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Falsches Familienidyll

Auf den ersten Blick wirkt das Leben im süddänischen Städchen Gram idyllisch. Es gibt eine Schule, einen Metzger, zwei Krämer und einen Friedhof. Doch damit bekommt die Idylle schon einen Riss, denn der örtliche Milchmann, zugleich einer der beiden Kramladenbesitzer, schwingt gerne große Reden auf Beerdigungen. Er kann herzzerreißender predigen als der Pastor, und je mehr Leute dabei in Tränen ausbrechen, desto besser fühlt er sich.

Von Florian Felix Weyh | 23.12.2008
    Totenfeiern sind ihm wichtiger als alles andere, zumal - kleiner Randeffekt - ein gelungene Rede zusätzliche Kunden in seinem Laden führt; man honoriert die empfundene Rührung auf diese Weise. So nimmt es der elfjährige Sohn des Grabredners, der dem Vater bei jeder Totenfeier assistiert, als Selbstverständlichkeit, dass der Tod Höhepunkt und Krönung eines sonst eintönigen Landlebens ist - und zugleich das tägliche Brot sichert.

    Mit Kinderaugen betrachtet wirkt die Welt meist heil. Doch kann es normal sein, dass ein Elfjähriger von seiner Tante ausführlich geschildert bekommt, wie seine Eltern versuchten ihn abzutreiben? Sprengt es nicht jede Idylle, wenn nicht nur der Vater seine Kinder verprügelt, sondern auch umgekehrt der älteste Sohn den Vater übers Knie legt? Und ist der Grund dafür nicht ganz besonders erschreckend, scheint sich der Vater doch an seiner fünfzehnjährigen Tochter vergriffen zu haben?

    Das Kindheitspanorama im Roman "Die Kunst im Chor zu weinen" erspart dem Leser nichts vom Schrecken aus der gemeinen Familienhölle in den frühen 60er-Jahren, aber es ist ganz anders, als man es von vergleichbaren literarischen Erzeugnissen her kennt, nicht zuletzt von denen der Bühne. Der dänische Dramatiker und Romancier Erling Jepsen hat die inflationären, lauten und grellen Missbrauchsstücke der letzten zehn Jahre ganz offensichtlich als Mahnung begriffen, das Thema anders aufzubereiten. Als Studie des Familienalltags nämlich, in den das Verstörende, Irreale und Gewalttätige zwar eindringt, aber bruchlos als Erweiterung der Normalität begriffen wird.

    Jedenfalls vom elfjährigen Ich-Erzähler Allan, der seinen Vater auch dann noch liebt, wenn er von ihm verprügelt wird, und der den schleichenden Zusammenbruch der Familie auf seine kindlichen Schultern nimmt. Denn eingezwängt ins enge Glaubensgefängnis der Eltern, die einer Freikirche angehören, erfindet er sich den Engel Tarriel, eine Kombination aus Gabriel und Tarzan. Ersterer spendet Trost, letzterer Kraft - und die bewirkt Erstaunliches, glaubt er. Wann immer Allan sich einen neuen Toten herbeiwünscht, damit der Vater auf der Beerdigung brillieren und sein Ladengeschäft ankurbeln kann, stirbt jemand im Ort ... bis hin zur eigenen Tante und Großmutter.

    Weil das Gute, die Sicherung des Familienunterhalts, sich dabei stets mit dem Schlechten, nämlich ein paar Verstorbenen, die Waage hält, bleibt das kindliche Weltbild intakt. Es gerät erst ins Wanken, als die Schwester in die Psychiatrie wandert, weil sie behauptet, Tante und Großmutter umgebracht zu haben. An diesem Punkt droht das vom Sohn mit Zähnen und Klauen verteidigte Idyll für einen Moment zu zerbrechen. Der Vater unternimmt einen Selbstmordversuch, wird aber dann von seiner Gemeinde wieder aufgenommen. Und der Junge kann an seinem Verdrängungsprojekt weiterarbeiten, unbeschädigt durch die Kindheit zu kommen.

    Erling Jepsen vollbringt die literarisch außerordentliche Leistung, jede Figur sympathisch zu zeichnen und dennoch ihre schuldhafte Verstrickung nicht zu unterschlagen. Weil es in der Perspektive des Elfjährigen keinen Täter geben kann und das Böse nur als Fehltritt eines armen Sünders daherkommt, bleibt der Leser übers ganze Buch hinweg so fehlgeleitet und voller Verständnis für alle wie der Erzähler. Er ahnt, dass sich hinter der Fassade kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit etwas verbirgt, doch der Schrecken springt ihm nicht offen ins Gesicht.

    Damit haftet die Lektüre in der Erinnerung, denn kunstvoll umschreibende Literatur wirkt nachhaltiger als journalistische Schwarzweißprosa. Zumal Jepsens Roman nicht selten skurrile Formen annimmt und den Leser mit makaberem Witz unterhält. Zum Schluss erklärt sich der gewundene Romantitel als Gleichnis: Hätten die Familienangehörigen jemals im Chor miteinander geweint und dies nicht als quasi kommerzielles Projekt auf den Friedhof verlagert, wären wohl untereinander mehr Worte als Schläge gefallen. Tränen für fremde Tote sind wohlfeil, aber nutzlos vergossen.

    Erling Jepsen: "Die Kunst im Chor zu weinen"
    Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
    Suhrkamp, 268 Seiten, 12,90 Euro