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Fade Parodie

"23.000" heißt der letzte Band von Vladimir Sorokins Science-Fiction-Trilogie über die rätselhafte Bruderschaft des Lichts. Wurde der erste Band noch von vielen Lesern für große Literatur gehalten, dürfte "23.000" auch die treuesten Sorokin-Fans enttäuschen.

Von Uli Hufen | 15.07.2010
    Der Hammer redet wieder. Taube Nüsse wehren sich. Auf diese beiden kurzen Sätze könnte man den letzten Band von Vladimir Sorokins Science-Fiction-Trilogie über die rätselhafte Bruderschaft des Lichtes reduzieren. 2002 war im Moskauer Avantgarde-Verlag Ad Marginem der erste Band der sogenannten Ljod-Trilogie erschienen. Ljod heißt auf Russisch Eis. 2004 folgte, Sorokin war zum Großverlag Sacharow gewechselt, der zweite Band, der in unserer Tarantino- und Star-Wars-Welt naturgemäß nicht einfach der zweite Band sein konnte.

    "Bro" war, was man heute ein Prequel nennt, das Buch erzählte die Vorgeschichte von "Ljod". Ende 2005 erschien in Moskau dann die komplette Trilogie, inklusive des Schlussbandes "23.000". Sorokin war offenbar der Meinung, der letzte Band könne nur im Zusammenhang mit den ersten beiden verstanden werden. Für die deutsche Übersetzung hat sich der Berlinverlag vier Jahre Zeit gelassen - ungewöhnlich viel für ein Buch des berühmtesten lebenden russischen Schriftstellers. Beim Lesen schleicht sich ziemlich schnell der Verdacht ein, dass könnte mit der Qualität des Buches zusammenhängen. Es gibt Leute, die den ersten Band der Eis-Trilogie für große Literatur gehalten haben. Darüber konnte man streiten. "23.000" dürfte auch die treuesten Sorokin-Fans enttäuschen.

    "23.000" spielt im Jahr 2005 und beschreibt den Versuch der Bruderschaft, ein finales Vereinigungsritual auf die Beine zu stellen. Die Bruderschaft besteht aus blonden Übermenschen, die in der Lage sind, ohne Umweg über Worte, Zungen und Gehirne direkt mit dem Herzen zu sprechen. Wenn alle 23.000 Sektenmitglieder in einem großen Kreis zusammenkommen, so die Verheißung, dann ist das Ende der sündigen Welt und der Menschheit gekommen. Allerdings fehlen noch einige Brüder. Die aber müssen, in einer schon in den ersten beiden Bänden bis zum Ermatten wiederholten Prozedur, erweckt werden.

    "Chram stellte sich vor ihn hin, richtete sich auf. Ihr Atem ging pfeifend. Sie hielt den Stiel des Hammers umklammert. Der Hammer zitterte in ihren Händen, glänzte hin und wieder auf in der Dunkelheit. Der Junge ließ den Blick nicht von Chram. Sie schaute ihm in die Augen. Der Hammer zitterte. Langsam führte sie ihn nach hinten, holte Schwung. Starr, mit gerichteten Herzen saßen die Geschwister im Kreis.
    Uf schloss die Augen, rüstete sich.
    Der Hammer beschrieb einen Halbkreis und schlug gegen die Brust des Jungen."


    Der Kopf des magischen Hammers besteht aus Eis, das im Jahr 1908 mit dem Tunguska-Meteoriten auf die Erde kam. Es gibt nur ein Problem: Wer zur Bruderschaft des Lichtes gehört und wer nur eine stinknormale "Fleischmaschine" ist, zeigt sich erst, nachdem der Hammer gesprochen hat. Wer dazu gehört, wird vom Hammer erlöst, wer nicht dazugehört, wird schwer verletzt oder getötet. Einige dieser "taube Nüsse" genannten Opfer des Hammers haben sich im Internet zu einer Selbsthilfegruppe zusammengeschlossen, um der Bruderschaft das Handwerk zu legen. Allen voran die russische Jüdin Olga Drobot aus New York und der "schwedische Schwede Björn aus Schweden". Das Ergebnis ist eine James-Bond-Situation. Die Bruderschaft treibt die Vorbereitungen zur Vernichtung der Welt voran, Olga, Björn und ein paar andere kommen ihnen erst auf die Spur und dann in die Quere.

    Sorokin jagt sein Personal rund um die Welt, von Finnland nach Japan und Russland, von New York nach Israel und schließlich nach China, wo das große Finale stattfindet. Das gibt ihm Gelegenheit, seine Erfahrung als international tätiger Großkünstler zu verwerten und Sprachfetzen aus geschätzten zehn Fremdsprachen einzubauen. Dazu kommen reichlich Schießereien und Verfolgungsjagden, die andere Autoren allerdings wesentlich besser können. Auch für Sorokins Markenzeichen, demonstrativ krude Sex- und Gewaltexzesse, bleibt genug Raum.

    "Lieber alle acht Wochen einen umbringen, als jeden Tag ins Büro. ...
    Misato ist betrunken. Das gekochte Kobe-Beef kriegt sie schon nicht mehr runter. Es wird Zeit. Auch ich bin angenehm beschwipst. Satt von all den leckeren Dingen. Jetzt will ich ihn einer Zehntklässlerin reinstecken."


    Hier spricht ein holländischer Auftragsmörder und natürlich ist die Passage, wie nahezu alles, was Sorokin je geschrieben hat, eine Parodie. Sie soll nicht krude sein, sondern demonstrativ krude. Das Problem: In früheren Romanen hatten derartige Szenen eine Funktion. In "23.000" schüttelt man als Leser nur noch den Kopf.

    Wobei unbestritten ist, dass Sorokin viel kann. Auch in "23.000" blitzt sein Genie immer wieder auf. Formulierungen wie "Das Fleisch klumpt" macht ihm so leicht niemand nach. Es gibt allerhand gelungene Stilübungen und ein paar großartige Wortprägungen. Aber wenn Sorokin dann zum 423. Mal beschreibt, wie irgendwo auf der Welt jemandem der Brustkorb eingeschlagen wird, fragt man sich, ob er eventuell vorhat, die Geschichte aller 23.000 Brüder einzeln zu erzählen. Noch trüber sind die Kapitel, in denen die Sektenmitglieder über das Licht, die Erweckung und das Eis palavern.

    "Mein leuchtendes Herz ist dem ersehnten Bruder zugewandt.
    Ich schirme Gorn.
    Ich hüte Gorn.
    Ich schütze Gorn.
    Ich stille ihn.
    Gorns Herz öffnet sich zügig."


    Natürlich ist auch das eine Parodie. Auf irgendwas. Schmerzhaft zu lesen ist es trotzdem. "23.000" enthält Dutzende Seiten solcher Prosa, Sorokin türmt diese Passagen auf, als glaube er, die schiere Menge würde irgendwann eine Idee ersetzen. Der Leser leidet und hofft, dass wenigstens das finale Großritual enthüllen wird, warum Sorokin der Bruderschaft des Lichtes eine ganze Trilogie gewidmet hat. Aber auch diese Hoffnung wird enttäuscht.

    Die Bruderschaft ist und bleibt hohl, von einem neuen Mythos findet sich keine Spur, die Trilogie implodiert mit einem faden Puff. Am Ende finden wir Olga, Björn und ein totes Baby auf einer schneeweisen Marmorplattform, wo die beiden Überlebenden sich in zwölf kurzen Sätzen, die zum furchtbarsten gehören, was je geschrieben wurde, darauf einigen, dass "Gott" die bessere Idee ist. Dann ist endlich Schluss.

    Aber vielleicht war auch das Absicht? Die ultimative Parodie? Auf die Literatur, das Schreiben und das Lesen? Wie kein anderer zeitgenössischer Schriftsteller hat Vladimir Sorokin es verstanden, sich durch einen dichten Panzer von postmodernem Brimborium den Vorwurf vom Leib zu halten, er sei möglicherweise einfach ein schlechter Schriftsteller. Oder ein Scharlatan. Wenn Sorokin schlecht schreibt, dann steckt irgendetwas dahinter. Er macht das absichtlich. Die Frage ist also nicht, ob Sorokin ein mit allen Wassern gewaschener Provokateur ist, der sich systematisch, gewissermaßen in Fünfjahresplanrhythmen, ein unzerstörbares Image als Groß-Parodist, Kunst-Pornograf und Fäkal-Artist erarbeitet hat. Genauso ist es, das ist offensichtlich. Die Frage ist, ob aus all diesen Parodien auf Schreib- und Sprechweisen aller Art wirklich die neue Literatur, wirklich eine neue Art von Texten geboren wird. Große russische Literaturwissenschaftler von Wiktor Schklowskij über Jurij Tynjanow bis Michail Bachtin hatten genau das als eine Art Grundgesetz der Literatur postuliert.

    Frühe Sorokin-Romane wie "Norma" illustrierten anschaulich, dass sich die Theorie in die Praxis übersetzen ließ. Mit der Ljod-Trilogie und besonders mit ihrem letzten Band ist Sorokin nun aber in der Phase der Selbstparodie angekommen. In jedem Fall scheint ihm der Mut zu fehlen, im Alter von 55 noch einmal etwas Neues zu probieren. Sorokins neuer Roman "Metel - Der Schneesturm", gerade in Moskau erschienen, ist wieder eine Parodie.

    Vladimir Sorokin: "23.000".
    Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Berlin Verlag, Berlin 2010, 332 Seiten, 24 Euro