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"Fahr' scheinfrei" in München
Schwarzfahren mit Ansage

Eine anonyme Gruppierung ruft in München zum Schwarzfahren auf - sie will damit den öffentlichen Nahverkehr umkrempeln. Begründung: Viele Menschen könnten sich die Fahrpreise schlicht nicht mehr leisten. Allerdings hat die Münchner Verkehrsgemeinschaft noch ganz andere Probleme.

Von Susanne Lettenbauer | 02.02.2018
    U-Bahn der MVG Münchner Verkehrsgesellschaft bei der Einfahrt in den Haltepunkt Münchner Freiheit in München Schwabing, Bayern.
    Der ÖPNV ist an vielen Stellen sanierungsbedürftig. In München ruft eine anonyme Gruppierung zum Fahrschein-Boykott auf, weil sich viele die teuren Tickets nicht mehr leisten könnten, heißt es. (imago / Ralph Peters)
    An der Münchner U-Bahnstation Pocchistrasse - gelbe Kacheln an den Wänden und dicke Säulen auf dem Bahnsteig - herrscht morgens und abends Dauerstress. Im Minutentakt fahren die U-Bahnen ein, die Türen rauschen auf, Menschen steigen aus und ein, manche bleiben draußen, weil kein Platz mehr in den Wagen ist. Die Türen schwingen wieder zu und ab in den nächsten Tunnel Richtung Marienplatz, Tierpark oder Klinikum Großhadern.
    Seit im Dezember vergangenen Jahres die Ticketpreise mal wieder angehoben wurden, kostet eine Einzelfahrt für die Innenstadt jetzt 2,90 Euro. Zur Jahrtausendwende kostete dasselbe Ticket fast die Hälfte. Vor den Fahrkartenautomaten schütteln die Fahrgäste den Kopf über die Preispolitik der Stadtwerke München:
    "Das ist halt teuer, das kann man sich als Student vielleicht grad noch leisten mit dem Studententicket, aber ohne wird es schwer."
    Konspirative Webseite mit nachgemachten Tickets
    "Kannst auch Du die Fahrpreise im MVV-Tarifgebiet kaum noch bezahlen? Fährst du womöglich auch öfter ohne Fahrkarte? Du bist nicht allein."
    So steht es seit kurzem von einer konspirativen Webseite im Netz. Der Aufruf: Fahrscheinfreier ÖPNV ab sofort. "Ohne Fahrschein fahren. Das ist unser Antrieb." Täuschend echt nachgemachte Flyer des Münchner Verkehrsverbundes MVV, in denselben Farben grün und blau, dieselbe Schrift, fast dasselbe Logo.
    Verblüffend echt aussehende, aber nachgemachte Einzeltickets bis zur Mehrfachkarte kann man auf der Webseite herunterladen, für die nächste Gratisfahrt ausschneiden und in den Bussen und Bahnen benutzen.
    Sympathie von Münchner Umweltvereinen
    Nicht schwarz ärgern, sondern schwarzfahren - Mobilität sei in unserer Welt eine Notwendigkeit, die allen Menschen zugänglich sein muss, fordern die Aktivisten im Netz. Wer dahinter steckt? Die Gruppe will anonym bleiben, beantwortet Fragen nur schriftlich. Sie seien verhältnismäßig wenige Menschen und überhaupt nur eine recht lose Gruppierung von wohl nicht mehr als rund zwei Dutzend Personen aus ganz München und Umgebung. Auch wenn sie unerkannt bleiben möchten, rennt die Gruppe bei Münchner Umweltvereinen offene Türen ein.
    Er wisse auch nicht, wer dahinter steckt, sagt Andreas Schuster, Verkehrsexperte des Münchner Vereins Green City, die seit Jahren für eine andere Nahverkehrspolitik zugunsten weniger Autos kämpft:
    "Ich finde die Aktion grandios, leider muss ich sagen, dass wir uns diese Kreativität nicht ans Revers heften können. Es ist tatsächlich nicht von uns. Allerdings das wording, warum muss man umsteigen, warum muss man über ÖPNV neu nachdenken, das ist sehr nahe an dem, was wir seit Jahren sagen."
    Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen gab es schon 1969
    Neu ist der Protest nicht: 1969 gab es bereits einen ähnlichen Fall in München, eine offen ausgetragene Protestaktion gegen Fahrpreiserhöhungen. Damals stellte das Bayerische Landesgericht fest, dass keine Erschleichung von Leistungen vorliege, wenn der Fahrgast offen und ausdrücklich bekannt gibt, dass er schwarzfährt. Die verantwortlichen Stadtwerke München sehen das heute komplett anders:
    "Wir finden die Aktion natürlich nicht gut. Da wird aufgerufen zum Schwarzfahren, da wird aufgerufen zur Manipulation von Fahrscheinen, zum Missbrauch. Das halten wir für strafbar und schauen uns das auch rechtlich an."
    Münchner Nahverkehr finanziert durch Fahrscheinerlöse
    Sprecher Matthias Korte ist derzeit ständig auf Münchens ÖPNV-Baustellen unterwegs. Trambahnstrecken werden ausgebaut, das alte U-Bahn-System ist in die Jahre gekommen, 1972 zu den Olympischen Spielen eröffnet und seitdem nie grundlegend saniert, da käme ein Aufruf zum Schwarzfahren ganz schlecht. Denn: der Nahverkehr finanziere sich in München, im Gegensatz zu anderen deutschen Städten, fast zu 100 Prozent nur durch die Fahrscheinerlöse, so Korte. Durch Schwarzfahrer entstünde derzeit bereits ein Schaden von 10 Millionen Euro:
    "Da weiß man exakt nicht, ob man lachen oder weinen soll, wenn man so was sieht, weil die Diskussion über das Thema an sich ist ja legitim, die führen wir mit der Politik auch selber, der ÖPNV ist unterfinanziert, wir hätten auch gern mehr Geld im System, nur so eine Diskussion kann ich ernsthaft nur führen, wenn ich mich zu erkennen gebe, wenn ich mich auseinandersetzen kann, eine anonyme Seite ins Netz stellen und zum Schwarzfahren aufzurufen ist einigermaßen gaga."
    Aktion fällt in Diskussion um Feinstaubbelastung
    Was vor fast 50 Jahren als Aktion noch belächelt wurde, hat heute eine ganz andere Brisanz. Die Diskussion um Dieselabgase und Feinstaubbelastung - München hat laut Umweltbundesamt in dieser Woche erstmals Stuttgart als bundesdeutschen Spitzenreiter bei Stickoxid-Ausstoß überholt. Der Umstieg auf Bus, Bahn und Tram in der bundesweit am stärksten Feinstaub belasteten Stadt - eigentlich eine logische Folge, fordert unter anderem Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter. Nur der ist vielen Bürgern zu teuer.
    Sozialverbände wie die Münchner Arbeiterwohlfahrt und die VDK kritisieren die Tarifstruktur des Münchner Verkehrsverbundes scharf. Den Aufruf der anarchischen Kampagne "Fahr' Scheinfrei", zum Fahren ohne Fahrschein in München, lehnen sie "jedoch entschieden ab, da es sich um eine Straftat handelt", so das Statement gegenüber dem Deutschlandfunk.
    Alternativ eine Art GEZ-Gebühr oder ein Euro pro Tag
    Warum ist das nicht anders finanzierbar, fragt Green-City-Experte Andreas Schuster. Ideen gebe es genug in ganz Europa. Zum Beispiel:
    "Man macht eine Umlage ähnlich der GEZ-Gebühr. Wenn man sagt, das ist eben der Verkehr, der jedem Deutschen zur Verfügung steht und deswegen ist er kostenlos, wird aber dann per Umlage finanziert. Oder was ich persönlich sehr interessant finde ist das Wiener Modell."
    Bei den österreichischen Nachbarn kostet eine Jahreskarte seit der Tarifreform 365 Euro bis in die Außenbezirke, ein Euro pro Tag, das müsste doch machbar sein, so Schuster. In Wien würden die Verkehrsbetriebe viel stärker vom Staat unterstützt kontert SWM-Sprecher Korte.
    Nahverkehr am Kapazitäts-Limit
    Die Fahrgäste an der Münchner Pocchistrasse finden die Schwarzfahr-Kampagne zwar interessant:
    "Ja, natürlich sagt man da nicht nein, nur ich würde mich dann fragen wie das funktioniert, dass es finanziert wird."
    "Fahrscheinfreier ÖPNV? Und wovon sollen die sich dann finanzieren? Ich wäre dafür, dass die Preise günstiger werden, aber ganz frei? Wer soll das dann zahlen? Der Steuerzahler?"
    Paradoxerweise muss auch Green-City-Experte Schuster von kostenlosem Nahverkehr abraten. Die München U-Bahnen und Tram seien sowieso bereits am Limit, noch mehr Fahrgäste seien gar nicht wünschenswert.