'n Zeiten nottut." Befand der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter Mitte des 19. Jahrhunderts.
    Auf der Familie ruht die Kunst, die Wissenschaft, der menschliche Fortschritt, der Staat.
    Die bürgerliche Familie: Vater, Mutter und mehrere Kinder. Wobei der männliche Ernährer das Sagen hatte. Strukturen, wie wir sie heute kaum noch vorfinden, sagt Wolfgang Hantel-Quitmann, Professor für Psychologie an der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften, kurz HAW und Organisator der Tagung. Wir brauchen, sagt er, eine neue wissenschaftliche Betrachtungsweise der Familien. Eine interdisziplinäre Kindheits- und Familienwissenschaft.
    "Weil die modernen Probleme, die Familie heute hat, nicht mehr aus einer Perspektive alleine zu verstehen und zu erklären oder zu verändern sind."
    Wie viele Aspekte beim Blick auf Familien eine Rolle spielen, zeigt zum Beispiel das Thema Migrationsfamilie, ergänzt die Ethnologin Dr. Astrid Wonneberger, Privatdozentin an der HAW. Das Phänomen Migration sei zwar uralt, aber
    "Es gab bisher nur diese Einzelwissenschaften, die dieses Thema Migration angenommen haben. Aber eben nur aus ihrer Sicht. Das heißt, die Rechtswissenschaften haben sich nur die rechtliche Perspektive angeschaut. Die Kulturwissenschaften oder die Ethnologie haben sich nur angekuckt, wie sich Identitäten verändern oder Kulturen verändern. Die Politikwissenschaft hat sich nur mit der Politik beschäftigt. Das heißt wir haben bisher zumindest in Deutschland noch keinen übergreifenden Ansatz."
    Teamteaching und interdisziplinäre Aufbereitung
    An der HAW hat man seit knapp zwei Jahren einen Master Studiengang etabliert, der da abhelfen soll.
    "Wir haben ein interdisziplinäres Team mit dem wir auch unterrichten und teilweise machen wir das im Teamteaching. Also wir sitzen da zu dritt, nehmen uns ein Thema vor und betrachten das Phänomen aus unterschiedlichen Standpunkten. Halten Vorträge dazu und versuchen das mit den Studierenden interdisziplinär aufzubereiten."
    Es werde immer wichtiger, so Wolfgang Hantel-Quitmann, die vielschichtigen Einflüsse, denen Kinder in Familien ausgesetzt sind, zu analysieren. Man sei zwar heute in der Lage, viele wichtige Faktoren zu benennen, aber
    "Wir haben z.B. eine Fragestellung immer noch nicht richtig beantwortet. Das nennt sich Resilienzforschung. Und dabei geht es um die Frage der psychischen Widerstandsfähigkeit von Kindern. Und da wollen wir verstehen, wie kann es zum Beispiel dass Kinder, die unter sehr schwierigen Verhältnissen groß werden trotzdem gesund werden. Also zum Beispiel Huckleberry Finn."
    Chronische Krankheitsprozesse
    Fest steht, und das zeigen neue Studien, es gibt einen engen Zusammenhang zwischen familiärer Lage und psychischer Gesundheit von Kindern.
    "Es gibt zwei Auffälligkeiten, die uns zu denken geben. Das Eine ist, die Entwicklung bei Kindern geht immer mehr von den körperlichen zu den psychischen Erkrankungen. Und das Zweite ist, es geht von den akuten Erkrankungen zu den chronischen Erkrankungen. Das ist ne große Frage, wie kommt es, dass unsere Kinder heute nicht mehr im Wesentlichen körperlich, sondern psychisch krank werden. Und warum sind das nicht mehr akute Geschichten, sondern chronische. Und wie können wir diesen chronischen Krankheitsprozessen entgegensteuern."
    Prävention, so der Psychologe, müsse auch wieder interdisziplinär sein, soll sie nachhaltig gelingen.
    "Das heißt Prävention ist nicht nur ne Frage von mehr Kinderärzten und mehr Kinderpsychologen oder Kinderpsychiatern. Sondern wir müssen uns die Stressfaktoren in der Familie ankucken, wir müssen uns die Peergoups ankucken und dazu müssen wir Daten sammeln, dazu müssen wir Erfahrungen machen. Und erst dann können wir ne Antwort darauf geben, warum es den Kindern so geht wie es ihnen geht und vor allem, was wir dagegen tun können."
    Nachhaltige Prävention
    Es gebe heute viele neue Faktoren, die auf Familien einstürmten, resümiert die renommierte Soziologin Rosemarie Nave-Herz. Die emeritierte Professorin der Universität Oldenburg, die an mehreren Familienberichten der Bundesregierung beteiligt war, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Familiensoziologie. Vor allem für Eltern habe sich viel geändert, sagt sie. Die sollen heute ihre Kinder in jeder Hinsicht optimal fördern. Alles, was Schule nicht leisten kann, sollen sie übernehmen. Dazu komme die Versprachlichung von Erziehung. Es solle nicht mehr autoritär verordnet, sondern erklärt werden. Das erfordere Zeit, Energie und kognitive Kompetenz.
    "Eine Überforderung bei Eltern, die dann häufig auch in das Gefühl des Versagens mündet. Oder auch Selbstzweifel. Und in die Unzufriedenheit die Leistung nicht zu erbringen. Das sind alles Gefahren, die zu einem Burn Out führen können. Vor allem dann wenn noch andere Frustrationen im Berufsbereich gegeben sind."
    Natürlich hätten sich auch die Familienstrukturen in den letzten zwanzig Jahren geändert, bestätigt die Soziologin. Allerdings nur bezogen auf die vergangenen einhundertfünfzig Jahre.
    "Wenn wir weiter zurückgehen in die Geschichte, dann gab es schon immer die verschiedensten Familienformen. Selbst die Patchworkfamilie ist keine neue Erscheinung, sondern die gab es in der vorindustriellen Zeit viel häufiger als heute wegen der geringen Lebenserwartung der Menschen damals."
    Veränderung innerfamiliärer Beziehungen
    Stieffamilien, Paare, die aus ökonomischen Gründen unverheiratet blieben - aber trotzdem mehrere Kinder hatten - alles schon da gewesen, resümiert Rosemarie Nave-Herz.
    "Vor allem hat sich verändert die innerfamiliären Beziehungen durch den anderen Erziehungsstil. Durch das veränderte Verständnis von Elternschaft. Also hier sind vielfältigere Veränderungen geschehen als häufig thematisiert wird. Und die waren gravierender als die Rollenzusammensetzung der Familie."
    Wie eng politische Entwicklungen und familiäre Dispositionen zusammenhängen, zeigt die deutsche Wiedervereinigung 1990. Damals, so die Psychologin Professor Sabine Walper, sank nicht nur die traditionell hohe Scheidungsquote in der DDR massiv ab. Die Leute heirateten auch nicht mehr und bekamen kaum noch Kinder.
    "Die Wende hat für viele eine große Verunsicherung gebracht. Man wusste überhaupt nicht, wie das jetzt wirtschaftlich weitergeht, welche Regeln jetzt wie funktionieren. Allein schon die Einführung des Trennungsjahres war ja ne Neuerung. Und von daher haben sich die Leute mit größeren Veränderungen in ihrem Privatleben erst mal zurückgehalten und haben gesagt, nun warten wir mal ab, was kommt."
    Große Verunsicherung durch die Wende
    Sabine Walper ist Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut in München. Sie befasst sich vor allem mit Scheidung und Trennung von Familien. Heute ein Massenphänomen.
    "Scheidung hat im Großen und Ganzen negative Effekte auf Kinder. Auf ihre Schulleistungen, gesundheitliche Befindlichkeit, Sozialverhalten, vieles mehr. Aber diese Effekte sind viel, viel geringer als man landläufig meint. Und es gibt sehr unterschiedliche Entwicklungsverläufe. Manche erweisen sich als völlig relient. Da hat man das Gefühl, es geht an ihnen vorüber oder sie sind zumindest sehr gut in der Lage das abzufangen. Andere profitieren sogar davon, dass die ewigen Streitigkeiten zwischen den Eltern aufhören."
    Eine interdisziplinären Kindheits- und Familienwissenschaft braucht auch die Erkenntnisse der Medizin, resümiert der Kinder- und Jugendpsychiater Professor Michael Schulte Markwort vom Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Kinder heute seien psychisch zwar nicht gesünder als vor 30 Jahren - ein Skandal, wie er betont - aber die Kindheit habe sich generell positiv entwickelt..
    "Ich habe zu tun mit Kindern, die super reflektiert sind, super vernünftig. Aber sie sind aber oft auch sehr intrinsisch. Das heißt aus sich heraus sehr leistungsmotiviert. Sie wollen es besonders gut machen, sie wollen es auch ihren Eltern Recht machen. Ohne dass die immer Druck machen. Das geht auch ohne. Und dann erleb ich eben, dass ich zunehmend mit erschöpften Kindern zu tun habe. Und seit fünf Jahren sehe ich tatsächlich auch Jugendliche, die eine Erschöpfungsdepression, ein Burn-Out Syndrom entwickeln und behandel die."
    Jugendlicher Burn Out
    Noch vor zwanzig Jahren war die größte Sorge der Eltern, wie sie ihre Sprösslinge zum Lernen bewegen können, erinnert sich Michael Schulte-Markwort. Heute suchten immer mehr Eltern Hilfe, weil die Kinder sich selber massiv unter Leistungsdruck setzten.
    "Und deswegen möchte ich gerne eine Debatte darüber anstoßen, welche Kinder wollen wir haben, welche Lehrer wollen wir haben, welche Schulen wollen wir haben, auch welches Wertesystem wollen wir haben. Und es ist tatsächlich so, dass die durchdrungene Ökonomisierung aller Arbeitsbereiche, aller Lebensbereiche, auch meinen Arbeitsbereich zutiefst erfasst."
    Michael Schulte Markwort hat ein Buch über den jugendlichen Burn Out geschrieben. Darin plädiert er für weniger Ökonomisierung, für kleinere Klassen und besser ausgebildete Lehrer, die dann auch selber stressresistenter sind. Was den Mediziner ärgert ist die, wie er sagt, romantisierende Rückwärtsgewandtheit vieler Zeitgenossen. Auch vieler Wissenschaftler. Eine Kindheit mit freiem Auslauf in der Natur mache noch keine glückliche Kindheit.
    "Genauso wenig wie es stimmt, nur weil die heute alle Smartphones haben sind die psychisch kränker. Auch das stimmt nicht. Weil Kinder es heute gelernt haben, die sie mit diesen digitalen Medien aufwachsen und die sind extrem kompetent damit. Die machen das auch gut."