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Fallgeschichten aus dem Alltag des Abstiegs

Der mit Abstand umstrittenste Methodiker der aktuellen Theaterszene zieht weiter seine Runden: Volker Lösch, seit etwa zehn Jahren Erfinder und Regisseur mehr oder weniger skandalträchtiger Chorprojekte, hat am Bremer Theater "AltArmArbeitslos" vorgestellt, eine zeitgenössisch-politische Version des alten Märchens von den Bremer Stadtmusikanten.

Von Michael Laages | 16.01.2012
    Wie jedes Kind ja weiß, sind Hund und Esel, Katze und Hahn nie angekommen am Ort der Träume, im Bremer Utopia. Stattdessen haben sie sich beschieden, sich - eingedenk des Sprichworts vom Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach - eingerichtet im Kompromiss. Statt weiterhin "Stadtmusikanten" in Bremen werden zu wollen, vertrieben sie eine Handvoll Diebsgesindel aus einem Räubernest im Walde und akzeptierten den gemütlichsten Ort auf dem Weg ins Traum- und Wunderland als Altenteil für den Rest der Tage, die ihnen blieben.

    Wer also wirklich darauf aus wäre, das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten ernst zu nehmen, als lohnend-zeitgenössische Bühnenfabel von und fürs Hier und Heute, der fände vor allem reichlich Material für eine Debatte über Wert und Nutzen von Utopie gegenüber einfacheren Bemühungen in der Praxis des Überlebens. Und eigentlich und vor allem deshalb ist es schade, dass den Theatermenschen Volker Lösch genau das so überhaupt nicht interessiert. Oder besser - und um nicht ungerecht zu wirken: Der Kern des Märchens interessiert ihn bestenfalls ganz im Rande, genauer: im Epilog.

    Da nämlich rezitieren die Mitglieder des Bremer Schauspielensembles im Chor der alt werdenden armen Arbeitslosen in Deutschlands Hauptstadt dieser Bevölkerungsgruppe Theorien und Strategien für die "Zeit danach", also: nach dem finalen Crash, dem schmerzen- und tränenreichen Ende des Kapitalismus, und am Beginn des Neuanfangs.

    Da reichen die Entwürfe vom alten Karl Marx bis zum ganz jungen "Communismus" - fein und mit "C" -, der Gemeinschaftlichkeit aller, wie sie junge Denker wie etwa Raul Zelik beschwören. Und da in der Tat ist das Modell aus dem Bremer Märchen gar nicht so weit - erstmal die Räuber aus dem Tempel treiben und dann wirklich unabhängig werden von fast allem!

    Aber wie gesagt: Dieses Denken taugt in Bremen für vier Minuten Epilog - zuvor ist eine weithin ärgerliche Spekulation mit den in der Tat todtraurigen Geschichten all jener Menschen zu ertragen, die am Ende womöglich durch alle sozialen Netze gefallen sein werden; von den "Hängematten" aus dem asozialen Wortschatz des Altkanzlers Kohl ganz zu schweigen.

    Wie fast immer in jüngerer Zeit haben Lösch und seine Leib-und-Magen-Dramaturgin Beate Seidel Fallgeschichten aus dem Alltag des sozialen und gesellschaftlichen Abstiegs gesammelt; und die unterscheiden sich unwesentlich von denen, die vor Jahren in Hamburg als Ergänzung zum "Marat/Sade"-Stück von Peter Weiss entstanden. Sogar einige Mitglieder aus dem damaligen Hartz-IV-Chor aus Hamburg sind jetzt in Bremen dabei. Mehr oder minder geschickt werden diese Geschichten mit der Märchen-Fabel verzahnt - Grimm also trifft auf Krupp und Konsorten.

    Und ähnlich werden Hund und Katze und Hahn eingeführt ins Text-Konstrukt, jeweils gesprochen von (vorsichtshalber) "echten" Schauspielern, die übrigens in Bremen wirklich etwas beizutragen haben zum Thema. Denn das Haus befindet sich im Intendanz-Wechsel, und von der neuen Leitung wurde zum Beispiel der Vertrag der Schauspielerin Eva Gosciejewicz nicht verlängert; ein neues Ensemble fand sie bislang auch nicht, und so steht sie ab Sommer vor der gleichen Situation wie jene Arbeitslosen, die ihr hier jetzt auf der Bühne vom "wirklichen Leben" erzählen.

    Wut und Zorn sind ihr anzumerken; auch darüber, dass ihr die aktuelle Theaterleitung keine "große" Rolle zum Abschied - und zum Vorzeigen - einräumte, sondern "nur Chor bei Lösch". Selten ist der Abend so authentisch wie in diesem Moment; andere Ensemblemitglieder sind unkündbar oder bleiben in Bremen, Eva Gosciejewicz fängt nach über 20 Jahren wie von vorne an.

    Aber das ist Schauspieleralltag - die Geschichten der Chor-Mitglieder speisen sich auch aus der Lebensenttäuschung, nach soundsoviel Jahren oder Jahrzehnten geleisteter guter Arbeit nun ernstlich nichts mehr Wert zu sein, erniedrigt ohne Ende, auf den Müll der Gesellschaft gekippt. Dieser unser aller Skandal bleibt unerträglich, auch wenn Volker Lösch kaum weniger erträgliches Theater daraus zimmert. Und Mut und Kraft und Selbstbehauptungswillen der von ihm auf die Bühne geholten Darsteller verdienen jede Hochachtung, überall und immerzu.

    Was nichts daran ändert, dass dieses Bremer Märchen an theatralischer Armseligkeit kaum zu überbieten ist. Zuerst schauen wir einem Wimmelbild des Büro- und Arbeitsalltags zu, mit lauter HB-Männchen drin, die schon ihre Tiermasken tragen und vorerst noch zwischen Schreibtisch und Regal, Telefon und Topfpflanze hin- und herrasen.

    Dann folgt der Märchen-Beginn, und zwei Ursula-von-der-Leyen-Imitate kümmern sich um die Alten: inklusive Fitnesstraining, Windeln und Zwangsernährung. Dann sitzen Chor und Ensemble auf der Bühne und erzählen ihre Geschichten, dann wird das "Räuberhaus" attackiert: das ist der Eiserne Vorhang, hinter dem dann eine jugendlich-tanzende Bande wütet und mitteilt, dass sie die ganze alte Truppe am liebsten abschaffen würde. Aha: Beginnt jetzt etwa die Generationen-Debatte? Nein, war nur so eine Idee.

    Dann wird Bürogestühl zerkloppt - zur Vertreibung der Räuber. Dann, wie gesagt der Epilog. Hätte das Bremer Theater dies alles - oder dies Nichts - als szenische Begleitung einer Tagung zum Thema angeboten - prima. Dies aber ist eine Schauspielpremiere im Großen Haus - das ist ein schlechter Witz. Etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden? Na klar! Im modischen Lösch-Theater allerdings nicht.