Sonntag, 14. April 2024

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Familien in irakischen Flüchtlingslagern
Vereint und doch getrennt

Tausende Menschen im Irak haben auf der Flucht vor dem IS Zuflucht in Flüchtlingslagern gefunden. Aus Angst vor Anschlägen und IS-Kämpfern unterliegen die Camps strengen Sicherheitsauflagen. Männer werden genau überprüft - manchmal tage- oder wochenlang. Viele Familien haben deshalb die Hoffnung auf eine Zusammenführung schon aufgegeben.

Von Anna Osius | 19.11.2016
    Yunis hat den Sohn seines Bruders in einem Flüchtlingslager wiedererkannt.
    Ein Hoffnungsschimmer am Zaun des Flüchtlingslagers: Yunis hat den Sohn seines Bruders entdeckt. (SWR)
    Yunis weint. Er krallt seine Hände in den Maschendrahtzaun, der ihn vom Flüchtlingslager trennt, und schluchzt hemmungslos. Gerade hat er seine Familie wiedergefunden – auf der anderen Seite des Zaunes. Er hat den kleinen Sohn seines Bruders erkannt, streichelt den Jungen durch den Maschendraht. Ein Wiedersehen, nach so langer Zeit.
    "Zweieinhalb Jahre! Zweieinhalb Jahre lang habe ich meine Mutter nicht gesehen. Und meinen Bruder, so erfahre ich, werde ich nicht wiedersehen – der IS hat ihn getötet! Die Terroristen wollten auch mich töten, ich bin entkommen."
    Yunis floh aus einem Dorf in der Nähe von Mossul, als der IS 2014 einrückte – die Familie musste er zurücklassen. Erst jetzt konnten seine Verwandten entkommen – und haben im Flüchtlingslager Unterschlupf gefunden. Yunis darf nicht ins Camp, denn die Sicherheitsbestimmungen sind streng: Besucher dürfen nicht rein, einmal kontrollierte und aufgenommene Flüchtlinge nicht raus. Denn: Die Angst vor dem IS ist auch hier allgegenwärtig: IS-Kämpfer könnten sich als Familienmitglieder getarnt in die Lager schleichen, um Anschläge zu verüben oder um abzutauchen. Deshalb werden alle Männer und Jungen, die als Flüchtlinge im Lager ankommen, genau überprüft.
    Männer werden genau überprüft
    Frauen und Mädchen dürfen sofort ins Flüchtlingslager, erklärt Camp Manager Ahmed Abdo. Männer und Jungen ab 14 Jahren kommen in den Screening-Bereich, dort werden sie auf ihre Nähe zum IS überprüft und befragt. Bei manchen dauert dieser Prozess 2 Stunden, bei anderen 2 Wochen. Das ist individuell.
    Die sogenannten Screenings sind umstritten. Die Familien werden getrennt, die Jungen und Männer mitunter sehr lange im abgeschotteten Sicherheitsbereich festgehalten. Menschenrechtsorganisationen kritisieren: Manche Männer oder sogar Teenager verschwinden für Wochen.
    "Ich hab mit einem Mann gesprochen, der 109 Tage festgehalten wurde", so Belkis Wille von Human Rights Watch. "Ein anderer 90 Tage. Und keiner der Männer wusste warum, es wurde nicht kommuniziert. Und auch die Angehörigen erfahren nichts, Frauen erzählten, dass ihre Männer einfach verschwunden sind, so dass die Frauen große Angst haben, ihre Angehörigen niemals wiederzusehen."
    Vor allem der Umgang mit Teenagern wird von den Menschenrechtsaktivsten kritisch gesehen: Jungen im Alter von 14, 15 seien oft traumatisiert durch die Erlebnisse mit dem IS – und teilweise sehr sensibel.
    "Ein 15-Jähriger ist im Screening Bereich komplett allein eingesperrt, ohne Verwandte. Seine Mutter weinte, als sie mir das erzählte, der Junge ist völlig verängstigt."
    Die Helfer und Sicherheitsbehörden stecken im Dilemma: Lassen sie alle Flüchtlinge ohne Überprüfung ins Lager, laufen sie Gefahr, IS-Kämpfern Unterschlupf zu gewähren. Friseure haben im Nordirak momentan Hochkonjunktur, heißt es – so mancher lässt sich den Bart abrasieren. Auf der anderen Seite stehen die Einzelschicksale.
    Jahre ohne Kontakt zur Familie
    Und Menschen wie Yunis, die nach Jahren ohne Kontakt ihre Familie wiederfinden. In seinem Fall machen die Aufseher eine Ausnahme, weil Journalisten dabei sind. Er darf kurz zu seinen Verwandten ins Camp. Völlig außer sich rennt er los – zu Zelt A95, seine Familie. Sein Onkel ist da, seine beiden Schwestern, seine Schwägerin und ein Baby, das er noch nie gesehen hat. Alle liegen sich weinend in den Armen.
    "Ich kann gar nichts sagen, mir fehlen die Worte – ich dachte, dass ich sie nie wiedersehe. Ich hab gebetet und gehofft, aber ich hätte mir nicht träumen lassen, dass sie noch leben."
    Aber wo ist die Mutter? Warum ist seine Mutter nicht da? Die Verwandten beruhigen Yunis – sie ist nur unterwegs im Camp, Wasser holen. Yunis läuft sofort los.
    Yunis findet im Flüchtlingslager seine Mutter.
    Yunis findet im Flüchtlingslager seine Mutter. (SWR/ Anna Osius)
    Wenig später liegen die beiden sich in den Armen – der weinende junge Mann und die alte Frau mit dem weißen Haaren, die unter ihrem staubigen Schleier hervorquellen. Nach Jahren der Angst sind sie wieder vereint.
    "Jetzt wird alles gut. Wir haben alles verloren, unser Haus, unser Hab und Gut, Geld, alles. Aber wir sind noch am Leben und wieder vereint."
    "Ich weiß nicht, was ich jetzt tun werde", sagt Yunis. Ihm ist bewusst: Er muss gleich wieder zurück, raus aus dem Camp, wegen der Sicherheitsbehörden. "Alles was ich weiß, ist, dass ich ohne meine Mutter nicht leben kann. Auch wenn ich nicht mehr ins Lager darf. Und wenn ich vor dem Lager am Maschendrahtzaun schlafe, um sie jeden Tag zu sehen… endlich, endlich habe ich sie wiedergefunden."