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Fantastisches Abenteuer

Matthias Polityckis neuer Roman ist das Gebirgigste, Steinigste, Wildeste, Kühnste und Gefährlichste, was es an aktueller deutscher Romanliteratur derzeit zu lesen gibt. Der Autor wandert angstfrei zwischen den Genres entlang und macht Lust auf Abenteuer.

Von Hajo Steinert | 15.11.2013
    Matthias Politycki ist der große Abenteurer der deutschen Gegenwartsliteratur. Sein Oeuvre besticht durch einen einzigartigen Zickzackkurs. Sein Experimentalroman, "Zerlegung des Regenbogens" (1978) war noch eine stubenreine Liebeserklärung an die Mode postmoderner Theorien. Sein testosterongesteuerter Held im "Weiberroman" (1997) sah es eben auf jene fabelhaften Wesen ab, die dem herzzerreißenden Roman den kühnen Titel gaben. Aber zwischendurch und danach verschlug es nicht nur seine Helden, sondern auch den Autor selbst immer wieder in ferne, mitunter sehr exotische Gefilde weit jenseits der deutschen Grenzen.

    Schweißtreibende Abenteuer wurden auf literarisch ebenso ambitionierte wie konditionsstarke Weise in Japan ("Taifun über Kyoto"), auf Kreuzfahrten mit der MS Europa ("In 180 Tagen um die Welt"), in den Kneipen der englischen Hauptstadt ("London für Helden") und besonders umtriebig auf Kuba ("Herr der Hörner") bestanden. Stammleser des 1955 geborenen Autors erinnern sich noch an die wüsten Geschichten beim "Sonnenbaden in Sibirien" (1991) und denken jetzt wieder daran, da es den reisefreudigen Autor auf Gebiete der ehemaligen Sowjetunion verschlagen hat.

    So viel sei jetzt schon verraten: Der neue Roman ist das Gebirgigste, Steinigste, Wildeste, Kühnste und Gefährlichste, was es an aktueller deutscher Romanliteratur derzeit zu lesen gibt. Gefährlich deshalb, weil der Autor mit seinem finsteren Zukunftsroman grenzüberschreitend zwischen den Genres entlang wandert. Essay und Diskurs, Roman und Reisebericht lassen sich dem Buch auf die Fahnen schreiben. "Samarkand, Samarkand" treibt eine Menge historisches und sonstiges Wissen vor sich her. Es ist fast ein Wunder, dass der Leser trotz der Fülle des erzählten Materials nicht daran gehindert wird, mit schlagendem Herzen das Buch zu Ende zu lesen.

    Über 20 Jahre lang spukte der Stoff in Matthias Polityckis Kopf herum
    "Samarkand, Samarkand" spielt im bergigen Grenzgebiet zwischen China, Kirgistan, Afghanistan und Tadschikistan. Seine Kenntnisse dieser alles andere als wirtlichen Gegenden bezog der Autor nicht in erster Linie aus Sekundärliteratur, sondern aus eigener Anschauung. Über 20 Jahre lang spukte der Stoff in Matthias Polityckis Kopf herum, genauso lange recherchierte er. Ausgerüstet mit geschichtlichem Wissen schnallte er sich in Hamburg, seinem Wohnort, der anfangs auch im Roman vorkommt, einen Rucksack auf den Rücken, zog los, nahm sich an seinem Reiseziel einen tadschikischen Bergführer und verbrachte furchterregende, indes reife literarische Früchte zutage fördernde Monate in apokalyptischen Landschaften.

    Nutznießer der Recherchen des Autors ist die Hauptfigur des Romans, der Gebirgsjäger und Agent Alexander Kaufner. "Samarkand, Samarkand" ist ein Abenteuerroman, Zukunftsroman, Agentenroman, Apokalypse und Mahnmal in einem. Kaufner hat einen heiklen politischen Auftrag zu erfüllen. Er soll dem Treiben des militanten Islam in Usbekistan ein Ende bereiten und somit die Welt retten. Er hat den Auftrag eines Attentats. Er ist der ernannte Erlöser. Die inspiratorische Kraft und den Mut dazu will er sich am Grab eines muslimischen Herrschers holen, dem Welteroberer Timur, der einst, im 15. Jahrhundert, in seinem Reich absolut das Sagen hatte. Das Zentrum des Herrschaftsgebiets, im Heute des Romans eine Kultstätte, nennt sich Samarkand. Hier liegt das "Herz der Finsternis" oder, wer es weniger à la Conrad, sondern à la Wagner will, hier liegt der "Heilige Gral".

    Wir befinden uns in den Jahren 2027 bis 2029, in Europa tobt er dritte Weltkrieg, Deutschland ist wieder geteilt, der Bundeskanzler hat einen türkischen Namen, Berlin, Hamburg und Paris sind längst gefallen, in Köln, Gipfel des Untergangs, gibt es keinen Karneval mehr. Im Westen Zentraleuropas sind islamische Truppen auf dem Vormarsch, im Osten steht eine Allianz, von Russland geführt. Doch der wahre Herrscher - verkehrte Welt - ist der Kalif von Bagdad. Ziemlich verrückt, wie sich in Matthias Polityckis ausufernder Fantasie die politischen Verhältnisse auf der Welt verändert haben.

    In Kaufners Begleitung befindet sich außer einem mysteriösen Bergführer ein wundersames Mädchen, das die Zukunft träumen kann. Etwas Erotik darf dabei sein. Auf dem Weg zu jenem Grab - eine Kultstätte, die Erlösung bringen soll - muss Kaufner allerhand Abenteuer bestehen. Er ist eher ein Typ vom Schlage der Figuren eines Ernst Hemingway denn einer vom Zuschnitt Karl Mays. Abenteuer sind es, die den Autor zu einer wortgewaltigen Odyssee verführen und den Leser gelegentlich sicheren, gelegentlich von Schwindelanfällen begleiteten Schritts folgen lassen und nicht abhängen. "Samarkand, Samarkand" ist, gemessen an der Flut psychologisch inspirierter Romane deutschsprachiger Autoren in unserer Zeit, zweifellos ein gewagtes, ja unzeitgemäßes, wenn man so will, ein monströses Stück Literatur. Aber es ist gut, dass es in der Menge der Wohlfeilen auch einen literarischen Draufgänger gibt, der sich mit halben Sachen nicht abgibt. Und der vor allem eines kann: Schreiben. Gut schreiben.

    Matthias Politycki: Samarkand, Samarkand
    Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2013. 399 S., Fr. 39.90