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Familiengeschichte von Sacha Batthyany
Enkel einer Täterfamilie

In seinem Buch "Und was hat das mit mir zu tun?" arbeitet der Journalist Sacha Batthyany die Geschichte seiner Familie auf. Seine Großtante etwa war in die Erschießung von 180 jüdischen Zwangsarbeitern im März 1945 verwickelt. Batthyany geht der Frage nach, welchen Einfluss die verstörende Vergangenheit auf ihn persönlich hat.

Von Eva Pfister | 06.10.2016
    Gedenkstätte Kreuzstadl in Rechnitz im Burgenland. Das sogenannte Kreuzstadl, damals ein Teil der Batthyány'schen Landwirtschaft, ist heute nur noch als Ruine erhalten. Auf freiem Feld in der Nähe des Gebäudes, wurden in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 rund 180 ungarische jüdische Zwangsarbeiter ermordet und verscharrt. Bis heute wird nach dem Massengrab gesucht.
    Gedenkstätte für die 180 ermordeten jüdischen Zwangsarbeiter in Rechnitz. (picture alliance / dpa / Bundesheer/Peter Lechner)
    Der Journalist Sacha Batthyany war 24 Jahre alt, als ihm eine Kollegin eine Zeitung auf den Tisch legte mit dem Kommentar "Was hast du denn für eine Familie?". Auf dem Foto erkannte er sofort seine Großtante Margit. Warum sie aber eine "Gastgeberin der Hölle" sein sollte, wie die Schlagzeile lautete, war ihm ein Rätsel. Daraufhin recherchierte er die Geschichte von Margit Thyssen-Batthyany, die gerne auf die Jagd ging und feierte, und intimen Umgang mit Nazigrößen hatte.
    2009 erschien seine Reportage über das Massaker von Rechnitz, bei dem im März 1945 an die 200 jüdische Zwangsarbeiter ermordet wurden. Auch in seinem Buch erzählt Sacha Batthyany davon, und von seiner Familie, die das gerne herunterspielte und der reichen Tante Margit sowieso keine unangenehmen Fragen stellte. Im Kern aber ist das Buch die Antwort auf die Frage, die ihm damals der Schriftsteller Maxim Biller stellte und die seither in ihm gärte: "Und was hat das mit dir zu tun?"
    "Ich habe sieben Jahre jetzt an dem gearbeitet und die erste Hälfte habe ich mit Recherche verbracht. Für mich war das abgeschlossen. Aber diese Fragen, was das mit mir zu tun hat, was von damals, überhaupt von der ganzen Geschichte in mir steckte: Was macht das jetzt mit mir und aus dir? Das wurde dann immer stärker, und da wurde dann auch mein Wunsch stärker, mich vor allem auf das zu konzentrieren."
    Auch Familiengeschichte des Vaters aufgearbeitet
    In seinem Buch wendet sich Sacha Batthyany aber auch der Geschichte seines Vaters und dessen Eltern zu. Sie gehörten beide dem ungarischen Adel an und wurden nach dem Krieg enteignet, der Großvater verschwand zehn Jahre lang in sowjetischen Arbeitslagern. Nach dem Aufstand von 1956 verließ die Familie Ungarn und fand Zuflucht in der Schweiz. Die Großmutter Maritta war eine geborene Esterhazy und hinterließ eine Mappe mit Texten, in denen sie sich an ihre Jugend auf Schloss Sárosd erinnerte, vor allem an die Jahre des Dritten Reichs. Eine Kernszene tauchte in den ungeordneten Blättern immer wieder auf:
    "Von meinem Zimmerfenster aus sehe ich meinen Vater. Er steht in der Einfahrt. Herr Mandl steht ihm gegenüber und fuchtelt mit den Armen. Er trägt einen hellen, viel zu weiten Regenmantel. Ich gehe die Treppen hinunter und nach draußen auf den Hof, Kies knirscht unter meinen Füßen, Herr Mandl sieht mir in die Augen, mein Vater dreht sich nicht um.
    "Sie sind auf dem Weg ins Konzentrationslager, sie werden sterben", sagt Herr Mandl. Es geht um Agnes und Sándor, die Mandl-Kinder. Sie befänden sich bereits in einem der Züge. Frau Mandl hält sich an der Harke fest und schreit meinen Vater an: "Helfen Sie uns! Helfen Sie uns, tun Sie was!" Doch mein Vater tut nichts. Dann höre ich zwei Schüsse."
    Das jüdische Ehepaar Mandl führte im Städtchen Sárosd einen Feinkostladen. Nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht 1944 wurden die Mandls aber wie alle Juden enteignet und als Zwangsarbeiter dem Schlossherrn unterstellt. Als die Deportationen begannen, kam es zu der Szene, die von der jungen Maritta beobachtet wurde. Nach dem Gespräch mit dem Vater weigerten sich die Mandls, wieder an ihre Arbeit zu gehen und liefen weg. Ein Wehrmachtssoldat schoss ihnen daraufhin in den Rücken.
    Besuch in Argentinien
    Im Internet fand Sacha Batthyany die Spur der deportierten Tochter Agnes Mandl. Sie hatte Auschwitz überlebt und wohnte in Argentinien. Dort besuchte sie der Journalist, und dort wurde ihm im Gespräch mit ihren Töchtern das erste Mal bewusst, dass er aus einer Täterfamilie kam.
    "Es gab sehr emotionale Momente, es gab auch Streit, und da hab ich gespürt, ich bin auf der anderen Seite, also ich bin einer aus dieser Familie, natürlich, ich bin aus einer total anderen Generation, ich habe an sich nichts gemacht, ist ja klar, und dennoch: Ich bin von der anderen Seite. Das habe ich gespürt, und darüber haben wir dann aber auch gesprochen."
    In seinem Buch stellt Sacha Batthyany den Erinnerungen seiner Großmutter Texte von Agnes Mandl gegenüber, die sich ebenfalls auf jene Zeit in Sárosd beziehen. Irritierenderweise bezeichnet er diese Ausschnitte als "Tagebücher", was sie ganz offensichtlich nicht sind. Das weckt aber den Verdacht, dass man es hier mit erfundenen Texten zu tun hat. Der Autor streitet jedoch entschieden ab, dass Fiktion im Spiel ist:
    "Also Null! Dieses Tagebuch meiner Großmutter, was ehrlich gesagt mehr ist als ein Tagebuch, es ist tatsächlich ein Werk fast schon, es ist durchdacht, es ist natürlich nicht fertig, aber daran hat sie die letzten zehn, zwölf Jahre gearbeitet. Wir dachten halt einfach, das sind die Anekdoten einer älteren Frau, und wir hatten nie daran gedacht, dass das eine Art Lebensbeichte sein kann.
    Und dann bekam ich von der argentinischen Familie ein Tagebuch, und das hat Agnes machen lassen, also sie hat einen Historiker getroffen und hat einfach ihre Zeit von ihrer Jugend bis ins KZ aufschreiben lassen, damit man nicht vergisst. Und auf einmal war ich im Besitz von zwei Frauen, die aus demselben kleinen ungarischen Nest stammen, und die so unterschiedliche Leben hatten, die aber ineinander verwoben sind, und ich hatte die einfach, auf meinen Knien."
    Lebenslange Schuldgefühle
    Wie man den Aufzeichnungen von Maritta Batthyany-Esterhazy entnehmen kann, wurde sie ihr Leben lang von Schuldgefühlen geplagt. Wenigstens die Mandls hätten sie, die Schlossherren, damals doch retten können, so schrieb sie oft. Als Sacha Batthyany in Argentinien Agnes Mandl traf, las er ihr aus den Erinnerungen seiner Großmutter vor. Auf die Bitte der Töchter hin, ließ er jedoch die Szene mit der Erschießung aus. Agnes lebte im Glauben, dass ihre Eltern sich umgebracht hätten, und die Töchter wollten der 90jährigen Überlebenden keinen neuen Schock zumuten.
    Nachträglich fragte sich Sacha Batthyany, warum er eigentlich nach Argentinien geflogen ist. Wollte er Agnes etwas bringen - oder wollte er sich selbst von einer ererbten Schuld reinwaschen? Parallel zur Arbeit am Buch unterzog sich der Autor einer Psychoanalyse, die ihm zu verstehen half, dass er zu jenen Kriegsenkeln gehört, deren Lebensmittelpunkt in der Vergangenheit liegt. Die Erfahrungen seiner Großeltern im Dritten Reich, die Gefangenschaft seines Großvaters, die Jahre in Ungarn bis 1956, all das war für seinen Vater schwerwiegender und präsenter als seine eigene Familie in der Schweiz. Was das für ihn als Sohn bedeutete, wurde Sacha Batthyany klar, als er mit seinem Vater nach Russland reiste, zu den Lagern, die sein Großvater überlebt hatte.
    Gemeinsamer Russlandbesuch mit seinem Vater
    "War ich nicht nach Sibirien geflogen, damit mein Vater mich endlich bemerkte? Und nun, da wir hier waren, musste ich feststellen, dass er mich nicht bemerken konnte, weil da so viele Dinge im Weg standen und ihm die Sicht auf mich verdeckten: der Kommunismus, der Gulag, unsere Vorfahren in den Uniformen, Männer mit Degen, Frauen in hochgebauschten Röcken. Sie alle drängten sich zwischen uns, kein Wunder, dass mein Vater mich nicht erkennen konnte.
    Doch am meisten auf sich aufmerksam machte Stalin. Er fuchtelte mit den Händen, zwirbelte seinen mächtigen Schnurrbart, "mich vertreibst du nie", schrie er mich an, und ich sah seine gelben Zähne. Ich konnte von noch so hohen Mauern fallen, wie früher als Kind; konnte mir die Haare färben, wie als Teenager; ihn schütteln wie gestern - Stalin hatte recht. Gegen ihn hatte ich bei meinem Vater keine Chance."
    In Russland gab es Momente, in denen der Vater so lebendig wirkte, wie ihn der Sohn sonst nie erlebt hatte. Da verstand Sacha Batthyany auch, was Kriegsenkel von Kriegskindern unterscheidet. Und welche unüberwindliche Distanz zwischen ihnen liegt.
    Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? – Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie.
    Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 256 Seiten, 19,99 €.