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"Fast alle liberalen Kräfte sind sehr enttäuscht"

Hamed Abdel-Samad, Autor und Politikwissenschaftler, erinnerte die Rede des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi "genau an die Rede von Mubarak damals". "Er pokert zu hoch, er spricht nur zu seinen Anhängern, zu seinen Muslim-Brüdern und Salafisten", so Abdel Samad. Er spalte damit das Land.

Hamed Abdel-Samad im Gespräch mit Silvia Engels | 07.12.2012
    Silvia Engels: Am Telefon ist der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler und Autor Hamed Abdel-Samad. Er setzt sich seit vielen Jahren für einen aufgeklärten Islam ein, im Februar 2011 reiste er nach Ägypten und stellte sich auf die Seite der Demonstranten, die damals für die Ablösung von Staatschef Mubarak und ein demokratisches System auf die Straße gingen. Er ist wieder in Deutschland und nun am Telefon. Guten Morgen, Herr Abdel-Samad!

    Hamed Abdel-Samad: Guten Morgen, hallo!

    Engels: Wie haben Sie die Rede von Präsident Mursi gestern Abend wahrgenommen?

    Abdel-Samad: Ich fand sie sehr enttäuschend. Sie erinnert mich genau an die Rede von Mubarak damals, nur mit dem Unterschied, dass der Vorhang hinter Präsident Mursi diesmal rot war und nicht blau wie damals bei Mubarak.

    Engels: Was hören Sie von den liberalen Kräften aus Ägypten, zu denen Sie ja nach wie vor engen Kontakt haben?

    Abdel-Samad: Fast alle liberalen Kräfte sind sehr enttäuscht von dieser Rede. Sie merken, der Präsident: Entweder kennt er die Situation nicht im Umfeld des Präsidentenpalastes oder er lügt. Weil er hat gesprochen von bezahlten Schlägern, die die Stabilität des Landes nicht haben wollen, er hat nicht von seinen eigenen Anhängern gesprochen, die organisierten Milizen, die friedliche Demonstranten terrorisiert haben, die geschossen haben, die Menschen getötet haben. Er pokert zu hoch, er spricht nur zu seinen Anhängern, zu seinen Muslim-Brüdern und Salafisten. Und vergisst fast die Hälfte der Gesellschaft und somit spaltet er das Land.

    Engels: Es gab aber in dieser Rede ja auch ein Gesprächsangebot Mursis an die Opposition. Vermuten Sie, dass es doch substanzielle Angebote darin geben kann?

    Abdel-Samad: Nein, weil er sagt, das Verfassungsreferendum findet in einer Woche statt, daran ist nichts zu ändern. Und die Verfassungsdekrete, die er neulich herausgestellt hat, werden auch nicht zurückgenommen. Das heißt, wir können gerne reden. Und danach wird man sagen, schön, dass wir darüber geredet haben, ich mach, was ich will. Deshalb haben auch die meisten liberalen Kräfte gesagt, dass sie an so einem Schautreffen nicht interessiert sind.

    Engels: Sie haben eben von der Gewalt gesprochen, die unter anderem auch von den Kräften, die Präsident Mursi unterstützen, ausgegangen ist. Allerdings gab es auch aufseiten der säkularen liberalen Kräfte Gewalt. Zerrinnen auf beiden Seiten die Hoffnungen?

    Abdel-Samad: Ich muss das Bild korrigieren. Mitglieder meiner Familie und zahlreiche Freunde von mir waren gestern und vorgestern vor dem Präsidentenpalast. Man muss zwischen zwei Sachen unterscheiden. Es gibt die friedliche Opposition, die zum Beispiel vorgestern vorbildhaft demonstriert hat. Hunderttausende haben den Präsidentenpalast belagert und trotzdem wurden keine Steine geworfen – ich rede von vorgestern – und niemand wurde verletzt. Und sie haben auch abgelehnt, den Präsidentenpalast zu stürmen, obwohl sie das konnten, weil die Polizei sich zurückgezogen hat. Das war vorvorgestern. Gestern, als die Muslim-Brüder und die Salafisten dazu kamen, da eskalierte die Gewalt. Und natürlich mischten sich auch unter den Demonstranten auch Anhänger des alten Regimes und Schlägertrupps. Das ist eine Tatsache. Aber wer ist dafür verantwortlich? Nicht die friedlichen Demonstranten, sondern die staatlichen Institutionen, die passiv waren, die Polizei, auch die Armee am Umgang des Präsidentenpalastes. Sie ließen Menschen sich gegenseitig erschießen, sie haben zugelassen, dass Menschen sich gegenseitig mit Molotow-Cocktails beworfen haben, 24 Stunden lang, bis die Salafisten und die Muslim-Brüder die Menschen, die vor dem Präsidentenpalast ihre Zelte aufgebaut haben, die Demonstranten vertrieben haben. Deshalb kann kein Mensch von Gewalt gegen Gewalt sprechen, sondern das sind organisierte Banden. Die eine Seite unterstützt den Präsidenten und wird nicht zur Rechenschaft gezogen. Die andere Seite auch nicht. Und in die Mitte geraten die friedlichen Demonstranten, die nun von vom Präsidenten persönlich bezahlte Trupps diffamiert wurden. Und mit dieser Sprache und mit dieser Haltung spielt Mursi ein sehr gefährliches Spiel, wie ich finde.

    Engels: Sie haben eben schon das Militär erwähnt. Da hatte sich das Militär ja vor Monaten eigentlich neutral verhalten wollen. Jetzt hat es sich gezeigt, indem es den Präsidentenpalast mit Barrikaden geschützt hat. Welche Rolle, sehen Sie, wird das Militär spielen?

    Abdel-Samad: Das Militär spielt eine ambivalente Rolle, wie damals auch zu Zeiten der ersten Welle der Revolution gegen Mubarak. Neutralität in so einer Situation ist eigentlich ein Verrat an der Bevölkerung. Wenn friedliche Demonstranten von islamistischen Trupps angegriffen werden, kann das Militär nicht neutral bleiben. Das Militär hat versprochen, auf der Seite des Volkes zu sein und nicht unbedingt auf der Seite des Präsidenten. Ich vermute aber, dass es zu einem Deal gekommen war zwischen dem Militär und dem neuen Präsidenten, der ja in seinem heimtückischen Verfassungsentwurf auch das Militär abfüttert mit Immunität, mit wirtschaftlicher Unabhängigkeit, mit den gleichen Privilegien wie unter Mubarak auch - daran hat sich nichts verändert. Und dass die zivile Bevölkerung auch vor ein Militärgericht gestellt werden kann. Das ist eigentlich ein Verrat an den jungen Menschen, die in der Revolution gestorben waren, die Freiheit und Gewaltentrennung gefordert haben. Und deshalb bleibt das Militär für mich nicht neutral, sondern passiv. Und greift nur ein, wenn es sieht, dass der Präsident in Gefahr ist. Es ist auch sehr gefährlich für das Militär, wenn es zulässt, dass organisierte paramilitärische Trupps der Muslim-Brüder auf der Straße marschieren, Menschen terrorisieren und die Gesellschaftsordnung verändern. Das könnte auch später für das Militär hohe Kosten haben.

    Engels: Herr Abdel-Samad, gehen wir mal von den aktuellen Entwicklungen der letzten Tage etwas zurück in die Entwicklung der letzten Monate. Da ist natürlich viel die Rede davon, dass Präsident Mursi Fehler gemacht hat, dass die Muslim-Brüder versuchen, ihren Machtbereich auszudehnen. Aber sehen Sie auch vielleicht Punkte, wo die liberale Opposition Fehler gemacht hat?

    Abdel-Samad: Natürlich! Die Parteien und einige dieser Parteien sind auch sich uneinig. Sie konnten keine gemeinsame Linie finden. Aber die Opposition ist nicht nur die Führungskräfte dieser Parteien oder nicht nur diese Parteien. Die Opposition ist für mich die ägyptische Mittelschicht, die jetzt auf die Straße geht, Hunderttausende nicht nur in Kairo übrigens, sondern in Alexandrien, im Nil-Delta und erstmals in der Geschichte Ägyptens im Süden. In Asyut und in Luxor gehen die Menschen auf die Straße gegen diesen Präsidenten, weil sie allergisch geworden sind gegen jede Form von Alleinherrschaft. Die Lehre, die sie aus der Mubarak-Zeit gezogen haben, ist: Wenn ein Präsident alle Macht an sich reißt, Judikative, Legislative und Exekutive, dann mündet das automatisch in eine Diktatur. Und Mursi ist auf dem besten Wege, ein Diktatur zu werden - nicht nur ein Ein-Mann-Diktator, sondern eigentlich seine Gruppe der Muslim-Bruderschaft wiederholt genau das, was Mubaraks Partei damals gemacht hat. Sie versucht, Kontrolle über alle Institutionen des Landes zu erlangen. Das, was Mubarak und seine Partei in 30 Jahren erst erzielt haben, versuchen die Muslim-Brüder nun seit elf Monaten zu erreichen, in einem rasanten Tempo. Die Tatsache, dass die Opposition sich nicht einig ist, bedeutet nicht automatisch, dass Ägypten sich zu einem Ein-Parteien-System entwickelt.

    Engels: Der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler und Autor Hamed Abdel-Samad heute früh im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch.

    Abdel-Samad: Danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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