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Fall Böhmermann
Ex-Intendant Nowottny: Auch Erdogan ist ein Mensch

Der Journalist und ehemalige WDR-Intendant Friedrich Nowottny hat die Satire von Jan Böhmermann über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan kritisiert. Im Deutschlandfunk nannte er sie geschmacklos. Dass Kanzlerin Merkel die Satire als bewusst verletzend bezeichnet habe, ist für Nowottny "ein Gefühl, das ich nachvollziehen kann".

Friedrich Nowottny im Gespräch mit Christine Heuer | 05.10.2016
    Der ehemalige Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR), Friedrich Nowottny,
    Der Journalist und ehemalige Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR), Friedrich Nowottny (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Nowottny findet, dass der gute Geschmack überstrapaziert worden sei. Ein Fan von Böhmermann sei er nicht, sagte er im Deutschlandfunk: "Es ist schwierig, ein Fan zu sein, wenn jemand seine Meinung als alleinig gültige in den Mittelpunkt der Diskussion stellt." Die Satire sei ohne Frage ein Schmähgedicht gewesen, findet Nowottny. Er erinnerte an Artikel 1 Grundgesetz, demzufolge die Würde des Menschen unantastbar sei. "Auch dieser Staatsmann in der Türkei, der uns quer im Magen liegt, ist irgendwo ein Mensch, und gelegentlich sollte man Rücksicht darauf nehmen", sagte Nowottny im Deutschlandfunk.
    Durch die Ermittlungen gegen Böhmermann sei der Rechtsstaaat nie gefährdet gewesen. Die Meinungsfreiheit sei dagegen ständig gefährdet, sagte Nowottny und schlug einen Bogen zu den Pöbeleien gegen Politiker bei den Feierlichkeiten in Dresden am Tag der Deutschen Einheit. Auch dort habe er sich ein juristisches Eingreifen gewünscht "gegen die unsäglichen Beleidigungen und Schmähungen, die Politiker dort als völlig selbstverständlich, so scheint es, hingenommen haben".
    "Woran liegt es, dass die rechte Flanke der Bundesrepublik frei und offen und für jedermann zugänglich ist und ein Ton einreißt in der politischen Auseinandersetzung, der in den Jahren vor 1933 in der von Hitler sogenannten 'Kampfzeit' üblich schien? Woran liegt das?" Darüber solle man sich Gedanken machen, so Nowottny.
    Das Parlament sei ja im Vergleich zu den Aufbaujahren der Bundesrepublik richtig zahm geworden. "Und jetzt reißt wiederum ein Ton ein, das verdanken wir den Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus Sachsen und anderen Teilen der Republik und jenen, die Gewalt gegen Flüchtlinge einsetzen. Der Ton ist heute ein ganz anderer, er hat sich völlig verlagert."

    Christine Heuer: Riesenaufregung, Toben im Blätterwald, vielstimmiger Meinungsorkan in den sozialen Medien: Der EU-Türkei-Deal auf der Kippe, oder doch eher die Kunst- und Redefreiheit in Deutschland? Im Frühjahr sorgte das "Schmähgedicht" auf Recep Tayyip Erdogan von Jan Böhmermann für heftige Diskussionen. Der türkische Präsident verklagte den deutschen Satiriker wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes, die deutsche Kanzlerin gab dazu die Ermächtigung, das ZDF nahm Böhmermanns umstrittenen Beitrag voller Obszönitäten sofort aus der Mediathek. Und nun also das: Die Mainzer Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen Jan Böhmermann eingestellt. - Am Telefon ist der Journalist und langjährige WDR-Intendant Friedrich Nowottny, ein erfahrener Beobachter von Politik und Medien. Guten Morgen.
    Friedrich Nowottny: Ich grüße Sie! Guten Morgen.
    Heuer: Es gibt viel Lob für die Staatsanwaltschaft Mainz und große Erleichterung allenthalben. Sind Sie auch froh, dass das Böhmermann-Verfahren eingestellt ist?
    Nowottny: Nein. Warum sollte ich froh sein? Dieses Böhmermann-Verfahren ist in der Welt und wir müssen damit leben. Und ich muss sagen, es gibt außerordentlich viele Momente, in denen Staatsanwaltschaften und Richter eingreifen könnten. Wenn ich an Dresden und die Ereignisse dort denke, dann muss ich feststellen, dass niemand juristisch eingegriffen hat gegen die unsäglichen Beleidigungen und Schmähungen, die die Politiker dort als völlig selbstverständlich, so scheint es, hingenommen haben.
    "Der Rechtsstaat war nie gefährdet"
    Heuer: Aber ist es nicht eigentlich ein Sieg für den Rechtsstaat, was da passiert ist in der Causa Böhmermann, und eine Schlappe für Erdogan?
    Nowottny: Der Rechtsstaat war nie gefährdet. Die Meinungsfreiheit ist ständig gefährdet, wenn Sie so wollen. Sie ist in einem permanenten Prüfungsprozess. Denn jeder versucht, irgendwann mal seine Meinung aus dem Rahmen fallen zu lassen, in dem normalerweise Meinungen gesagt werden können. Nun war ja Böhmermanns Gedicht zunächst einmal eine Satire und die darf ja bekanntlich alles. Aber es wurde dann von ihm umgearbeitet, jedenfalls vom Titel her, zu einem 'Schmähgedicht', ohne dass sich am Inhalt etwas verändert hat. Es war in der Tat ein Schmähgedicht, ganz ohne Frage.
    Heuer: Aber eingebettet in Satire. So sieht das ja jetzt die Mainzer Staatsanwaltschaft. Und da stellt sich die Frage, Sie sagen es selber: Satire darf alles. Vielleicht war es ein Fehler des ZDF, dass der Beitrag von Jan Böhmermann sofort aus der Mediathek gelöscht wurde und auch aus den Sozialen Medien?
    Nowottny: Ja wissen Sie, das mit dem Löschen hinterher und Herausnehmen aus den Sozialen Medien ist so eine Sache. Normalerweise wird ja in Redaktionen nicht ein einsamer Kabarettist oder was oder Satiriker frei laufen gelassen. Man hat ja Redakteure und verantwortliche Menschen, die für ihr Gehalt auch Verantwortung tragen müssen, auch für Schmähgedichte, die vor der Sendung darüber schauen und mit dem Autor reden. So kenne ich das jedenfalls aus meiner journalistischen Vergangenheit. Das ist da offenbar nicht so gewesen. Das ZDF hat so reagiert, wie man reagiert, wenn der dicke Hammer einem auf dem Frühstückstisch liegt.
    "Geschmackssituation ist massiv belastet worden"
    Heuer: Das ZDF, die Redaktion dort hätte früher eingreifen und etwas ändern oder den Beitrag gleich ganz aus dem Programm nehmen sollen vor der Ausstrahlung?
    Nowottny: Das liegt an den Programmrichtlinien des Senders, die ich nicht im Kopf habe. Aber die allgemeine Geschmackssituation ist in diesem Stück massiv belastet worden.
    Heuer: Ein Fan sind Sie nicht von Jan Böhmermann?
    Nowottny: Wissen Sie, es ist schwierig, ein Fan zu sein, wenn jemand seine Meinung als alleinig gültige in den Mittelpunkt der Diskussion stellt.
    "Die Kanzlerin hat als die Bürgerin Merkel gesprochen"
    Heuer: Angela Merkel wurde angegriffen, weil sie das Verfahren zugelassen hat, und auch vor allen Dingen, weil sie das Gedicht öffentlich bewusst verletzend genannt hat. Sie waren ja auch lange politischer Beobachter von Regierungen in der Bundesrepublik. Hat die Kanzlerin da einen schweren Fehler gemacht?
    Nowottny: Nein. Die Kanzlerin hat als die Bürgerin Merkel gesprochen. Das tut sie eigentlich ganz, ganz selten.
    Heuer: Geht das?
    Nowottny: Wenn überhaupt, hat sie diesmal als Bürgerin gesprochen und hat sich verletzt gefühlt, und das ist ein Gefühl, das ich nachvollziehen kann.
    Heuer: Über die Freiheit der Kunst lässt sich offensichtlich nicht streiten. Das gibt die jüngste Entwicklung auch in der Causa Böhmermann her. Aber über guten Geschmack schon. Ich höre deutlich bei Ihnen: Sie finden, der ist da überstrapaziert worden?
    "Auch dieser Staatsmann ist irgendwo ein Mensch"
    Nowottny: Wenn Sie mich so fragen, kann ich nur sagen: Ja, er ist überstrapaziert worden. Denn wie heißt der erste Artikel des Grundgesetzes? - Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und auch dieser Staatsmann in der Türkei, der uns quer im Magen liegt, ist irgendwo ein Mensch und gelegentlich sollte man Rücksicht darauf nehmen. In der politischen Auseinandersetzung sowieso. Auch in der Auseinandersetzung Volk und Politik sollte man das bedenken und das sollten auch jene bedenken, die zum Beispiel in Dresden zu Tausenden versucht haben, dort einen Hauch von zivilisatorischem Umgang miteinander im Auge zu behalten.
    Heuer: Herr Nowottny, den Bogen wollte ich gerade schlagen. Der Ton in der Republik hat sich ja insgesamt verändert. Woran liegt das?
    Nowottny: Das ist eine gute Frage, die niemand so richtig beantworten kann. Woran liegt es, dass es Pegida gibt? Woran liegt es, dass die rechte Flanke der Bundesrepublik frei und offen und für jedermann zugänglich ist und ein Ton einreißt in der politischen Auseinandersetzung, der in den Jahren vor 1933 in der von Hitler so genannten Kampfzeit üblich schien. Woran liegt das? - Darüber sollte man sich Gedanken machen. Das Parlament ist ja im Gegensatz zu den Aufbaujahren der Bundesrepublik richtig zahm geworden. In den Jahren nach 1948 war das Parlament eine Stätte parlamentarische harte Auseinandersetzung, die gelegentlich weit über die Üblichkeit des Umgangs miteinander hinausgegangen sind, und jetzt reißt wiederum ein Ton ein - das verdanken wir den Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus Sachsen und anderen Teilen der Republik und jenen, die Gewalt gegen Flüchtlinge ansetzen. Der Ton ist heute ein ganz anderer, er hat sich völlig verlagert.
    Heuer: Herr Nowottny, wie kann man das wieder ändern?
    Nowottny: Glauben Sie?
    Heuer: Ich hoffe es, aber ich frage Sie, ob Sie eine Idee haben, wie man das wieder verändern kann. Wie kann man diesem brutalen Ton begegnen?
    Nowottny: Jetzt kommt eine Sekunde der Stille in das Gespräch zwischen Ihnen und mir, weil ich das nicht weiß. Diesen Ton kann man nicht "par ordre du mufti", den kann man nicht von oben herab als nicht existent befehlen. Das ist eine Sache, die auch damit zusammenhängt, dass die Ratlosigkeit der Menschen nicht aufgefangen wird. Wie sollte sie auch, denn es ist ja nicht ganz einfach, ein Bürger der ehemaligen DDR zu sein, der alles hinter sich hat, was man hinter sich haben kann nach der Wiedervereinigung. Das ist schwierig!
    Heuer: Herr Nowottny, wir bleiben ein bisschen ratlos und wir denken alle gemeinsam weiter über diese vielen Aspekte nach, die wir gerade im Gespräch angesprochen haben.
    Nowottny: Ich fürchte, wir werden noch lange damit zu tun haben.
    Heuer: Friedrich Nowottny, der ehemalige WDR-Intendant. Danke fürs Gespräch.
    Nowottny: Danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.