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Fake News
Historische Falschnachrichten und Gerüchte

Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter, in dem Wahrheit und Lüge immer weniger unterschieden werden, so die gängige Meinung. Dabei ist das Phänomen Falschnachricht nicht neu, wie Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff in ihrem Buch "Fake News machen Geschichte" belegen können.

Von Brigitte Baetz | 30.10.2017
    Würfel bilden den Schriftzug "Fake News" auf einer Computer-Tastatur (im Hintergrund). Das Buchcover (im Vordergrund)
    Die Autoren haben elf Fälle aus dem 20. und dem 21. Jahrhundert ausgewählt, um zu zeigen, wie Falschinformationen "im Spannungsfeld zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit" funktionieren. (imago/Steinach und & Ch. Links Verlag)
    1950: die Landwirtschaft der DDR leidet unter einer Kartoffelkäferplage. Doch wer ist dafür verantwortlich? Die Amerikaner, sagt die Regierung in Ostberlin. Ernst Goldenbaum, Minister für Land- und Forstwirtschaft:
    "Es widerspricht allen Erfahrungen der Wissenschaft und auch der Praxis, dass Kartoffelkäfer in den Gebietskreisen in Sachsen in so starkem Maße auftreten. Dazu kommt, dass die Käfer auch in so großen Massen auch auf den Marktplätzen der Städte zu finden waren. Die gefundenen Käfer sind außerdem voll ausgewachsen. Es ist vollkommen unnormal, dass die gefundenen Kartoffelkäfer bei dem herrschenden Unwetter mit lang anhaltendem Regen überhaupt fliegen konnten. Die Feststellung über das Auftauchen amerikanischer Flugzeuge lässt nur den Schluss zu, dass Kartoffelkäfer abgeworfen worden sind."
    Eine gezielt verbreitete Desinformation, die auf fruchtbaren Boden fällt, denn die Luftbrücke der Amerikaner ist noch im Gedächtnis verankert. Wenn die USA die Bevölkerung in Westberlin aus der Luft mit Nahrungsmitteln versorgen konnten, warum sollten sie nicht der Bevölkerung in der DDR auch aus der Luft schaden wollen? Wie die beiden Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff in ihrem Vorwort zu Recht schreiben, geben Falschmeldungen, Gerüchte oder "Fake News" Auskunft darüber, was in einer bestimmten historischen Situation als vorstellbar erscheint.
    "Ernstgenommene Falschmeldungen und Gerüchte sind ein geeignetes Instrument zur Analyse vergangener Wirklichkeit. (…) Für den Historiker stellt eine Falschmeldung, die als Gerücht in die Öffentlichkeit gelangt und wegen ihrer Folgen greifbar wird, ein Zeugnis dar: ein Zeugnis, das nicht Auskunft gibt über das, was ein Zeuge tatsächlich sah, sondern über das, was zu sehen er für selbstverständlich oder wahrscheinlich hielt."
    Die Autoren haben elf Fälle aus dem 20. und dem 21. Jahrhundert ausgewählt, um zu zeigen, wie Falschinformationen "im Spannungsfeld zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit" funktionieren. Fatal wirkten sich beispielsweise 1933 die Gerüchte über einen bevorstehenden Staatsstreich der Reichswehr aus. Reichspräsident Hindenburg hätte den ihm unsympathischen Hitler möglicherweise nicht ernannt, hätte es dieses Raunen nicht gegeben. Ein Beispiel, schreiben Keil und Kellerhoff, für nicht gezielt gestreute Desinformation, für Gerüchte, die sich aus einer unübersichtlichen Lage ergaben.
    Fallbeispiel Kosovo
    Wie sich die Politik selbst in ihren eigenen Falschinformationen verstrickte, legen sie anhand der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg dar.
    Der damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping:
    "Ich möchte Ihnen ausdrücklich für morgen ankündigen, eine genaue Analyse dessen, was sich auf der Grundlage des Operationsplanes Hufeisen (…) im Kosovo vollzogen hat. Er zeigt sehr deutlich, dass in klar erkennbaren Abschnitten die jugoslawische Armee, die jugoslawische Staatspolizei begonnen hat in der Zeit von Oktober 1998 bis zum Beginn der Verhandlungen in Rambouillet, die Vorbereitungen für die Vertreibung der Bevölkerung nicht nur zu treffen, sondern diese Vertreibung auch schon begonnen hat. Er zeigt zudem sehr deutlich das systematische und ebenso brutale und mörderische Vorgehen, das seit Oktober 1998 geplant und seit Januar 1999 ins Werk gesetzt worden ist."
    Rudolf Scharpings Vorstellung eines angeblichen serbischen "Hufeisenplans", dessen Echtheit bis heute nicht bewiesen wurde, legitimierte nachträglich den NATO-Angriff auf Jugoslawien, der ohne UN-Mandat durchgeführt worden war - der ersten Beteiligung von deutschen Truppen an einem Kampfeinsatz seit 1945. Die Medien, so die Autoren Keil und Kellerhoff, nahmen die Darstellung der Regierung, nach der ein Genozid an den Albanern drohte, weitgehend ungeprüft hin.
    "Nahezu alle Medien ordneten den ‚Hufeisenplan‘ bei der Berichterstattung wie selbstverständlich in den tatsächlichen Handlungsablauf der Vorkriegs- und Nachkriegszeit ein. Zweifel an der Authentizität gab es angesichts der Flüchtlingsbilder nicht; vielfach wurde die offizielle Sprachregelung übernommen."
    Viele Fakten, wenig Analyse
    Doch Fälschungen und Gerüchte müssen nicht immer nur negative Folgen haben. Als Positivbeispiel führen die Autoren die Garantie deutscher Sparanlagen zu Beginn der Finanzkrise an. Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück hatten dazu extra eine gemeinsame öffentliche Erklärung gegeben - in einem sehr allgemeinen Ton, der nicht klar machte, welche Einlagen denn nun wirklich sicher seien. Doch die Wirkung war die erwünschte: die Deutschen räumten ihre Bankkonten nicht. Wie und warum es genau zu dieser gemeinsamen Erklärung kam – die Autoren legen mehrere mögliche Versionen dar – und zeigen damit unfreiwillig auch die Schwäche ihres Buches: durch die extreme Faktendichte gerät die Analyse in den Hintergrund. Gerüchte, Lügen, Falschmeldungen werden gleich gesetzt, obwohl es doch vollkommen getrennte Sachverhalte sind. Damit befinden sich Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff allerdings auf der Höhe der öffentlichen Debatte um "Fake News", die diese Unterscheidung leider auch nicht trifft. Ihr Buch ist gut geschrieben und lesenswert aufgrund der ausführlich geschilderten Fallbeispiele – eine systematische historische Aufarbeitung steht allerdings noch aus.
    Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: "Fake News machen Geschichte. Gerüchte und Falschmeldungen im 20. und 21. Jahrhundert"
    Ch. Links Verlag, 340 Seiten, 18,00 Euro