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Fallstricke der Liebe

Welch eine Pracht, welch ein Prunk, welch formvollendetes Gebaren! Ob im Boudoir der atemberaubenden jungen Witwe Marquise de Merteuil, im Salon ihrer weltgewandten Freundin Madame de Volanges oder auf dem Landsitz des verführerischen Vicomte de Valmont, überall regieren Glanz und Schönheit. Nicht nur die Pariser Interieurs des 18. Jahrhunderts ähneln Kunstwerken, auch der Alltag wird gestaltet wie ein Bühnenstück. Nach aufwendiger Toilette findet man sich bei einer Gastgeberin à la mode ein und betreibt gepflegte Konversation, spielt Karten, musiziert, besucht die Oper, schreitet zum Diner, lässt hier ein Bonmot fallen, stellt da seinen Esprit unter Beweis, philosophiert, diskutiert, parliert und zelebriert das Nichtstun. Von morgens bis tief in die Nacht hinein, Tag für Tag, jahraus, jahrein. Kein Wunder, dass unter der makellosen Oberfläche die Intrige gedeiht. Die Marquise de Merteuil schickt ihrem ehemaligen Geliebten, dem Vicomte de Valmont einen Brief.

Von Maike Albath | 16.11.2003
    Kehrt zurück, mein lieber Vicomte, kehrt zurück: was schafft Ihr, was habt Ihr zu schaffen bei einer alten Tante, deren gesamtes Hab und Gut Euch schon vermacht ist? Reist auf der Stelle ab; ich brauche Euch. Mir ist ein glänzender Einfall gekommen und ich will Euch gern mit seiner Ausführung betrauen. Diese wenigen Worte mögen genügen und, nur allzu beehrt mit meiner Wahl, solltet Ihr eilfertig herkommen und kniefällig meine Befehle entgegennehmen: aber Ihr missbraucht meine Gunst, sogar seit Ihr sie nicht mehr gebraucht; und vor die Wahl gestellt zwischen ewigem Hass und übermäßiger Nachsicht, will es Euer Glück, dass meine Güte obsiegt. Ich will Euch also doch von meinen Plänen unterrichten: aber schwört mir, dass Ihr als treuer Ritter auf kein anderes Abenteuer auszieht, bevor Ihr dieses nicht zu Ende gebracht habt. Es ist eines Helden würdig: Ihr werdet der Liebe und der Rache dienen. Madame de Volanges verheiratet ihre Tochter: das ist noch ein Geheimnis, aber sie hat es mir gestern mitgeteilt. Und wen, glaubt Ihr, hat sie als Schwiegersohn ausgewählt? Den Comte de Gercourt. Wer mir je gesagt hätte, dass ich die Cousine von Gercourt würde. Ich bin rasend vor Wut darüber...

    Dem Vicomte de Valmont, wegen unzähliger Frauengeschichten in ganz Paris verrufen, zeigt die Marquise de Merteuil ihr wahres Gesicht: unter dem Deckmantel der Witwenschaft hat sie sich eine ganze Garde von Liebhabern heran gezogen, die sie je nach Laune herbei zitiert oder in die Schranken weist. Wer sie langweilt oder verärgert, riskiert eine öffentliche Demütigung; das Gespött der klatschsüchtigen Salons und die gesellschaftliche Ächtung sind ihm sicher.

    Der Ruf der Marquise de Merteuil ist dennoch untadelig - niemand würde den geschassten Gespielen auch nur je ein Wort glauben. Einer allerdings hat sich ihr ungestraft entzogen und seine Gunst einer anderen Dame geschenkt: eben jener Comte de Gercourt, der jetzt die im Kloster erzogene Tochter ihrer Freundin Madame de Volanges heiraten soll. Der Comte de Gercourt vertritt altmodische Ansichten – er legt Wert auf eine unberührte Gattin. Ein willkommener Anlass für die Marquise de Merteuil, ihm in die Suppe zu spucken und sich für die einstige Schmach zu rächen: sie will das Vertrauen seiner kleinen Verlobten Cécile de Volanges gewinnen und sie auf ihren Eintritt in die Gesellschaft vorbereiten.

    Kein anderer als der Vicomte de Valmont soll dann der reizenden Cécile die Unschuld rauben und dafür von der Marquise de Merteuil mit einer Liebesnacht belohnt werden. Wenn das kein erotisches Komplott ist! Angesichts der ausgekochten Bosheit und der bodenlosen Heimtücke stockt einem auch noch zweihunderteinundzwanzig Jahre nach der Entstehung dieses fein gesponnenen Briefromans der Atem. Neben einer Vorbemerkung des Herausgebers halten wir nichts als die schriftlichen Erzeugnisse der Akteure in den Händen, die eine wechselvolle Dynamik entfalten und über Hunderte von Seiten die Spannung schüren: die weitschweifige, wortgewandte Korrespondenz zwischen der Marquise und dem Vicomte voller abgefeimter Pläne und Lageberichte, die naiven Ergüsse der kleinen Cécile, unbeholfen im Ausdruck, im Wechsel an ihre Schulfreundin und einen Verehrer gerichtet, ahnungslose Erkundungen ihrer Mutter, die ausgerechnet die Marquise de Merteuil bei allen Seelennöten konsultiert, sowie die tugendhaften Mahnungen der Präsidentin de Tourvel, einer verheirateten, sittenstrengen Dame, von dem unersättlichen Vicomte als neues Opfer auserkoren.

    175 Briefe, ergänzt durch die eine oder andere lakonische Fußnote, hat sich der Verfasser Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos ausgedacht und elegant miteinander verknüpft. Seine erzählerische Raffinesse stellt er nicht nur durch die ausgefeilte Konstruktion unter Beweis, auch die Vielfalt der sorgsam modulierten Stilebenen und Tonlagen schlägt den Leser in den Bann. Choderlos de Laclos’ Zeitgenossen allerdings war die literarische Brillanz gleichgültig, für sie ging es einzig und allein um den pikanten Inhalt. Die Gefährlichen Liebschaften wurden zu einem Skandalerfolg: im Frühjahr 1782 erschien nur unter den Initialen des Urhebers die erste Auflage und war innerhalb von vier Wochen vergriffen, so begierig stürzte sich die französische Aristokratie auf die entlarvende Gesellschaftsstudie. Man las das Buch als Schlüsselroman: elektrisiert, empört und heimlich verzückt studierte jeder Marquis, jeder Vicomte, jeder Chevalier, der etwas auf sich hielt, Laclos’ Briefe, vermeinte sich selbst zu erkennen und verhalf dem Urheber zu großer Berühmtheit. Acht weitere Auflagen folgten noch im ersten Jahr der Veröffentlichung, Raubdrucke verbreiteten das Werk bis in den hintersten Winkel Europas.

    Sogar die Königin verschaffte sich ein Exemplar und ließ es kostbar einbinden, allerdings ohne den verräterischen Titel. Laclos hatte mit Gerüchten zu kämpfen: Hinter dem skrupellosen Vicomte de Valmont vermutete man ein Selbstporträt des Autors und sperrte Töchter und Ehefrauen weg, sobald sich der brave Choderlos de Laclos ihren Häusern näherte. Denn was erfahren die Leser der Gefährlichen Liebschaften über den vergnügungssüchtigen Vicomte? Amüsiert nimmt der Frauenheld den amourösen Schlachtplan der Marquise zur Kenntnis, fühlt sich in seinen Verführungskünsten mit dieser Aufgabe jedoch eher unterfordert. Die spröde Madame de Tourvel, treue Ehefrau und Kirchgängerin, das wäre ein anderes Kaliber! Er verspricht der Marquise de Merteuil, noch binnen Jahresfrist Madame de Tourvel zu erobern und den Fall Cécile de Volanges nebenbei zu erledigen. Die Tugendhaftigkeit der Präsidentin de Tourvel und ihre viel beschworene sittliche Reife stacheln seinen Ehrgeiz an:

    Ich werde diese Frau bekommen; ich werde sie dem Ehemann fortnehmen, der sie entweiht: ich werde mich unterstehen, sie sogar dem Gott zu entreißen, den sie anbetet. Welch ein Genuss, wechselweise der Gegenstand und der Besieger ihrer Gewissensbisse zu sein. Mir liegt der Gedanke fern, die Vorurteile zu zerstören, die sie umlagern! Sie werden mein Glück und meinen Ruhm noch steigern. Mag sie an die Tugend glauben, wenn sie sie mir nur opfert; mag ihre Schuld sie entsetzen, ohne sie aufhalten zu können und überwinden soll sie sie nur in meinen Armen. Dann soll sie mir sagen und ich will’s zufrieden sein: "Ich bete sie an"; sie allein unter allen Frauen wird würdig sein, dieses Wort auszusprechen. Dann bin ich wahrhaft der Gott, dem sie den Vorzug gegeben hat. Seien wir aufrichtig; in unseren ebenso kaltsinnigen wie leichtfertig abgekarteten Händeln ist das, was wir Glück nennen, schwerlich ein Vergnügen. Soll ich es Euch sagen? Ich hielt mein Herz schon für vertrocknet, und da ich in mir nur noch Sinnenlust gewahrte, beklagte ich schon mein vorzeitiges Altern. Madame de Tourvel hat mir die bezaubernde Illusion der Jungend wiedergegeben. Bin ich ihr nah, brauche ich sie gar nicht zu besitzen, um glücklich zu sein. Mich erschreckt einzig die Zeit, die mich dieses Abenteuer kosten wird; denn ich wage nichts dem Zufall zu überlassen.

    Der Vicomte ist auf alle Eventualitäten vorbereitet, nur in der Einschätzung seiner Spießgesellin sollte er einen folgenschweren Fehler begehen. Eine Gelegenheit, die distinguierten Umgangsformen und frivolen Machenschaften der höheren Gesellschaftsschichten eingehend zu studieren, bot sich Choderlos de Laclos während seines siebenjährigen Garnisonsdienstes in Grenoble. Gelangweilt und wegen mangelnder militärischer Herausforderungen verdrossen, verkehrte der arbeitslose Artillerieoffizier in den besten Kreisen, beobachtete die Gepflogenheiten und sammelte Material.

    Als man entgegen seiner Hoffnung auch 1779 im Krieg gegen England keine Verwendung für ihn fand, münzte er seine Enttäuschung in gnadenlose Gesellschaftskritik um und verfasste die Gefährlichen Liebschaften . Ein Motto aus Rousseaus La nouvelle Héloïse steht dem Roman voran: "Ich sah die Sitten meiner Zeit/ Und machte diese Briefe bekannt". Der Briefroman hatte im Zuge einer neuen Gefühlskultur mit Richardson und Rousseau in ganz Europa Furore gemacht, aber Laclos gibt dem Genre eine eigene Prägung und weiß die Möglichkeiten der Perspektivspaltung und Figurenzeichnung vollends auszuschöpfen. Durch die Form des Briefes fühlt man sich unmittelbar eingebunden in die Intrige der zynischen Komplizen, die nur aus Machtwillen, Sadismus und grausamer Eitelkeit heraus handeln. Ein kommentierender Erzähler hätte die Brisanz der zerrütteten Zustände am Vorabend der Revolution nur entschärft – der Originalton der Akteure spricht für sich.

    Doch was war aus den Idealen der einst so hoch gerühmten Salons geworden? Schon unter Heinrich IV. hatte man dem französischen Adel administrative und militärische Aufgaben entzogen, gleichzeitig waren ihm per Gesetz Handel und Geschäfte verboten. Es galt also, die eigene soziale Funktion neu zu definieren und sich einen unabhängigen Einflussbereich jenseits des Hofes zu schaffen. Im 17. Jahrhundert verlagerten sich die Aktivitäten in den Bereich des Privaten, vor allem in den neuen Salons war man mit der Inszenierung des Schönen beschäftigt und darum bemüht, das Leben in ein elegantes Spiel umzuformen. Von berühmten Damen wie Madame de Rambouillet, Madame de Sévigné oder Madame de La Fayette geleitet, hatten die Salons mit ihrem Kult der Konversation, ihrem Streben nach Harmonie, ihren austarierten Regeln und Gesetzen eine zivilisatorische und erzieherische Wirkung und wurden zu bedeutenden Institutionen. Hundert Jahre später allerdings war diese Kultur ausgehöhlt und jeden Inhalts beraubt.

    Übrig blieb nur der Stil. Die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmont sind die Repräsentanten einer depravierten "bonne compagnie", Produkte einer pervertierten Salonkultur. Der Müßiggang und der verfeinerte Lebensstil ist durchdrungen von tiefem Immoralismus. Aber der Vicomte und die Marquise wissen sich auf höchstem Niveau zu unterhalten und tauschen Schriftstücke voller Sottisen und stilistischer Glanzleistungen aus. Den jeweiligen Umständen entsprechend, jonglieren sie mit verschiedenen Masken. Ihrer jugendlichen Vertrauten Cécile de Volanges gegenüber mimt die Marquise die mütterliche Freundin und erfahrene Frau von Welt, ihre Mutter Madame de Volanges wird mit einfühlsamen Ratschlägen bedacht, einem zukünftigen Liebhaber schickt sie geheimnisvolle und aufreizende Worte. Der Vicomte steht seiner Bundesgenossin in nichts nach: während er der Marquise sein eiskaltes Gemüt und den immerwährenden erotischen Hunger nicht verheimlicht, spielt er der Präsidentin de Tourvel den kopflosen Verliebten vor, der durch sie auf den Pfad der Tugend zurück fand und imitiert sogar den empfindsamen Briefstil der Präsidentin.

    Ein weiser Mann hat gesagt, um seine Furcht zu zerstreuen, genüge es beinahe immer, ihre Ursache zu ergründen. Und gerade in der Liebe kommt diese Wahrheit zur Anwendung. Liebt nur, und schon werden Eure Ängste vergehen. Anstelle der Gespenster, die Euch schrecken, werdet Ihr ein köstliches Gefühl und einen zärtlich ergebenen Geliebten finden und alle Eure Tage, die künftig vom Glück gezeichnet sind, werden Euch keine andere Reue übriglassen, als so manche davon in Gleichgültigkeit vertan zu haben. Ich selbst, seit ich meine Irrtümer einsah, lebe nur noch der Liebe (sic!), ich bereue eine Zeit, die ich in Vergnügungen glaubte zugebracht zu haben, und spüre, dass es bei Euch allein liegt, mich glücklich zu machen. Aber ich bitte Euch inständig, dass mir die Freude, die ich darin finde, Euch zu schreiben, nicht mehr getrübt werde durch die Furcht, Euch zu missfallen. Ich möchte Euch nicht ungehorsam sein: aber auf Knien erflehe ich von Euch das Glück, dass Ihr mir rauben wollt, das einzige, das Ihr mir gelassen habt: ich rufe Euch zu: Erhört mein Flehen und seht meine Tränen. Ach! Madame, werdet Ihr es mir versagen?

    Der Vicomte benutzt Gefühle wie Waffen, dosiert die Schmeicheleien, setzt auch die eigenen Emotionen taktisch ein und kann jede Regung seines Opfers steuern. Wie ein Feldherr arbeitet er mit gedeckten Vorstößen und kalkulierten Rückzügen und sieht nicht nur die schriftlich vertretene Reaktion seiner verehrten Präsidentin de Tourvel voraus, sondern berechnet auch den wahren Zustand ihrer Seele und bemisst danach seine kommenden Schritte. Schon bald spricht aus den verzweifelten Zurückweisungen Madame de Tourvels und den Versuchen, ihre Tugend zu verteidigen, die Sehnsucht, verführt zu werden. Valmont erkennt das – und dieser innere Prozess macht die Lektüre der Gefährlichen Liebschaften bis heute so aufregend. Trotz aller Abgebrühtheit spürt der Vicomte das Unbewusste seiner Angebeteten; es ist der Zielpunkt seiner Strategien. Aus der reservierten, ehrbaren Ehefrau wird ein kopflose, begehrende Frau. Sie sucht Rat bei der Tante des Vicomtes.

    Ihr werdet recht erstaunt sein, Madame, wenn Ihr erfahrt, dass ich so Hals über Kopf abgereist bin. Dieser Schritt wird Euch sonderbar vorkommen: aber Eure Verwunderung wird zunehmen, wenn Ihr die Gründe dafür erfahrt! Was soll ich Euch nun sagen? Ich liebe, ja, bis zur Verzweifelung liebe ich. O, dieses Wort, das ich zum ersten Mal niederschreibe, dieses so oft erbetene und nie gewährte Wort, ich gäbe mein Leben für die Wonne, es nur ein einziges Mal den hören zu lassen, der es mir eingibt, und dennoch muss ich es verweigern! Er wird wiederum an meinen Gefühlen zweifeln, wird glauben, Grund zur Klage zu haben. Ich bin so unglücklich! Warum fällt es ihm nicht ebenso leicht, in meinem Herzen zu lesen wie darin zu herrschen? Ja, ich litte weniger, wenn er wüsste, was ich alles leide; doch selbst Ihr, der ich es sage, werdet nur noch eine schwache Vorstellung davon haben.

    Natürlich ist die Präsidentin de Tourvel dem Verführungsrepertoire des Vicomtes nicht gewachsen und gibt sich ihm schließlich hin. In seiner Machtbesessenheit zeigt er ihr am Ende sein wahres Gesicht, womit er sie zerstört – allerdings lässt Choderlos de Laclos offen, ob Valmont im hintersten Winkel seines verkommenen Herzens nicht doch von der Unschuld und Reinheit der Präsidentin tief berührt ist. Für die Präsidentin bedeutet der Sieg Valmonts den Zusammenbruch ihres moralischen Selbstbildes; sie zieht sich in ein Kloster zurück und stirbt. Als Valmont von der Marquise de Merteuil die versprochene Liebesnacht einfordert, diese aber seine andauernde Verbundenheit mit der Präsidentin spürt, weist sie ihn zurück.

    Valmont hat seine Verbündete, die Marquise de Merteuil unterschätzt: sie ist eine Machiavellistin der Erotik. Auch Valmont ist nur eine Figur in ihrem Spiel, kühl wird er zu Fall gebracht - in einem Duell, bei dem er selbstverständlich unterliegt. Aber bei der Marquise de Merteuil handelt es sich nicht nur um eine schillernde Personifikation des Bösen. Im 81. Brief deckt sie ihre Taktik auf: in einer von Männern beherrschten Welt muss sie anders als der Vicomte den Schein der Konvention wahren und hat sich deshalb seit ihrer Jugend in der Kunst der Verstellung geübt. Will sie allein und unabhängig leben, kann sie sich wahre Gefühle nicht leisten. Die Marquise widersetzt sich letzten Endes nur Valmonts Machtanspruch – hätte sie ihm das versprochene Rendezvous gewährt, wäre sie Gefahr gelaufen, die Kontrolle zu verlieren. Als Zugeständnis an seine Zeit bestraft Choderlos de Laclos die Marquise dann doch: kompromittiert durch die Briefe Valmonts erleidet sie den sozialen Tod, erkrankt außerdem noch an Blattern und bleibt bis an ihr Lebensende entstellt. Ein brutaler Schlussakkord für Laclos’ Sittenbild des Ancien regime, der das Ende dieser dekadenten Gesellschaftsschicht schon vorweg nimmt.

    Neben Heinrich Manns sehr gelungener Übersetzung und zwei weiteren Übertragungen von Renate Briesemeister und Hans Kauders liegt jetzt beim Hanser Verlag eine Neuübersetzung des Klassikers von Wolfgang Tschöke vor. War das notwendig? Wer das Original zu Rate zieht, wird diese Frage bejahen, denn Wolfgang Tschöke ist ein sorgfältiger Philologe und ein großer Stilist. Er hat die französischen Stillagen studiert, sie historisch eingeordnet und für jeden Akteur ein entsprechendes deutsches Idiom erfunden. Auf diese Weise erhält jede Figur eine unverwechselbare Stimme. Die Masken des Vicomte de Valmont spiegeln sich in seiner nachahmenden und parodierenden Schreibweise.

    Der Marquise pariert er mit rhetorischer Brillanz, doch das Artifizielle seiner Prosa verrät seine seelische Erstarrung. Die Marquise de Merteuil ist abwechslungsreicher und knapper in ihrer Ausdrucksweise, ihre Sprache entspricht derjenigen, die in den damals weit verbreiteten Damengrammatiken empfohlen wurde – es ist die einer aufgeklärten Frau auf der Höhe ihrer Zeit mit Anklängen an Rousseau. Die Präsidentin de Tourvel pflegt einen Stil, wie wir ihn aus der pietistischen Erbauungsliteratur kennen, zurückhaltend und angereichert mit biblischen Zitaten, während die kleine Cécile de Volange eine nicht ganz fehlerfreie, spontane Ausdrucksweise an den Tag legt. Ihr Vokabular ist beschränkt, auch syntaktisch dominiert die Wiederholung. Wolfgang Tschöke schafft es also, die Gesellschaftsschicht der Gefährlichen Liebschaften sprachlich zu porträtieren. Wenige Jahre später sollten die Adligen auch noch in den Verliesen die Kunst der Konversation betreiben und sich, sorgfältig gekleidet, auf den Gefängnisgängen mit Dichtung und Tanz die Zeit vertreiben. Höflich und formvollendet schritten sie zur Guillotine, an dem einzigen festhaltend, was ihnen geblieben war: den guten Manieren.

    Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos
    Gefährliche Liebschaften. Oder Briefe gesammelt in einer Gesellschaft und veröffentlicht zur Unterweisung einiger anderer
    Aus dem Französischen von Wolfgang Tschöke
    Hanser, 542 S. , EUR 27, 90