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Familiennachzug
"Man kann Verhandlungen auch gesichtswahrend beenden"

Kevin Kühnert, der Vorsitzende der Jungsozialisten in der SPD, hat den erzielten Kompromiss zwischen Union und SPD zum Familiennachzug kritisiert. "Was wir ausverhandelt haben, ist für ganz viele in der SPD noch zu wenig", sagte Kühnert im Dlf. Es müsse auch eine Option zum Abbruch der Gespräche geben, sagte er.

Kevin Kühnert im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 31.01.2018
    Kevin Kühnert spricht und gestikuliert am Rednerpult.
    Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert (dpa/Kay Nietfeld)
    Dirk-Oliver Heckmann: Soll den Flüchtlingen, die aus Bürgerkriegsländern wie Syrien kommen, gestattet werden, ihre engsten Familienangehörigen nachzuholen? Die SPD, die hatte sich dafür stark gemacht. CDU und CSU wollten den Familiennachzug möglichst unbefristet aussetzen. Gestern kam dann die Meldung, SPD und Union seien sich einig. Zum schon vorher vereinbarten Kontingent von tausend Personen pro Monat tritt jetzt eine Härtefallregelung. Der Streit aber, der geht weiter.
    Mitgehört hat der Juso-Chef Kevin Kühnert, der Vorsitzende der Jugendorganisation der Sozialdemokraten. Schönen guten Morgen, Herr Kühnert!
    Kevin Kühnert: Einen schönen guten Morgen.
    Heckmann: Herr Kühnert, Martin Schulz, Ihr Parteichef, der jubelte gestern in Bezug auf den Familiennachzug, man habe jetzt eine Regelung tausend plus, wie vom Parteitag gefordert. Und Sie, Sie haben auch nicht lange mit einer Reaktion auf sich warten lassen und haben gesagt, diese Regelung sei leider nicht mehr als eine vage Hoffnung, eher ein ungedeckter Wechsel. Begehen Sie damit den typischen Fehler der SPD, eigene Erfolge schlechtzureden?
    Kühnert: Na ja. Erfolge sollte man immer dann feiern, wenn sie tatsächlich auch in trockenen Tüchern sind. Ich glaube eher, dass die Kommunikation gestern, die dieses Verhandlungsergebnis bejubelt hat, einen alten Fehler der SPD wiederholt, und zwar den, den wir schon nach dem Verkünden der Sondierungsergebnisse gemacht haben. Da hieß es, es seien hervorragende Ergebnisse, und man hat eigentlich allen Verhandlerinnen und Verhandlern der SPD in den Stunden und Tagen danach angemerkt, dass die das gar nicht so hervorragend finden und dann umfangreich auch Nachverhandlungen eingefordert haben. Ich glaube, hier fehlt manchmal ein bisschen das Fingerspitzengefühl auch für die Mitglieder, die sehr skeptisch gegenüber diesem ganzen Prozess sind, der da gerade abläuft, die handfeste Ergebnisse erwarten.
    Und wenn ich nun mal einen Auftrag vom Parteitag mitgekriegt habe, der lautet, beispielsweise in Bezug auf den Familiennachzug eine weitergehende Härtefallregelung - das war die Formulierung - herbeizuführen, dann muss ich bei dem, was da gestern rausgekommen ist, sagen: Nein, dieser Auftrag ist nicht erfüllt worden.
    Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert (r) gibt dem Parteivorsitzenden Martin Schulz die Hand nach den Abstimmungen über verschiedene Anträge zu Sondierungsgesprächen für eine große Koalition.
    Juso-Vorsitzender Kevin Kühnert (r) mit Martin Schulz (picture alliance / Bernd Von Jutrczenka / dpa)
    Heckmann: Aber es ist doch jetzt genau das gekommen, was in Aussicht gestellt worden, nämlich diese Härtefallregelung neben dem Kontingent von tausend Personen pro Monat - eine Härtefallregelung, die nicht auf dieses Kontingent angerechnet wird.
    "Die SPD wird im Bundestag in Vorleistung für die Union gehen"
    Kühnert: Ja. Einerseits gab es die bisher auch schon. Im Letzten Jahr sind immerhin bahnbrechende 66 Personen bis Anfang Dezember im Rahmen dieses Programms noch mal nachgeholt worden in wirklich absoluten Härtefällen. Insofern sehe ich noch nicht, dass das wirklich was Neues ist. Es ist auch nicht weitergehend, wie der Beschluss es gefordert hat.
    Und was mich vor allem daran stört ist, dass die SPD in dieser Woche im Bundestag in Vorleistung gehen wird. Wir werden vor Abschluss von Koalitionsgesprächen und bevor die Mitglieder sich dazu verhalten haben den Willen der Union erfüllen und uns auf eine Regelung einlassen, die einen Nachzug von tausend Personen pro Monat ab 1. August ermöglichen wird.
    Aber das, was die SPD dafür bekommt, diese Härtefallregelung, egal wie ich jetzt persönlich zu der stehe, das ist gestern sehr vage geblieben. Da gehen auch die Einschätzungen auseinander. Der Parteivorsitzende sagt, das ist sehr weitreichend erreicht worden, da ist der Beschluss erfüllt worden. Ralf Stegner und Eva Högl als die zuständigen Verhandler der SPD sagen, die weitere Ausgestaltung ist noch Gegenstand der laufenden Gespräche in den Koalitionsverhandlungen.
    Heckmann: Sie konstatieren da ein kommunikatives Chaos innerhalb der SPD?
    Kühnert: Na ja, zumindest sorgt es für Missverständnisse. Mir war es trotz intensivem Nachforschen gestern im Laufe des Tages nicht möglich rauszufinden, wie die Ausgestaltung von dieser zusätzlichen Härtefallregelung am Ende wirklich aussehen soll. Eva Högl hat sich dahingehend geäußert, dass sie auch versuchen wird, dass da noch mehr geht. Das finde ich sehr gut von ihr, dass sie das tut, und ich unterstelle unseren Leuten auch nicht, dass die nicht alles versuchen, diese Härtefallregelung so human wie möglich auszugestalten.
    Aber das, was ich von der CSU gestern gehört habe, ist das genaue Gegenteil und da geht es auch um einen Mechanismus, den wir schon aus den alten Großen Koalitionen kennen. Ich finde, die Grundlage einer vertrauensvollen Zusammenarbeit in einer Koalition muss auch sein, dass über das gemeinsam Besprochene und Geeinigte auch ein gemeinsames Verständnis bestehen muss. Sonst wird es schwierig, im Regierungsalltag so was umzusetzen.
    Heckmann: Das sagt die Union auf der anderen Seite auch und sagt, wir haben uns auf restriktive Regeln geeinigt. Sie haben es gerade schon gesagt, Herr Kühnert. Im Jahr 2017 sind weniger als hundert Personen unter der Härtefallregelung nach Deutschland gekommen. Hat sich die SPD über den Tisch ziehen lassen?
    Kühnert: Diese Zahlen kannten wir auch vorher. Wir wussten, dass das die Ausgangslage dieser Härtefallregelung ist. Deswegen hat der Parteitag ja gesagt, eine weitergehende Härtefallregelung. Für mich beinhaltet das schon sehr deutlich auch die Positionierung, dass da noch mehr gehen muss.
    Ich halte mich an das, was unsere Leute aus den Verhandlungen sagen, dass darüber noch weiter gesprochen wird in den nächsten Tagen, und bin grundsätzlich erst mal noch guter Dinge, dass da auch mehr geht. Aber Sie haben es schon richtig gesagt: Die Kommunikation macht das alles im Moment nicht leichter und hat, glaube ich, gestern bei vielen SPD-Mitgliedern dazu geführt, dass die Konfusion der letzten Wochen noch mal ein Stückchen größer geworden ist.
    Heckmann: Der Grünen-Politiker Sven Kindler, der hat gestern auf Twitter geschrieben: "Jedes Kind, jeder Vater, jede Mutter, die nicht nachkommen darf, ist ein Härtefall. Familien, die dürften nicht zerrissen werden. Shame on you, GroKo", so endete sein Tweet. Würden Sie sich da anschließen?
    Kühnert: Ja und nein. Ich glaube, dass es schon sinnvoll wäre, gelegentlich sich auch mal anzugucken, wer hier eigentlich für diesen komischen Tanz sorgt, den die Parteien da aufführen. Das ist vor allem die CSU und ich finde, das kann man in der Kommunikation auch mal ein bisschen deutlicher betonen.
    Heckmann: Das hat Ralf Stegner gestern auch sehr deutlich gemacht.
    "CSU sendet Signale nach außen, die vor Inhumanität nur so strotzen"
    Kühnert: Ja, richtig. Das hat Ralf Stegner dankenswerterweise in den Tagesthemen abends noch mal sehr deutlich gemacht. Wir würden diese Diskussion nicht haben, diese, wie ich finde, sehr unwürdige Diskussion, wenn es nicht eine Partei mit der CSU gäbe, die sich seit Wochen und Monaten einzig und allein darauf beschränkt, Signale nach außen zu senden, die vor Inhumanität eigentlich nur so strotzen.
    Ich weiß nicht, wie eine Partei glaubt, erfolgreich sein zu können, die sich einzig und allein darauf kapriziert, Familien nicht zusammenführen zu wollen, zu signalisieren, dass nun wirklich auch der letzte nicht mehr herkommen darf, auch wenn der Härtefall noch so hart ist. Das stößt mich wirklich persönlich ab. Das ist eine politische Kultur, die ich ablehne, und ich glaube, das sorgt auch bei vielen SPD-Mitgliedern dafür, dass die Skepsis gegenüber weiteren vier Jahren Koalition mit dieser CSU extrem groß ist, denn die benehmen sich derart breitbeinig in diesen Verhandlungen, dass es einen schüttelt.
    Heckmann: Aber, Herr Kühnert, man muss ja auch konstatieren, dass große Teile der Bevölkerung, aber auch zum Beispiel die Kommunen sagen, unsere Integrationsfähigkeit ist einfach auch beschränkt. Kann man das einfach in den Wind schlagen?
    Kühnert: Ich glaube, wir müssen beim Familienzuzug schon auch festhalten, dass das Teil von Integration ist. Wir können bei Integration nicht immer nur über Wohnraum reden. Das ist natürlich auch notwendig. Das findet an anderen Stellen in den Koalitionsverhandlungen statt. Wir müssen über Zugang zum Arbeitsmarkt und über Ausbildungsmöglichkeiten, über Spracherwerb reden.
    Aber wir wissen doch alle aus unserem persönlichen Leben, dass ein gesichertes soziales Umfeld - und dazu gehört nun mal vor allem auch die Anwesenheit von engen Familienangehörigen -, dass das einen erheblichen Anteil dazu beiträgt, ob das Ankommen und Zurechtfinden in einer neuen Gesellschaft stattfinden kann. Und ich finde es schon wirklich töricht, dass die Union diesen Faktor einfach bei Seite wischt.
    Heckmann: Das heißt, Sie sehen keine Grenze in der Integrationsfähigkeit der Kommunen?
    "Wir müssen mehr Geld in die Hand nehmen"
    Kühnert: Mir ist schon bewusst, welche Debatten in den Kommunen geführt werden. Ich mache selber Kommunalpolitik in einem Berliner Bezirk und weiß sehr genau, welche Debatten wir dort vor Ort führen. Ich weiß aber auch, dass eine klare Mehrheit der Kommunen in der Lage ist, das zu leisten, was im Moment auf uns zukommt. Und was ist denn das Gegenmodell? Eine Obergrenze kann es schon rein rechtlich nicht geben. Wir müssen mit dem arbeiten, was da ist, und müssen die Kapazitäten zur Verfügung stellen.
    Ich würde mir dann eher wünschen, dass diejenigen, die im Moment darauf hinweisen, dass das mit der Integration schleppend läuft, mal deutlichere Vorschläge machen, wie das denn besser gewährleistet werden kann. Das würde zum Beispiel bedeuten, dass wir mehr Geld in die Hand nehmen müssen, um die entsprechende Infrastruktur bereitzustellen. Da machen sich aber alle einen schlanken Fuß im Moment und führen lieber Debatten über Obergrenzen und Begrenzung des Familiennachzugs. Das finde ich ziemlich fantasielos.
    Heckmann: Na ja. Dass Geld in die Hand genommen wird für die Integration, das kann man, denke ich, nicht in Abrede stellen. Letzte Frage an Sie, Herr Kühnert. Wenn Martin Schulz diese Lösung der Basis dann präsentiert bei der Mitgliederbefragung, was denken Sie, wie wird die Abstimmung dann ausgehen?
    Farbfoto von zwei Personen, die in einem Hausflur stehen und in die Kamera lächeln. Es sind ein kleines ca. siebenjähriges Mädchen und ihr erwachsener Bruder, Flüchtlinge aus Syrien.
    Zwei kurdische Kinder aus Syrien hoffen, dass ihre Eltern per Familiennachzug nach Deutschland kommen ((c) dpa/Michael Kappeler)
    Kühnert: Dazu müssen wir natürlich jetzt erst mal noch abwarten, wie die gesamten Gespräche ablaufen. Wir stimmen ja da nicht nur über Flüchtlingspolitik ab, sondern ganz viele Themen, die auch der SPD wichtig sind, wie die befristeten Arbeitsverhältnisse, die sach- und grundlos befristeten Arbeitsverhältnisse, dass wir an das Thema endlich herangehen, oder auch die Zwei-Klassen-Medizin. Die sind ja im Moment noch Gegenstand der Verhandlungen.
    Aber es bleibt bei der Einschätzung, die wir schon nach den Sondierungsgesprächen hatten. Das was dort ausverhandelt wurde, ist nicht nur für uns Jusos, sondern für ganz viele in der SPD im Moment noch zu wenig. Das hat man ja auch auf dem Parteitag mit einer Ablehnung von 44 Prozent gesehen. Ich appelliere einfach weiterhin an alle Verhandlerinnen und Verhandler, dass man auch gesichtswahrend Verhandlungen beenden kann, wenn man nun mal Verhandlungspartner gegenüber hat, die wahlweise - siehe CSU - sich auf Maximalpositionen stellen und lieber Ressentiments bedienen, oder bei der Union, wo ich überhaupt gar keinen politischen Willen zu irgendwas mehr erkennen kann. Da geht es nur noch darum, auf Teufel komm raus irgendeine Form von billigem Kompromiss zu finden.
    Heckmann: Das heißt, Sie legen der Parteiführung nahe, die Verhandlungen jetzt abzubrechen?
    Kühnert: Nein! Ich lege der Parteiführung nahe, sehr genau zu prüfen, ob relevante Ergebnisse möglich sind mit der Union. Dann muss es aber immer auch eine Option in Verhandlungen sein, Gespräche zu irgendeinem Zeitpunkt auch zu beenden, wenn man das Gefühl hat, man kann die Forderungen des eigenen Parteitages an der Stelle nicht erfüllen. Das kann man gesichtswahrend tun, da gibt es keine Schande. Unsere Leute verhandeln sehr ordentlich.
    Aber wenn die Union sich an der Stelle nicht bewegt, dann muss man da rausgehen, und dann ist das übrigens die inhaltliche Grundlage auch, um danach endlich den Kontrast zur Union wieder stärker rauszuarbeiten und zu sagen, hier gibt es klare politische Alternativen auf dem Tableau.
    Heckmann: Der Juso-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert war das live hier im Deutschlandfunk. Herr Kühnert, danke Ihnen für das Gespräch und Ihnen einen schönen Tag.
    Kühnert: Danke gleichfalls.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.